VIERUNDZWANZIG

Es war zehn Minuten nach vier, als Stella am Leuchtturm ankam. Um diese Jahreszeit wurde er nur für Gruppen geöffnet, hatte Dudichum erklärt. Die Betriebskosten wären sonst zu hoch. Sie lehnte das Fahrrad an die kleine Bude, in der im Sommer Erfrischungsgetränke, Eis und Erinnerungsstücke in Form von kleinen Leuchttürmen an die Touristen verkauft wurden. Von Robin war nichts zu sehen. Das alte Fahrrad, das schon am Wandertag hier gestanden hatte, lehnte noch immer an der Mauer. Jemand hatte es vergessen. Der Blick zum Himmel zeigte ihr, dass sich ein Unwetter zusammenbraute. Wolken zogen sich zusammen, verdichteten sich und wurden dunkler und dunkler. Von der Düne aus, auf der sie stand, sah sie, wie der Wind über das Meer peitschte und die Wellen hochtrieb. Sie brachen sich am menschenleeren Strand. Von Robin war noch immer keine Spur zu sehen. Stella warf ihr Fahrrad in das hohe Dünengras und setzte sich in den Sand, um gleich darauf wieder aufzuspringen. Wo blieb er? Sie musste ihm so viel erzählen, und er, was hatte er zu berichten? Hatte er diesen Obduktionsbericht bei sich? Wieder wählte sie seine Nummer. Wieder meldete er sich nicht. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Fünfzehn Minuten nach vier. Wo blieb er denn? Hatte sie die Uhrzeit falsch verstanden? Nein, sechzehn Uhr. Wir treffen uns um sechzehn Uhr am Leuchtturm. Sie erinnerte sich genau. Oder auf dem Leuchtturm? Was meinte er denn damit? War das Museum nicht geschlossen? Sie ging zur Tür und drückte die Klinke nach unten. Die Tür sprang auf.

War er schon hochgegangen? Erwartete er sie oben? Sie musste ihn suchen. Robin war im Moment der Einzige, dem sie überhaupt vertraute. Wenn er sie auf dem Leuchtturm treffen wollte, musste es einen Grund geben. Ihr blieb keine andere Wahl. Als sie das Gebäude betrat, fröstelte sie. Die Wände strahlten eine Kälte aus, als seien sie aus Eis. Die alte Holztreppe knarrte Stufe für Stufe und gab, je höher sie stieg, unter jedem Schritt nach. Ja, sie schien regelrecht zu schwanken. Oder war es die Angst? Die Angst vor der Höhe, die Angst, dass sie Robin nicht vertrauen konnte. Aber auf dieser Insel war er der Einzige, der ihr helfen wollte, sich wirklich zu erinnern, und plötzlich schien es Stella, als sei die Erinnerung an den Unfall gleichbedeutend damit, von dieser Insel wegzukommen. Dieses Gefühl verlieh ihr die Energie, weiterzugehen und nicht nach unten zu schauen, wo die Treppe in die Tiefe führte. Gehüllt in eine unheimliche Stille, stieg sie die Stufen langsam nach oben. Das Brausen des Windes wurde immer lauter. Er schlug gegen die Mauer des Turms, als sei dieser ein ärgerliches Hindernis. Schließlich stand Stella an dem Treppenabsatz, an dessen Wand das Schild gehangen hatte: »Betreten verboten!«. Nun war es verschwunden. Offensichtlich war das Geländer oben repariert worden. Sie erklomm die letzten Stufen. Endlich stand sie vor der Tür. Sie hatte Schwierigkeiten, sie zu öffnen, da der Wind von außen dagegendrückte. Was für eine schwachsinniger Idee, sich ausgerechnet hier oben zu treffen. Stella wollte schon aufgeben, als die Tür plötzlich aufsprang. Ein heftiger Windstoß erfasste sie, als sie auf die Plattform trat. Niemand war zu sehen. Inzwischen war der Himmel so dunkel, als wäre die Dämmerung verfrüht über die Insel hereingebrochen. Vom Horizont her rasten schwarze Wolken auf sie zu, als wollten sie sich über sie stülpen wie eine außerirdische Macht. Das Meer war völlig aufgewühlt. Das Unterste kehrte sich nach oben, als ob das Wasser Kopf stünde. Ihr Vater hatte stets vom Geheimnis der Ozeane gesprochen. Das Geheimnis war eine Gefahr, wie das Geheimnis um den Unfall ihrer Mutter plötzlich zu einer Gefahr geworden war. Die ersten Tropfen fielen. Um sie herum war es so laut, dass sie fast das Handy nicht gehört hätte. Doch sie spürte das Vibrieren in ihrer Jackentasche. Sie drückte auf die Taste. Die Stimme, die in das Telefon brüllte, konnte sie kaum verstehen. »Was?« . . . »Robin!« . . . »Ich . . .« Er ließ sie nicht ausreden. »Wo bist du? Ich war bei dir zu Hause.« »Freitag. Er ist krank. Wäre fast gestorben.« »Ich weiß.« »Wieso weißt du das?« »Mary . . .« Der Wind verschluckte den Rest des Satzes. »Ich verstehe dich nicht«, schrie sie in ihr Handy. »Hörst du mich?« Plötzlich war seine Stimme wieder klar. »Wo bist du?« »Auf dem Leuchtturm. Hat Mary ihm das Gift gegeben?« »Geh sofort wieder hinunter, verstehst du?« »Ich dachte, wir wollten uns hier treffen. Du hast mir doch eine SMS geschickt.« »Geh da runter. Komm zum Internat. Ich habe mit Mary gesprochen. Sie...« Stella hörte ihn schwer atmen, als ob er keine Luft mehr bekäme.

»Robin!«, rief sie. »Was ist los?« Keine Antwort. Nur Rauschen. Die Verbindung war unterbrochen. Verzweifelt versuchte Stella zurückzurufen, doch alles, was sie als Antwort erhielt, war die Nachricht, dass ihr Akku leer war. Ausgerechnet jetzt. Warum hatte Robin sie erst auf den Turm geschickt, wenn er sich nun mit ihr am Internat treffen wollte? Was war mit Mary? Was hatte Robin erfahren? War alles in Ordnung mit ihm? Er hatte sich so komisch angehört. Stella wandte sich zur Tür. Ein Windstoß erfasste sie so heftig, dass sie wankte und das Gleichgewicht verlor. Sie rutschte auf dem nassen Boden aus. Ihr Kopf stieß gegen das Geländer. Es gab nach. Sie hielt sich am Fahnenmast fest, auf dem die Fahne mit dem Wappen der Insel wehte. Ein Segelboot auf einem blauen Meer, über dem die gelbe Sonne auf einem roten Hintergrund hing. Mühsam erhob sie sich. Immer wieder warf sie eine heftige Windböe zurück. Der Regen nahm an Stärke zu. Der Wind fuhr durch das aufgewühlte Wasser und bäumte es zu meterhohen Wellen auf. Ein Windstoß ergriff die Kapitänsmütze und wirbelte sie durch die Luft, bis sie ins Meer stürzte. Erst jetzt bemerkte Stella, dass ein Stück des Geländers weggebrochen war. Sie dachte wieder an den Weißen Friedhof, an die kleinen Gräber, in denen die Kinder lagen, die das Meer an den Strand gespült hatte. Deine Fantasie geht mit dir durch, Stella. Sieh einfach zu, dass du hinunterkommst. Als sie endlich stand, sah sie sich plötzlich einer Gestalt in einem schwarzen Mantel gegenüber. Die Kapuze war tief ins Gesicht gezogen. Sie kam direkt auf sie zu. Das konnte nicht wahr sein. Gespenster existierten nicht. Das war lächerlich. Unwillkürlich trat Stella einen Schritt zurück. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, dass hinter ihr das Geländer fehlte, dass dort unten der Abgrund lag.

Stella. Jemand ruft mich. So leise wie Vogelgezwitscher. Stella. Stella. Ich fliege. Für einen Moment glaube ich, ich könnte mich in der Luft halten und schweben. Dann werde ich nach unten geschleudert. Ein heftiger Stoß gegen den Kopf und mir wird schwarz vor Augen.