SECHSUNDZWANZIG
Nein, Stella wurde nicht ohnmächtig, als sie durch die Tür fiel, die plötzlich von außen aufgezogen wurde. Sie war auch nicht länger allein. Stattdessen landete sie in den Armen ihres Vaters. »Es ist Pat«, rief sie »Pat! Sie ist dort draußen!« Sein Blick wanderte Richtung Geländer, wo Pat noch immer am Rand der Plattform stand. Der schwarze Mantel wehte im Wind. Und dann ging alles plötzlich ganz schnell. Hinter Stellas Vater kamen zwei Polizisten durch die Tür. Sie schoben Stella und ihren Vater zur Seite: »Gehen Sie mit ihrer Tochter hinunter. Wir kümmern uns um sie. Wir haben eine Psychologin dabei und eine Notärztin.« Stellas Vater nickte und wandte sich um: »Komm«, sagte er, »wir können hier nichts tun.« Stellas Beine waren wie aus Gummi. Ihr Körper fühlte sich an, als würden die Knochen sich aufzulösen. Ihr Vater hielt sie fest, als sie Schritt für Schritt hinunterstiegen. Alles war so unwirklich. »Was machst du hier?«, fragte sie. »Ich dachte, du bist auf dem Festland?« »Ich habe die Mailbox abgehört. Dein Anruf, dass Freitag tot ist. Was ist denn mit deinem Handy? Herrgott, ich habe hundert Mal versucht, dich anzurufen, dich und Pat.« »Der Akku ist leer.« »Der Akku ist leer? Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Warum bist du auf den Leuchtturm gestiegen?«
»Ich dachte, Robin hätte mir eine Nachricht geschickt. Aber was ist mit Pat? Ich hatte solche Angst vor ihr.« Stella sah, wie ihr Vater fest die Zähne zusammenbiss. Schließlich blieb er stehen. »Mach dir über Pat keine Gedanken mehr. Vergiss sie. Ich habe ihr vertraut. Das war ein Fehler.« »Aber . . .« »Später. Unten warten deine Freunde auf dich. Auch sie machen sich Sorgen. Ohne sie wären wir zu spät gekommen.« Robin und Mary standen neben dem Wagen ihres Vaters dicht nebeneinander unter einem großen Regenschirm. Als Stella zur Tür hinaustrat, winkten sie ihr erleichtert zu. »Mann, bin ich froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte Robin. »Du hast es Mary zu verdanken, dass wir rechtzeitig hier waren.« Mary lächelte Stella verlegen an. »Ich habe eigentlich nichts getan.« »Von wegen«, sagte Stellas Vater. Was, was verdammt noch mal, hatte Mary gemacht? Was hatte sie mit dieser Sache zu tun? Noch vor einer Stunde war Stella der festen Überzeugung gewesen, dass Mary eine Art Monster sei, Frankenstein zwei, und nun wurde sie zur Heiligen gekürt? »Du hast mir doch diesen Brief gegeben? In der Schule!«, begann Mary. Doch Johannes unterbrach sie. »Setzt euch ins Auto, dort ist es warm. Stella ist ja völlig durchgefroren.« Er öffnete die Wagentür und ließ sie einsteigen. Dann holte er aus dem Kofferraum eine Wolldecke und legte sie Stella über die Schultern. Ungeduldig schob diese seine Hand zur Seite: Sie konnte kaum abwarten, wie die Geschichte weiterging. »Von wem war denn der Brief, Mary?« »Von meiner Mutter, verstehst du? Sie ist . . .« »Abgehauen«, warf Robin ein. »Sprich es ruhig aus. Davon wird es auch nicht schlimmer.« »Sie ist mit einem anderen Mann weggegangen«, erklärte Mary und fuhr fort: »Immer habe ich darauf gewartet, dass sie anruft, sich meldet. Aber ich habe nie etwas von ihr gehört. Bis ich diesen Brief bekommen habe . . .« »Bestimmt hat deine Großmutter ihre Briefe unterschlagen«, warf Robin ein. »Oder dein Vater.« »Ja, sie hat schon öfter geschrieben und sich gewundert, dass sie nie eine Antwort bekam, während ich auf einen Brief gewartet habe. Und da hatte ich dir gegenüber ein ganz schlechtes Gewissen und wollte dir helfen, so wie du mir geholfen hast, die Wahrheit zu finden.« »Jetzt wolltest du mir helfen?« Stella konnte nicht verhindern, dass sie wütend klang. »Und warum hast du mir dann diese Mail geschickt?« »Welche Mail?« »Dass du mir einen langen und qualvollen Tod wünschst!« Mary wurde noch blasser, als sie sowieso schon war. »Du denkst, ich würde dir eine solche Mail schreiben?« Stella sah Mary an, dass sie schockiert war. »Ich dachte, du bist sauer wegen Robin.« »War ich ja auch, aber deswegen würde ich doch nie . . .« »Wer hat dann die Mail geschrieben?«, mischte Robin sich ein. Für einen Moment schwiegen sie und dann verstand Stella. Es tat weh, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Wie hatte sie sich nur so täuschen können? »Pat«, sagte sie und sah ihren Vater an. »Es muss Pat gewesen sein. Sie hat mein Tagebuch gelesen.« Er starrte sie entsetzt an. Auch er konnte es nicht glauben. Sie hatten Pat vertraut. Draußen prasselte der Regen gegen die Frontscheibe. Unwillkürlich schaltete Johannes die Scheibenwischer an, die anschließend quietschend ihre Bahn zogen. »Mann«, unterbrach Robin das Schweigen, »allein dafür kann man sie schon anzeigen.«
»Aber wieso wusstest du, was Pat heute vorhat?«, fragte Stella noch immer verwirrt. »Ich wusste es nicht«, fuhr Mary fort. »Aber ich war auf dem Weg zu dir, um dir das von meiner Mutter zu erzählen, und da habe ich sie gesehen. Pat. Sie kam vom Weißen Friedhof. Dort liegt ihr Bruder begraben.« »Dann weißt du auch, dass sie hier von der Insel stammt?« »Ja.« »Warum hast du es mir nicht gesagt?« Anstelle einer Antwort zog Mary etwas aus ihrer Tasche. Es war ein Foto. Sie reichte es Stella. Ein Mädchen, ungefähr in ihrem Alter stand vor einem reetgedeckten Haus. Ein Torbogen führte in den Garten, der völlig mit Rosen überwuchert war. Daneben, rechts und links, zwei hohe Birken, die sich zueinanderneigten, als wollten sie sich anlehnen. Es war das Haus, in dem sie, Stella, jetzt wohnte. Aber sie war nicht dieses Kind, das neben dem Mann in dem grauen Hemd und der schwarzen Hose stand. Sie erkannte ihn sofort wieder. Jonathan Anderson. Der Pastor, der in diesem Haus gestorben war. Sie hatte sein Bild auf dem Dachboden gesehen. Das Mädchen war blond und pummelig. Nein, eigentlich war es dick. Die Haare waren knapp über dem Kinn gerade abgeschnitten. Ein schräger Pony lag über der in Falten gezogenen Stirn. Doch es waren die Augen, an denen Stella das Mädchen wiedererkannte. Die großen runden Augen. Pat. Pat stand vor dem Haus, das Stellas Vater gekauft hatte. Dieses Haus hatte Pastor Anderson gehört. Und Pat nannte sich Anders. Das war kein Zufall gewesen. »Woher hast du das Bild?«, fragte Stella. »Ich wollte immer wissen, was das für Kinder waren, die dort auf dem Weißen Friedhof liegen.« Marys Blick wurde plötzlich lebhaft. »Ich wollte ihre Geschichten erzählen, damit sie nicht vergessen werden, verstehst du? Und nachdem ich erfahren habe, dass Claus der Sohn des Pastors war, bin ich in das alte Pfarrhaus eingestiegen, weil ich hoffte, ich würde Spuren finden. Und da war auf dem Dachboden der Karton mit seinen Sachen.« »Wann?«, fragte Stella. »Wann warst du auf dem Dachboden?« Sie schauderte unwillkürlich, woraufhin ihr Vater sagte: »Dir ist immer noch kalt, ich bringe dir einen heißen Tee.« Doch sie beachtete ihn gar nicht, als er ausstieg. »Wann warst du im Haus?« »Als es renoviert wurde. Ich hatte Angst, sie würden alles wegwerfen.« »Und was passierte weiter?«, fragte Robin ungeduldig. »Pat kam also aus dem Weißen Friedhof . . .« »Ja. Erst da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Pat war das Mädchen auf dem Foto, das ich gefunden hatte, und sie war auf dem Friedhof, um das Grab ihres Bruders zu besuchen. Aber dann fiel mir ein, dass du am Morgen Robin erzählt hast, sie würde heute aufs Festland fahren.« Stella nickte. »Von wegen. Sie ist in ihr Auto gestiegen und Richtung altes Pfarrhaus gefahren. Dort hat sie den Wagen ein Stück entfernt abgestellt und ist ausgestiegen.« »An dir ist ein Detektiv verloren gegangen«, rief Robin. »Du solltest zur Polizei gehen.« »Unterbrich mich nicht ständig. Als ich bei euch am Hof ankam, habe ich beobachtet, wie sie aus der Scheune schlich. Sie trug deine Katze auf dem Arm und ich glaube...ich glaube, sie ist tot.« »Nein«, erwiderte Stella mit Tränen in den Augen. »Sie lebt. Aber du meinst, Pat hat sie vergiftet?« »Jedenfalls trug sie sie auf dem Arm.« Stella schluckte die Tränen hinunter. »Was ist dann passiert?«
»Sie hat die Katze vor die Haustür gelegt, geklingelt und ist dann schnell wieder in der Scheune verschwunden. Das kam mir verdammt komisch vor. Vor allem als ich gesehen habe, wie du in der Haustür erschienen bist und die Katze hochgehoben hast. Mann, ich habe gedacht, ich mache mir vor Schreck in die Hose.« »Warum bist du nicht gekommen?«, fragte Stella. »Du hättest es mir sagen müssen.« »Wollte ich ja. Aber kaum hast du die Haustür zugemacht, da kam Pat auf diesem alten Fahrrad wieder heraus und ist weggefahren. Ich wollte wissen, was sie vorhat. Es kam mir alles so seltsam vor. »Du hattest recht«, mischte sich Stellas Vater ein, der gerade mit einem Becher Tee zurückgekehrt war und wieder zu ihnen ins Auto stieg. Dankbar sah er Mary an. »Ja, echt super«, meinte Robin. Marys Gesicht verzog sich zu einem verlegenen Lächeln. Zum ersten Mal sah Stella ihr Gesicht strahlen. »Und dann?« »Dann habe ich sie aus den Augen verloren. Ich bin immer ein Stück hinter ihr geblieben, sie sollte mich ja nicht sehen. Plötzlich war sie weg. Hat sich einfach in Luft aufgelöst. Ich bin zurück zu dir gefahren, aber du warst nicht da. Die Katze war verschwunden.« »Ich habe sie zum Tierarzt gebracht.« Ihr Vater reichte Stella den Becher Tee. »Trink!« »Jetzt nicht!« »Trink!«, wiederholte er und sie nahm schnell einen Schluck, bevor Mary fortfuhr. »Das wusste ich ja alles nicht. Ich dachte, ich muss etwas tun und bin zu Robin gefahren.« »Ich will gar nicht an den Ärger denken, den ich bekomme, weil ich einfach aus der Studierzeit abgehauen bin«, warf Robin ein.
»Stell dir vor, Mary stürmt einfach an der Fröhlich vorbei. Der bleibt geradezu die Spucke weg. Mary erscheint im Saal, rennt an meinen Tisch, klappt mein Buch zu und sagt: ›Wenn dir Stella etwas bedeutet, vergiss dieses Englischbuch und die Claasen und komm mit mir. Ich glaube, sie braucht uns jetzt.‹« Freunde, dachte Stella. Selbst wenn sie hundert Leben hätte, konnte es hundert Mal schiefgehen, wenn man niemanden hatte, der sich wirklich um einen sorgte. Freunde waren wichtiger als sieben Leben. Auch Freitag hatte nur überlebt, weil sie für ihn da gewesen war. »Mama ist vor dem Unfall schlecht gewesen«, sagte Stella leise. Ihr Vater wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Warum hast du mir das nicht erzählt?« »Du hast mir ja nicht einmal das mit den Anrufen geglaubt.« Stella konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vorwurfsvoll klang. »Natürlich hätte ich dir geglaubt«, unterbrach ihr Vater sie entrüstet. »Dann hätte mich auch nicht die Polizei anrufen müssen wegen dieses Obduktionsberichtes.« Stella warf Robin einen Blick zu. Der hob die Schultern und sagte: »Dumm gelaufen.« »Kannst du dir vorstellen, wie verwirrt ich war, als ich diesen Anruf vom Institut für Rechtsmedizin bekomme und mir jemand sagt, ich könne den Obduktionsbericht in Kiel abholen. Welchen Obduktionsbericht?, frage ich. Den sie beantragt haben. Ich habe keinen beantragt. Aber wir haben hier einen Brief, der von ihnen unterschrieben ist.
Robin hatte offenbar kein Interesse, den Betrug, für den er und Stella verantwortlich waren, in ganzer Länge anzuhören. »Haben Sie ihn gelesen?«, rief Robin. »Was stand denn drinnen?« »Dass meine Frau eine hohe Dosis Diazepam im Blut hatte. Die Polizei hatte den Verdacht, dass deine Mutter Selbstmord begehen wollte.« Stella sah wieder Pats Kosmetikkoffer vor sich. »Wie heißt das Medikament?« »Diazepam«, wiederholte Robin. »Ich habe das Mittel in ihrem Schrank gesehen.« »In welchem? In Kerstins Schrank?« Ihr Vater wurde blass. »Nein, in Pats. Sie hatte Kleider von Mama dort und ihre Schuhe. Aber warum?« Stellas Vater schüttelte den Kopf. »Das kann nur sie beantworten.« Pat. Stella hatte ganz vergessen, dass sie noch dort oben war. Was, wenn sie bereits vom Turm gesprungen war? War es das, was Stella sich wünschte? Sie wusste es nicht. Alles sollte einfach vorbei sein. Mehr wollte sie nicht. In diesem Moment kam Pat am Arm eines Polizisten zur Tür heraus. Sie blieb kurz stehen und sah zu ihnen herüber. Stellas Vater machte eine Bewegung, als wollte er zu ihr gehen, hielt aber abrupt inne. Stella spürte, dass er am ganzen Körper zitterte. Sie hat ihn noch nie so wütend erlebt. Alle schauten zu, wie Pat zu dem Krankenwagen geführt wurde, aus dem die Notärztin ausstieg, die Freitag gerettet hatte. Hedwig. Sie hieß Hedwig. Sie winkte ihnen zu. »Was ist mit Freitag?«, rief sie herüber. »Er hat überlebt.« »Das ist gut.« »Übrigens«, sagte Stella zu ihrem Vater. »Ich muss dir etwas sagen. Ich habe den Notarzt gerufen und ich glaube, du musst das bezahlen.« »Das hast du gut gemacht. Ich hätte mir keine Sorgen machen sollen. Du weißt, was du tun musst, wenn es darauf ankommt.«
»Was passiert jetzt mit Pat?« »Sie kommt in ein Krankenhaus. Sie ist krank.« »Sie wollte Mama und Sven etwas antun.« Er nickte. »Und dir.« »Sie war in dich verliebt«, erklärte Stella. »Sie wollte dich für sich alleine haben.« »Aber . . .« »Du kennst dich vielleicht mit Walen aus«, unterbrach ihn Stella, »doch was Menschen betrifft, musst du noch viel dazulernen.« »Aye, aye, Captain«, sagte er. »Was ist mit deiner Mütze?« »Die schwimmt auf dem Meer, wo sonst?«