Adelinde von Knottau-Webern
Selina erwartete mich in der Ankunftshalle des Düsseldorfer Flughafens und flog mir in die Arme, als wäre ich ihre nach langer Abwesenheit zurückgekehrte Lebensgefährtin. Vor lauter Enthusiasmus stieß sie meinen Trolley um, merkte es aber nicht mal, denn sie war zu beschäftigt, mich zu küssen.
»Ich habe dich so vermisst«, stieß sie atemlos hervor, um mich gleich weiterzuküssen.
Auch ich freute mich, sie wiederzusehen, obwohl mir diese Begrüßung etwas zu viel war. Schon jetzt sahen einige Leute zu uns herüber. Abwehr hätte nur mehr Aufmerksamkeit auf uns gezogen. Ich beendete den Kuss so dezent wie möglich, löste Selinas Arme von meinem Hals und angelte nach dem Griff meines Trolley.
»Komm, lass uns jetzt erst einmal gehen.«
»Das Auto steht im Parkhaus«, sagte sie, während sie zügig dem P-Zeichen zustrebte. »Hat sich Kattnig noch mal bei dir gemeldet?«
»Ja, gestern.«
Selina blieb stehen.
»Und?«
»Seine Bedingungen haben sich nicht geändert. Er nimmt nur an der Versteigerung teil, wenn Weisskopf vor Ort ist.«
Selina verdrehte die Augen. »Immerhin haben wir einen vertraulichen Hinweis bekommen, dass der Termin in Weisskopfs Outlook-Kalender eingetragen ist.«
»Das sagt gar nichts.«
»Du hast recht: Wir können uns nicht darauf verlassen, dass er tatsächlich selbst aufkreuzt. Deshalb sollten wir alles daran setzen, Frau von Knottau-Webern für die Sache zu gewinnen.«
Ich hatte meine Zweifel, was diese Dame betraf. Nichts von dem, was im Exposé der NEAA stand, war mir aufschlussreich genug erschienen. Nach meiner eigenen Internetrecherche wusste ich nun zudem, dass sie arabische Vollblüter züchtete, aber auch das würde uns wohl kaum weiterhelfen.
Im Parkhaus führte mich Selina zu einem schwarzen Audi A8.
»Nicht schlecht. Dein Wagen?«, fragte ich verwundert, als ich meinen Koffer im Kofferraum verstaute.
Sie verdrehte die Augen.
»Ja, klar. Den habe ich dir nur die ganze Zeit verschwiegen. Ich wollte sichergehen, dass du mich wegen meiner inneren Werte liebst, nicht wegen meines Geldes!«
Ich lachte. Das Geplänkel mit ihr hatte mir gefehlt.
»Ja, das ist ein ernstes Problem. Man kann sich gar nicht genug absichern.«
Sie startete den Audi und lenkte ihn in Richtung Stadtautobahn, wo sie sich kurze Zeit später in den zähfließenden Verkehr einreihte. Auch wenn es kaum vorwärtsging, schien es ihr Freude zu machen, hinter dem Lenkrad zu sitzen.
»Hast du dir den Wagen ausgesucht?«
»Das ist ein Mietwagen. Himmel!« Sie rollte mit den Augen.
»Das habe ich schon kapiert, Herzchen.« Das Kosewort rutschte mir so heraus. Sie quittierte es mit einem amüsierten Lächeln.
»Ich wollte eigentlich nur wissen, ob du dieses Modell ausgesucht hast oder dein Chef.«
»Ich«, gab sie unumwunden zu. »Warum fragst du? Leitest du irgendetwas daraus ab?«
»Natürlich. Du liebst Luxus.«
»Nicht schwer zu erraten«, stimmte sie zu. »Das zeigt ja schon meine Begeisterung für dich.«
Einerseits freute mich ihr unverhohlenes Interesse. Andererseits erschien es mir nicht ganz geheuer. »Eine Begeisterung per Auftrag«, rief ich ihr nüchtern in Erinnerung.
»Ich hatte den Auftrag, mit dir Kontakt aufzunehmen«, stellte sie erneut klar. »Nicht mit dir zu schlafen.«
Der Stau hatte sich aufgelöst. Wir fuhren nun zügig Richtung Westen.
»Woher wusstest du in Fuerteventura eigentlich, dass ich für deine Flirtversuche empfänglich sein könnte?« Die Frage beschäftigte mich schon seit Längerem. »Stand das in dem Exposé, das du über mich bekommen hast?«
»Ja, klar.«
»Und woher bezieht dein Arbeitgeber seine Information?«
Sie warf mir einen schnellen Seitenblick zu. Ihr Mundwinkel zuckte nervös, offenbar spürte sie, dass sie sich auf dünnes Eis begeben hatte.
»Ich weiß nicht. Vielleicht stand es auch gar nicht drin. Ich hab‘s halt gespürt, okay?«
Es war mir klar, dass sie nun log. Aber sie würde nur noch mehr mauern, wenn ich weiter herumbohrte.
»Jedenfalls habe ich mich für dieses Gefährt entschieden, weil wir schließlich bei einer adeligen Multimillionärin vorfahren«, lenkte Selina unser Gespräch wieder auf das unverfängliche Thema von zuvor. »Wir wollen ja halbwegs ebenbürtig auftreten.«
Das klang plausibel, war vermutlich aber verschenkte Liebesmüh. Adelinde von Knottau-Webern hatte die Rollenverteilung bereits bei unserem Telefonat vorgenommen: Wir waren für sie Bittstellerinnen, denen sie Audienz gewährte.
Bei der nächsten Ausfahrt fuhr Selina ab. Wir hatten die Stadt hinter uns gelassen. Die Gegend war ländlich, hauptsächlich Felder mit einzelnen größeren Ortschaften und Dörfern. Bald kam ein Schild, das auf einen Golfclub hinwies.
Die Straße wurde hier so schmal, dass Gegenverkehr ein Problem dargestellt hätte. Unter dem Grau des Himmels wirkte das Ackerland mit seinen schwarzen Furchen beinahe bedrohlich. Das Land war flach – ohne Erhebungen, ohne Wald.
Vor uns zeichnete sich eine Ansammlung von Gebäuden ab: Ein Gutshof mit imposantem Hauptgebäude, mehreren Nebengebäuden und einer modernen Reithalle. Davor weiß gestrichene Koppelzäune, eine weite, im Winterschlaf ruhende Weidefläche. Ich stellte mir die Weiden im Sommer vor, mit saftigem Gras und vielen eleganten Araberpferden.
»Gibt es irgendetwas, das ich zu dieser Frau noch wissen sollte?«, fragte ich vorsichtshalber. »Irgendetwas, was die NEAA noch herausgefunden hat?«
»Nein, da kam nichts weiter.« Ein gewaltiges, schmiedeeisernes Tor versperrte uns die Einfahrt. Selina drückte den Klingelknopf.
»Von Marensperg-Töbeln und Begleitung. Wir haben einen Termin.«
»Parken Sie links neben dem Haus. Sie werden empfangen«, knarrte eine Männerstimme durch den Lautsprecher. Das Tor schwang auf. Sobald wir es passiert hatten, schloss es sich wieder.
Falls sich dieser Termin als genauso unangenehm entpuppte wie der mit Kattnig, würde es schwerfallen, einfach zu gehen.
*
»Leute wie Sie und ich, wir haben eine ethische Verantwortung zu tragen.«
Seit über einer Stunde saßen wir im Teesalon des Gutshauses, einem schlecht beheizten Raum mit barocken Möbeln und Stofftapeten mit altmodischem Blumenmuster. Adelinde von Knottau-Webern, eine Frau um die fünfzig, passte dazu wie das Tüpfelchen auf dem i. In ihrem wallenden rosa Rüschenkleid, mit hoch aufgetürmtem Haar und behangen von schwerem Schmuck, verschmolz sie geradezu mit dem Ambiente des Raums. Ihr dunkelrot geschminkter Mund und die viel zu stark nachgezogenen Augenbrauen gaben ihrem Gesicht eine groteske Note.
Sie lispelte beim Sprechen und hatte bisher kein einziges Mal gelächelt oder gar gelacht. Wenn sie ihre Teetasse zum Mund führte, spreizte sie den kleinen Finger ab.
»Es ist unsere Pflicht, der guten Sache zu dienen, nicht wahr?«
Die Hausherrin sah mich an, als erwarte sie meine Zustimmung, fuhr dann aber fort: »Mittelmäßigkeit ist nicht das, wofür Familien wie die unseren stehen, meine liebe Frau von Marensperg-Töbeln. Wir sind dafür geboren, Herausragendes anzustreben. Uneigennützig, versteht sich.«
»Selbstverständlich«, pflichtete ich bei. Nach über zehn Jahren mit meinem Geburtsnamen angesprochen zu werden, war befremdlich, aber unabdingbar, damit sie mir überhaupt Gehör schenkte. Selina, in der Rolle meiner Assistentin, wurde bisher geflissentlich ignoriert.
»Zum Wohle aller zu handeln, das ist unsere Berufung. So sind wir erzogen worden, nicht wahr?«
Ich nickte und dachte unwillkürlich an meine Mutter, die sich diese Wertvorstellungen ebenfalls gerne gut sichtbar an die Stirn heftete, dabei aber den eigenen Vorteil nie aus den Augen verlor. Sie hätte sich mit dieser Frau, der die Bodenhaftung gewiss schon in der Wiege verlorengegangen war, gut verstanden.
»Ich sehe es als meine Pflicht, hier einzugreifen«, ließ Frau von Knottau-Webern endlich die Katze aus dem Sack. »Selbstverständlich werde ich diese Vase ersteigern!«
Selina richtete sich überrascht auf. »Das … das ist phantastisch! Endlich legt jemand diesem Gauner das Handwerk!«
Die Adelige streifte meine Begleiterin mit einem kurzen, abfälligen Blick, ehe sie sich wieder auf mich konzentrierte.
»Es ist schon zu viel Unrecht auf dieser Welt geschehen. Völker wurden ausgebeutet. Menschen wurden versklavt. Es ist mir und meiner Familie seit jeher ein Anliegen, zum Wohle der Armen und Schwachen zu wirken.«
Selina verschluckte sich prompt am Tee, hustete und presste sich hastig ein Taschentuch vor den Mund. Wäre nicht so viel auf dem Spiel gestanden – ich hätte sie am liebsten für ihre ehrliche Reaktion umarmt und geküsst. Mir wurde in diesem Augenblick bewusst, was sie von all den Menschen, die mir sonst begegneten, unterschied: Sie verbarg ihre Meinung und Emotionen nicht hinter einer Maske aus Selbstbeherrschung und dem Bestreben, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Wenn sie sagte, dass sie mich vermisst hatte, dann war das so. Und wenn sie in Fuerteventura mit mir geschlafen hatte, dann, weil sie es wollte.
»Nichtsdestotrotz bedauere ich sehr, dass Ihr Vater die Brisanz seines Handels nicht erkennt«, sagte die Dame nun.
»Es liegt offenbar in den Händen unserer Generation, die Fehler unserer Eltern und Großeltern wiedergutzumachen«, erwiderte ich und sah Frau von Knottau-Webern dabei fest in die wässrigblauen Augen. Sie wandte den Blick ab, und ich wusste, dass sie genau verstanden hatte, worauf ich anspielte.
»Ich werde die Vase den Chinesen zurückgeben«, erklärte sie dann. »Es ist immerhin ihr Kulturgut. Vorab erwarte ich natürlich eine offizielle Entschuldigung der chinesischen Regierung für ihren rücksichtslosen Umgang mit den Uiguren in Xinjiang, ein Einlenken in ihrer Tibet-Politik und ein bedingungsloses Bekenntnis zu den Menschenrechten.«
Ich war froh, dass Selina das Teetrinken aufgegeben hatte. Möglicherweise hätte sie sonst haltlos losgeprustet und uns in einen feuchten, braunen Sprühnebel gehüllt. Auch ich hatte diesmal Mühe, angesichts von so viel Realitätsverlust meine Fassade zu wahren.
»Selbstverständlich«, brachte ich dennoch heraus.
»Gut. Dann sind wir uns also einig. Ich werde übermorgen bei der Auktion sein und mit dieser Vase nach Hause reisen.« Sie erhob sich und wandte sich an das Dienstmädchen, das die ganze Zeit über wartend in einer Zimmerecke gestanden hatte. »Luise, bringen Sie meine Gäste zur Tür.«
Mir reichte sie zum Abschied die Hand, Selina nicht.
»Noch etwas«, sagte sie, als wir den Salon schon fast verlassen hatten.
»Mit diesem unsagbaren Menschen … Weisskopf … möchte ich nicht in Kontakt kommen. Sorgen Sie also dafür, dass er der Auktion fernbleibt!«
*
»Du lieber Himmel, war das schräg!«, platzte Selina heraus, nachdem wir wieder auf der Landstraße waren. »Diese Frau ist doch irre! Faselt vom Wohlergehen aller und zehrt selbst von dem Vermögen, das ihre Vorfahren durch den Handel mit Diamanten aus Krisengebieten gescheffelt haben! Die scheint echt gut verdrängen zu können, wenn sie vergisst, unter welchen menschenverachtenden Umständen der Abbau solcher Schätze stattfand und dass der Erlös Waffen und ganze Invasionstruppen finanziert hat!«
»Sie ist sich darüber sehr wohl bewusst«, korrigierte ich. »Sie will es wiedergutmachen. Daher das ständige Betonen, wie wichtig ihr Menschenrechte sind.«
»Sie war einfach nur überheblich. Sie hält sich für etwas Besseres, weil sie Geld hat.«
»Nicht allein wegen des Geldes. In erster Linie deshalb, weil sie einen Adelstitel trägt«, erklärte ich ruhig. »Sie hat sich die ganze Zeit auf den Kodex des europäischen Adels berufen.«
»Wie … was?«
Selina bremste scharf ab. Beinahe hätte sie vor Aufregung eine rote Ampel übersehen.
»Welcher Kodex?«
»Es gibt ein paar Verhaltensregeln, denen Angehörige des europäischen Adels in der Regel folgen«, erläuterte ich geduldig. »Dazu zählt, Menschen ungeachtet ihrer Religion und Hautfarbe zu achten. Und natürlich: die Familie wahren, für ihren Fortbestand sorgen, das kulturelle Erbe tradieren, die Verstorbenen ehren … und so weiter.«
»Und danach richtest du wirklich dein Leben aus?«
Selina schaute mich entsetzt an.
Ich lachte.
»Es ist ein so definierter Lebensstil, und ich bin danach erzogen worden.«
»Also meine Eltern haben mir auch beigebracht, an andere zu denken, Leute zu unterstützen und nett zueinander zu sein. Ist ja beschämend, wenn man dafür einen Kodex ins Leben rufen muss!«
Insgeheim musste ich ihr recht geben.
»Es geht um mehr«, sagte ich in dem vagen Gefühl, meine Herkunft verteidigen zu müssen. »Es geht auch darum, dass wir unsere Berufswahl unter dem Aspekt treffen sollten, der Allgemeinheit zu dienen und gesellschaftlich etwas zu bewirken.«
»Ich kotze gleich.« Selina machte ein finsteres Gesicht. »Du checkst aber schon, dass es sich mit voller Hose gut stinken lässt, oder? – Ich meine, wenn man eh schon Geld hat, kann man locker Gutes tun und wohltätige Jobs machen, unabhängig vom Gehalt.«
Sie fühlte sich persönlich angegriffen. Das war mir spätestens jetzt klar.
Die Ampel sprang auf grün und Selina fuhr wieder an, den Blick starr geradeaus gerichtet. Sie sagte nichts, aber ich spürte die Wut, die in ihr tobte. Sie hatte nie die Wahl gehabt, nicht auf ihr Einkommen zu schauen. Besänftigend legte ich meine Hand auf ihren Oberschenkel.
»Du arbeitest für eine NGO. Das ist nichts Schlechtes. Und du musst das ja nicht für ewig machen, sondern kannst dir irgendwann etwas Neues suchen.«
»Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll«, kam es zurück, diesmal nicht mehr aggressiv, sondern niedergeschlagen. »Ich wollte mal berühmt werden. Das war mein Traum. Aber irgendwie wird alles von Jahr zu Jahr und von Job zu Job nur schlimmer.«
»Berühmt werden?« Ich runzelte verwundert die Stirn. »Du meinst, als Fußballerin?«
Sie sagte eine ganze Weile nichts. Wir waren inzwischen auf der Autobahn und näherten uns zügig dem Düsseldorfer Stadtrand.
»Stell dir vor, du bist total am Boden«, begann sie dann ruhig und mit ungewohnter Ernsthaftigkeit. »Und dann kommt jemand, der ist für dich … ja, so was wie dein größtes Idol. Und der fragt dich, ob du für ihn arbeiten willst. Du kannst kaum glauben, dass er ausgerechnet dich fragt! Was er von dir erwartet, ist einfach – und irgendwie auch lustig. Aber dann, als du mittendrin steckst, geht dir auf, dass du deine Seele verkauft hast. Dass du etwas tust, was dir zutiefst zuwider ist. Du überlegst andauernd, wie du da wieder rauskommst, und du hast wahnsinnige Angst.«
»Angst, die Miete nicht zahlen zu können?« Ich wollte verstehen, worum es ihr eigentlich ging.
»Angst, jemanden zu verletzen«, erwiderte sie leise.
»Wenn du etwas Illegales tust – du kannst jederzeit aussteigen.«
Ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass sie nicht mehr von der NEAA sprach, sondern von einem anderen Job, einem zweiten, den sie mir bisher verschwiegen hatte.
»Es ist nichts Illegales. Aber es gibt Verträge. Wenn ich die breche, ist mein Leben zerstört.«
Ihre Worte jagten mir einen kalten Schauder über den Rücken. Offenbar sah sie sich mit dem Rücken an der Wand.
»Es gibt immer einen Ausweg«, beharrte ich. »Tu nichts, was dir nicht guttut. Hör einfach auf. Nichts und niemand ist das wert!«
»Du hast leicht reden. Du warst bestimmt noch nie in so einer Lage.«
»Oh doch! Ich war auch schon verzweifelt und habe keine Zukunft mehr gesehen.« Beklommen dachte ich an den Zustand, in dem Farah und Peter mich in Berlin zurückgelassen hatten. Hätte mich die Polizei nicht rechtzeitig aufgegriffen – ich hätte mich vermutlich vor die nächste Bahn geworfen.
»Und wie bist du da wieder rausgekommen?«
Selina klang ehrlich interessiert.
»Durch … Ablenkung.«
In Wahrheit hatte ich mich betäubt, mit Partys, Sex, Alkohol, hin und wieder mit bunten Pillen.
Selina lachte bitter. »Dann war es ein Luxusproblem. Davon kann man sich ablenken. Bei mir ist das was anderes. Bei mir hängt meine ganze Existenz daran.«
Das hatte ich einst auch über Farah gedacht: dass mein ganzes Leben von ihrer Liebe abhinge. Doch siehe da, ich lebte noch immer, trotz Zurückweisung. Wenngleich auch nicht mehr so glücklich wie in den Jahren, als ich mich ihrer Zuneigung sicher fühlte. Doch all das konnte und wollte ich Selina gegenüber nicht weiter ausführen.
»Mein Rückflug geht erst morgen früh«, hörte ich mich stattdessen sagen. »Wollen wir den restlichen Tag zusammen verbringen? Es gibt immerhin was zu feiern! Wir haben jemanden gefunden, der Weisskopf das Handwerk legen will.«
Ich sah an ihrem Gesicht, dass sie mit diesem Angebot nicht gerechnet hatte. Dann huschte ein kleines Lächeln über ihre Lippen.
»Klingt gut.«
*
In der Düsseldorfer Altstadt fanden wir ein kleines französisches Bistro, das auch tagsüber warme Küche bot, bestellten Moules marinières – Muscheln im Weißweinsud, Flammkuchen und anschließend noch klebrig-süße Crêpes, tranken Sauvignon Blanc und unterhielten uns über dies und das. Es war, als gäbe es keine Vase, keinen vermeintlichen Kunstraub und keinen Dieter Weisskopf.
Ich genoss das heitere Geplänkel genauso wie die Komplimente, die sie mir machte für meine Frisur, meinen elegant geschnittenen Hosenanzug, meine schönen Hände.
Ich mochte die Art, wie sie ihr dunkles Haar in den Nacken warf, ihr Lachen, das Aufblitzen ihrer weißen, makellosen Zähne. Um ihre Augen herum zeigten sich erste kleine Lachfältchen. Ich stellte mir vor, wie sie als ältere Frau aussehen würde. Das Bild, das sich in meinem Kopf formte, gefiel mir. Warum Selina mich anfangs an Farah erinnert hatte, verstand ich selbst nicht mehr. Sie war unmöglich mit einer so ruhigen, melancholischen Person zu vergleichen. Selina war lebhaft, unterhaltsam und charmant – ganz anders als Farah, ganz anders auch als die sich permanent selbst bemitleidenden Frauen des Clubs der Ex-Gattinnen und auch ganz anders als Jo, die ich als meine beste Freundin bezeichnet hätte. Im Gegensatz zu ihr konnte Selina witzig und eloquent sein, ohne zuvor zwei Drinks konsumiert zu haben.
Wir blieben rund zwei Stunden. Als die Flasche Wein leer und unsere Mägen voll waren, beglichen wir die Rechnung und verließen das Lokal, bereit für neue Taten. Der frostige Januarwind setzte unserem Plan, durch die beleuchtete Altstadt zu bummeln, ein schnelles Ende.
Selina deutete auf ein Plakat, auf dem in knallig-pinkem Schriftzug für ein Musical geworben wurde.
»Schau mal, das ist heute! Hast du Lust? – Bestimmt kriegen wir an der Abendkasse noch Karten!«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Okay, warum nicht?«
»Toll! Dann los, in eineinhalb Stunden beginnt die Vorstellung.«
Damit sprintete sie auch schon auf einen Bus zu, der an der Haltestelle gegenüber zum Stehen gekommen war, und zog mich mit sich. Eingepfercht ließ ich mich bei der Fahrt durchschaukeln und zog mir den Schal tiefer ins Gesicht, um nicht die Viren einzufangen, die der Mann neben mir in die Welt hustete, und zugleich das olfaktorische Potpourri aus billigem Parfum, verrauchten Kleidern und Schweiß abzuwehren, das mich umgab. Meine letzte Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel lag Jahre zurück.
»Woher willst du wissen, dass dieser Bus zum Theater fährt?«
»Ich weiß es eben.« Selina grinste, amüsiert von meiner Skepsis. »Ich habe hier mal gewohnt.«
»Was? Ich dachte, du bist direkt von Köln nach Berlin gezogen?«
»Zwischendurch war ich für drei Monate in Düsseldorf. Ich hatte hier einen Job. Keine Sorge, ich bin diese Strecke oft gefahren.«
Mir lag auf der Zunge zu fragen, ob sie sich damals auch das Ticket gespart hatte, doch ich wollte mich zwischen all den Menschen nicht als Schwarzfahrerin outen.
Vor der Theaterkasse hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Wir stellten uns an und warteten gut eine halbe Stunde, bis sich überhaupt etwas zu bewegen begann. Nur noch drei Paare trennten uns vom Schalter, als die resolute Dame hinter der Kasse lautstark verkündete: »Ausverkauft!«
Enttäuschtes Gemurmel, lange Gesichter. Die Leute, die leer ausgegangen waren, strebten dem Ausgang zu. Ich wollte mich ihnen gerade anschließen, als Selina meine Hand packte und mich zur Seite zog.
»Sieh mal.« Sie wies mit dem Kinn zu einer Tür, die vom großen Foyer aus offenbar in einen Nebensaal führte. Zwei sehr wichtig aussehende, in pinkfarbene Uniformen gekleidete Hostessen hakten ankommende Gäste auf einer Liste ab. Ein buntes Rollup neben ihnen verkündete: Musical Highlights aus 5 Jahrzehnten – Galaabend zu Ehren von Dr. Rolf-Jürgen Behrens. Darunter, etwas kleiner: Geschlossene Gesellschaft.
Ehe ich mich versah, standen wir vor dem Empfangstisch. Selina zog eine kleine Plastikkarte mit ihrem Foto aus der Geldbörse und legte sie vor die Damen auf den Tisch.
»Presse«, verkündete sie mit einer Selbstsicherheit, die mich verblüffte.
Eine der Hostessen betrachtete die Karte noch kritisch, während die andere nur einen flüchtigen Blick darauf warf und sagte: »Ach, Sie sind sicher die Dame von den Düsseldorfer Nachrichten, die heute anstatt Herrn Peters hier ist.«
»Ganz genau.«
»Dann einen schönen Abend, Frau Marković.«
Die Pink Lady gab Selina den Presseausweis zurück.
Selina machte einen zielstrebigen Schritt nach vorne und ich folgte ihr, wurde aber sogleich gestoppt.
»Und Sie sind …?«
»Schon okay«, erklärte Selina schnell. »Das ist eine neue Kollegin. Sie ist sozusagen in der Einarbeitungsphase.«
»Aber es ist nur ein Platz für die Düsseldorfer Nachrichten vorgesehen.«
»Wie bitte?« Selina spielte die Empörte. »Da muss ein Irrtum vorliegen. Auch der Kollege Peters wäre mit Begleitung gekommen. Ich saß ja selbst daneben, als er sich akkreditiert hat!«
Die Hostessen tauschten unsichere Blicke.
»Wie stellen Sie sich das vor? – Wir planen einen Sonderbericht, da müssen wir mindestens zu zweit vor Ort sein!«, legte Selina nach und ich konnte nur noch staunen. Doch das, was ich da erlebte, gefiel mir. Diese neue Seite an ihr weckte in mir Erinnerungen an ein paar Schummeleien, die ich früher selbst begangen hatte.
»Na gut … dann … gehen Sie. Wir lassen noch ein weiteres Gedeck auflegen.«
Wir passierten, ohne uns noch einmal umzudrehen. Als wir unsere Mäntel bei der Garderobe abgegeben hatten, sah ich Selina an.
»Und du bist sicher, dass wir damit durchkommen?«
»Sind wir doch schon.« Sie grinste breit. »Und wenn es später auffliegt, hatten wir zumindest ein paar nette Stunden.«
So gesehen hatte sie recht.
»Wo hast du den Presseausweis her?«
»Das willst du nicht wissen.«
Eigentlich schon. Doch ich akzeptierte, dass sie mir die Antwort nicht geben wollte.
Der festlich geschmückte Saal begann sich zu füllen. Vorne gab es eine Bühne; der schwere Samtvorhang war noch zugezogen. Die Gäste wurden runden Achtertischen zugewiesen. Unserer lag etwas weiter hinten, von fern sahen wir bereits drei auffallend salopp gekleidete Männer in Jeans und eine Frau mit grasgrünem Haar dort sitzen.
»Eindeutig Presse«, flüsterte Selina.
»Du hast wohl schon eine gewisse Routine darin, dich irgendwo einzuschmuggeln?«
»Könnte man so sagen. Geldnot treibt einen zum Äußersten. Ich wollte hin und wieder auch mal gut essen und etwas erleben.« Sie lächelte. »Bist du schockiert?«
»Eher fasziniert«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Vor allem, weil mich dein Wandel in Sachen Moral ziemlich überrascht. Erst beteuerst du, du willst nicht lügen, und dann das hier!«
»Es gibt da einen Unterschied. Ich will niemanden verletzen. Das hier tut keinem weh.«
»Außer der Journalistin, die nun vor verschlossenen Türen steht.«
Selina hob die Schultern.
»Wenn schon. Dann muss sie beim nächsten Mal eben pünktlich sein.«
Damit wollte sie unseren Tisch ansteuern, doch ich hielt sie zurück.
»Warte kurz. Wir sollten zumindest wissen, wer dieser Herr Behrens ist, zu dessen Ehren wir uns hier eingefunden haben.«
Ich hielt bereits mein Handy in der Hand. Die Suche lief.
»Doktor Rolf-Jürgen Behrens«, klärte ich Selina Augenblicke später auf. »Vorstandsvorsitzender eines Automobilkonzerns.«
»Das erklärt den hohen Männeranteil.« An unserem Tisch hatten sich inzwischen zwei weitere Journalisten niedergelassen. Selina zog eine Augenbraue hoch. »Die sind wahrscheinlich von AutoBild, Auto, Motor, Sport und was weiß ich. Wird ein unterhaltsamer Abend.«
»Wir können noch immer gehen.«
»Bist du verrückt?« Ihre Augen blitzten. »Das ziehen wir jetzt durch!« Auf dem Weg zischte sie mir noch ins Ohr: »Und denk dran, du bist in der Einarbeitungsphase!«
»Sehr wohl, große, weise Chefin«, erwiderte ich schmunzelnd. »Ich werde nicht mal atmen ohne deine Erlaubnis.«
»Oh, das bitte schon. Ein Abtransport im Krankenwagen würde dann doch zu viel Aufmerksamkeit erregen.«
»Aber uns das Taxi zum Parkhaus sparen.«
Wir stellten uns der Tischrunde vor. Selina nannte den Namen, der in ihrem wahrscheinlich geklauten Presseausweis stand: Zorana Marković. Ich beließ es bei Roßloch, weil der Nachname hier in Düsseldorf völlig unverfänglich war. Niemand kannte mich oder Alexander.
Als ein Gong ertönte, nahmen auch die letzten Gäste Platz, der Vorhang ging auf, und jemand hielt eine Rede auf das Geburtstagskind. Der Gratulant hätte gut in die Runde von Alexanders Geschäftspartnern gepasst: ein großer, beleibter Mann um die fünfzig mit ergrautem Haar, der sich selbst weit lieber reden hörte als den professionellen Moderator, der durch den Abend führen sollte. Endlich war die Ansprache zu Ende. Das Musicalprogramm wurde mit einem bekannten Stück aus Cats eröffnet. Ich entspannte mich.
Das hier war eindeutig besser, als in Reihe fünfunddreißig im Theatersaal zu sitzen, womöglich schräg hinter einer Säule und mit nur der halben Bühne im Blick. Die Tanz- und Gesangseinlagen waren vielfältig und professionell. Ein eifriger Tischservice brachte nebenbei Drinks und schließlich ein mehrgängiges Menü. In den kurzen Programmpausen führten wir Smalltalk mit unseren Tischgenossen, die sich als überwiegend sympathisch entpuppten. Allerdings hatte Selina richtiggelegen: Fast alle schrieben entweder für Automobilmagazine oder den Autoteil einer Tageszeitung. Dementsprechend drehten sich die meisten Gespräche um die neuesten Modelle, Drehzahlmessungen, Dummy-Tests und ähnliches.
Ich tat das, worin ich geübt war, Interesse vortäuschen – während ich unter dem Tisch Selinas Hand hielt und mich auf beinahe schon dümmliche Weise glücklich fühlte.
Die Zusage von Adelinde von Knottau-Webern hatte den Druck von mir genommen, der seit Selinas Auftauchen vor meiner Wohnung auf mir gelastet hatte. Die Androhung der NEAA, den Namen meiner Familie im Zusammenhang mit Kunstraub in die Medien zu bringen, war deshalb nicht vergessen, doch ich hatte inzwischen verstanden, dass Selina nur die Mittelsfigur war. Sie hasste ihren Job, aber wenn sie erfolgreich verhinderte, dass Weisskopf die Vase ersteigerte, würde sie innerhalb der NEAA gewiss viel Anerkennung ernten. Vielleicht bekam sie in Zukunft dann weniger unangenehme Aufträge zugeteilt oder fasste sogar den Mut, sich beruflich komplett umzuorientieren. Sie war jung und hatte im Gegensatz zu mir schon eine gewisse Arbeitserfahrung in unterschiedlichsten Branchen. Verglichen mit mir hatte sie gute Karten. Wahrscheinlich fehlte es ihr nur an Selbstvertrauen.
Kurz vor dem Dessert meldete sich meine Blase zu Wort.
»Bin gleich wieder da«, flüsterte ich auf Selinas fragenden Blick hin und erhob mich. Die Toiletten lagen im Keller. Dort unten war niemand außer mir, doch die Stille tat gut. Ich ließ mir das kalte Wasser länger über die Hände laufen als notwendig. Dann griff ich in meine Tasche und zückte den Lippenstift.
Ich hatte ihn noch nicht angesetzt, als mir etwas auffiel: Mein Gesicht leuchtete, als hätte jemand in meinem Kopf eine Glühbirne angeknipst. Es war ein Strahlen, das von innen kam und das so ungewohnt für mich war, dass ich mich verblüfft anstarrte. Automatisch griff ich an meine Stirn. Hatte ich Fieber?
Das war es nicht, ich fühlte mich gut. Sogar auf ganz unglaubliche, irritierende Weise gut. Hätte jemand von mir verlangt, im nächsten Wald einen Baum auszureißen – ich hätte kein Problem darin gesehen.
Aber eigentlich wollte ich in gar keinen Wald, sondern schnell wieder nach oben. Bisher hatte ich mich aus gesellschaftlichen Veranstaltungen mit einem höflichen Lächeln weggeträumt. Nun aber wollte ich zurück – zu Selina.
Noch ganz in dem Gedanken gefangen, wann dieses Bedürfnis, in ihrer Nähe zu sein, so mächtig geworden war, trat ich hinaus in den Gang – und prallte beinahe gegen meine Begleiterin.
»Wir müssen sofort fliehen!«, verkündete sie melodramatisch. »Schnell zu den Mänteln und dann ab durch die Mitte!«
»Hab ich was verpasst?«
»Die PR-Frau von Rolf-Jürgen ist gerade gekommen und hat mir gesagt, dass das Exklusiv-Interview mit dem Geburtstagskind in fünf Minuten losgeht.«
»Oh!« Ich grinste. »Und du willst diesen Vorstandsvorsitzenden eines Automobilkonzerns nicht näher kennenlernen? Vielleicht hätte er einen Job für dich. Der zahlt sicher besser als die NEAA.«
»Danke, kein Bedarf!«
Wir grapschten unsere Mäntel und verließen lachend das Theater.
Draußen in der Kälte waren nur noch wenige Leute unterwegs. Selina schlug zielstrebig die Richtung ein, in der ich das Parkhaus vermutete. Ich ging neben ihr her, die Hände in den Manteltaschen. Unsere Schritte hallten im Gleichklang zwischen den Häuserschluchten. Die Luft roch nach Stadt und auch ein bisschen nach Schnee.
Ich dachte an Selinas Berührung vorhin unterm Tisch, an ihre Zartheit, ihre Wärme. Jetzt, wo ich sie nicht spürte, war mir plötzlich, als wäre ein Teil von mir amputiert worden. Da griff ich nach ihrer Hand und genoss es, dass sich ihre Finger um meine schlangen.
Ein paar Meter gingen wir schweigend, dann blieb sie plötzlich stehen und sah mich an. Ihre dunklen Augen leuchteten im Schein der Straßenlampe. Ich las in ihnen Sehnsucht, Begehren und etwas, was ich nicht zu deuten vermochte. Noch bevor ich dazu kam, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, küsste sie mich, und die Welt stand still.
Eine Gruppe Nachtschwärmer brachte mich schließlich dazu, mich von ihr zu lösen. Augenblicke später erreichten wir das Parkhaus.
*
Das Navi lotste uns zum Hotel. Erst als ich meinen Trolley aus dem Kofferraum nahm, fiel mir auf, dass Selina selbst kein Gepäck dabei hatte.
»Ich sollte nach dem Termin nach Berlin zurückkehren«, erklärte sie. »Der Flug war gebucht.«
»Aber?«
»Musst du das fragen?« Ein unsicheres Lächeln huschte über ihre Lippen. »Ich wollte den Abend mit dir verbringen«, antwortete sie schließlich doch, und wir wussten beide, dass es nicht nur um den Abend, sondern auch um diese Nacht ging.
Das Zimmer war klein und zweckmäßig eingerichtet. Der weinrote Teppichboden und die ockerfarbenen Vorhänge schrien nach einem Umstyling, und das klemmende Fenster, das meinen energischen Lüftungsversuch zum Scheitern brachte, hätten mich normalerweise dazu gebracht, auf ein anderes Zimmer zu bestehen. Doch jetzt hatte ich anderes im Sinn.
Wir küssten uns, zogen uns gegenseitig aus, landeten in Unterwäsche auf dem Bett, küssten uns weiter. Es war nicht wie auf Fuerteventura, wo hitziges Verlangen schnell gestillt werden wollte. Diesmal erkundeten unsere Körper in süßer Langsamkeit, waren zärtlicher und mehr darauf bedacht, die Bedürfnisse der jeweils anderen zu erkennen.
Irgendwann ließ ich von ihren Lippen ab, küsste ihren Hals, das Schlüsselbein, biss sanft in die Brustwarzen, ging tiefer, über den Bauch, bis ich die leichte Salzigkeit ihrer intimsten Stelle schmeckte. Ich wollte sie spüren, in mir aufnehmen, und so beließ ich es nicht bei diesem ersten, tastenden Kuss.
Meine Zunge begab sich auf eine Reise über glatte Hügel und feuchte Schluchten, ehe sie um die geschwollene, rosa Perle kreiste, die sich ihr hungrig entgegenreckte. Selina wand sich unter mir, während ich sie mit meinem Mund liebkoste, und als sie mit einem Stöhnen zum Höhepunkt kam, leckte ich sie weiter, weil ich einfach nicht genug von ihr bekam.
Erst, als sie sich aufsetzte und zwischen meine Beine schob, konnte ich akzeptieren, dass es nun an mir war, verwöhnt zu werden. Genau das tat sie auf so kunstvolle, raffinierte Weise, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Ihre Zunge tanzte so geschickt zwischen meinen Beinen, dass mein ganzer Körper innerhalb kurzer Zeit in Flammen stand. Ich hörte mich selbst stöhnen, klammerte mich mit den Händen am Leintuch fest, sehnte mich nach jenem kostbaren Augenblick, an dem sich meine Lust wie eine Explosion entladen und ich für teure, köstliche Sekunden abheben würde.
Ich war so kurz davor, als sie plötzlich von mir abließ.
»Dreh dich«, forderte sie mit heiserer Stimme. »Dreh dich auf den Bauch.«
»Nein!« Ich setzte mich abrupt auf. Meine Mitte pulsierte, mein Körper brannte, doch was sie da von mir verlangte, ging über das hinaus, wozu ich mich bereit fühlte.
»Warum?« Selina kniete noch immer zwischen meinen Beinen. Die Irritation über meine entschiedene Weigerung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Auf dem Bauch zu liegen bedeutete, verwundbar zu sein. Wehrlos. Ausgeliefert. Solange ich sie im Blick hatte, konnte ich mich wehren, weglaufen, mich abschotten. War sie hinter mir, gab ich die Kontrolle vollständig auf.
Selina schob sich neben mich und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.
»Versuch es einfach, Lena«, raunte sie mir ins Ohr. »Es wird wunderbar. Ich verspreche es. Wenn nicht, darfst du mich anschließend foltern.«
Damit brachte sie mich unweigerlich zum Lachen. Die Beklommenheit trat den Rückzug an. Nun kam ich mir lächerlich vor.
Was sollte schon sein, hier in diesem Zimmer, mit einer Frau, die kleiner und zarter war als ich?
Ich bezwang meinen Widerstand und drehte mich auf den Bauch. Sie legte sich auf mich wie eine warme, weiche Decke. Ihr langes Haar kitzelte am Hals. Ich fühlte ihre weichen Brüste auf meinem Rücken und ihre feuchte Scham auf meinem Po.
Sie schob mir die Haare zur Seite, küsste meinen Nacken – kleine, heiße Küsse, die meine abgeklungene Erregung wieder schürten, vor allem, da sie nun ihre Hand zwischen das Leintuch und meine Mitte schob und sich auf mir zu bewegen begann.
Sie hatte nicht zu viel versprochen: Es war wunderbar. Unter dem Gewicht unserer Körper presste sie ihre Hand gegen mich und wir bewegten uns im selben Rhythmus. Es war, als wären wir eins geworden, noch ehe sich mein Körper versteifte und ich mit einem langen Keuchen zum Höhepunkt kam. Selina blieb auf mir liegen. Ihr schneller Herzschlag und ihr warmer Atem an meinem Ohr hatten längst etwas Vertrautes. Ich fühlte mich geborgen und sicher und staunte über mich selbst. Selina erregte mich nicht nur, sie berührte mich – nicht nur äußerlich, sondern in meinem Innersten. Ich fühlte mich ihr nahe.
Wir lagen so noch einen Moment, dann ließ sie sich neben mich gleiten und streichelte mir über die Wange. In ihrem Blick lag so viel Gefühl und Zuneigung, dass ich einen Moment lang die Augen schließen musste.
»Was ist das für ein Ding bei dir?«, hörte ich sie leise fragen.
Ich öffnete die Augen, runzelte die Stirn.
»Glaubst du, mir wäre es nicht aufgefallen?«, fragte sie. »Im Restaurant wandert dein Blick von einer Ecke zur anderen. Jeden Raum, den du betrittst, untersuchst du nach Ausgängen, du checkst Personen ab, als könnte sich irgendeine davon plötzlich in … keine Ahnung … eine Art Werwolf verwandeln. – Warum?«
Weil Peter mich so trainiert hat in all diesen Monaten, in denen ich nur ein Ziel hatte: mit Farah durchzubrennen, sobald sich die Chance bot. Weil ich seit unserer Trennung in Berlin nur noch mit dem Schlimmsten rechnete. »Weil ich auf alles vorbereitet sein will. Ich hasse Überraschungen.«
»Du hasst es, keine Kontrolle über eine Situation zu haben«, brachte es Selina nüchtern auf den Punkt. »Das macht dir Angst.«
»Ich weiß nicht, ob es Angst ist. Eher Abneigung. Ich will die Zügel in der Hand behalten.«
»Hört, hört, hier spricht die Reiterin! Was lustig ist, denn beim Reiten ist eben nicht alles vorhersehbar.«
»Da irrst du.« Ich stupste sie mit meinem Finger auf die Nase und lächelte. »Ich plane sogar die Anzahl der Galoppsprünge zwischen zwei Hindernissen. Deshalb schätze ich das Springreiten. Im Grunde lässt sich alles genau berechnen: die Hindernishöhe, die Absprungstelle …«
»Und doch war da dein Unfall«, hielt mir Selina entgegen.
»Da hatte ich mich verrechnet.«
Das stimmte nicht ganz. Ein schmieriger Boden, ein nicht ganz perfekter Beschlag und ein unruhig im Wind flatterndes rot-weißes Band hatten zu meinem Sturz geführt.
»Pferde und Menschen bleiben unkontrollierbar«, beharrte Selina unbarmherzig. »Es ist unmöglich, sich gegen alle Eventualitäten abzusichern, auch wenn du dich noch so sehr bemühst.« Sie drückte mir einen Kuss auf die Lippen. »Und es ist doch ganz schön, wenn man überrascht wird, oder? Andernfalls geschieht sonst so gut wie nichts, was noch Salz in die Suppe bringt!«
»Meiner Erfahrung nach passieren meist nur Katastrophen.« Ich fuhr mit gespreizten Fingern durch ihr Haar. »Und auf die kann ich gern verzichten.«
»Und was ist eine Katastrophe, nach deiner Definition?«
»Hintergangen zu werden.« Meine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Von jemandem, dem ich vertraut habe, belogen und ausgenutzt zu werden.«
Selina sagte eine ganze Weile nichts. Da sie die Augen geschlossen hielt, nahm ich irgendwann an, sie wäre eingeschlafen. Ich hatte gerade die Nachttischlampe ausschaltet, als ich sie in die Stille des Zimmers hinein sagen hörte: »Mir ist wichtig, dass du etwas weißt, Lena: Ich liebe dich.«
Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag. Es waren Worte, die ich noch nie aus dem Mund einer Frau gehört hatte, Worte, die eine regelrechte Panik in mir aufstiegen ließen. Ich setzte an, um zu protestieren, doch ihr Finger verschloss mir die Lippen und legte meinen Widerstand auf Eis.
»Dass ich mich in dich verliebe, war nicht geplant«, fuhr sie fort. »Aber ich kann nichts daran ändern. Meine Gedanken kreisen ausnahmslos um dich, wenn du nicht in meiner Nähe bist. Ich würde am liebsten alles von dir wissen, alles mit dir teilen, alle Probleme für dich lösen. Vermutlich geht es dir nicht so, und das muss ich akzeptieren. Aber ich wollte … dass du es weißt.«
Ihre Stimme brach, und sie schloss wieder die Augen. Im Mondlicht sah ich eine einzelne Träne, die in qualvoller Langsamkeit über ihre Wange rann. Sanft strich ich sie weg.
Mein Herz pochte wie wild. Ein Teil von mir kämpfte gegen die Panik, die sich wie Gift ausbreitete. Ein anderer war tief berührt von ihren Worten. Sie waren ehrlich gemeint. Und diese schonungslose, entblößende Ehrlichkeit war das, was mich am meisten aufwühlte.
Ich mochte Selina. Ich war gern mit ihr zusammen. Ich wollte weiterhin mit ihr schlafen. Aber selbst diese Erkenntnisse konnte ich mir nur schwer eingestehen. Die Vorstellung, sie bald nicht mehr zu sehen, war schlimmer. In zwei Tagen würde die Versteigerung stattfinden; wenn sie über die Bühne gegangen war, gab es keinen geschäftlichen Grund mehr, den Kontakt aufrechtzuerhalten.
Die Kluft, über die mich meine Verlustangst trieb, war gefühlt breiter als der Ärmelkanal.
»Ich würde mich freuen, wenn wir uns in Zukunft auch noch sehen.« Obwohl ich mich bemühte, locker zu klingen, gelang es nicht ganz. »Wenn du mich ab und zu besuchst. Oder ich dich. Wir können auch irgendwann zusammen Urlaub machen.«
Ich erwartete hoffnungsvolle Freude oder zumindest Zuversicht, doch was ich sah, war Schmerz. Er sprang auf mich über wie ein Virus und erstickte meine Angst mit Traurigkeit.
Falls ich jemals zu Empathie und Emotionalität fähig gewesen war, dann hatte Farah diese Fähigkeiten abgetötet. Es war wohl besser, wieder zu meiner gewohnten Strategie zurückzukehren: Nicht persönlich werden. Gefühle waren etwas für andere.
Selina drehte mir schließlich den Rücken zu, und ich tat es ihr gleich. Ich fühlte mich schon jetzt einsam und verlassen, wollte mit ihr reden, klarstellen, dass mein Angebot ernst gemeint war und ich sie nicht verletzen wollte. Aber mir fehlten die Worte.
Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Als ich am nächsten Morgen gegen halb sieben Uhr früh vom Geräusch eines Staubsaugers vor der Zimmertür erwachte, war Selina verschwunden.