Bettina und Kamon
Der Saal des Auktionshauses füllte sich. Ich kannte kein einziges Gesicht, was nicht nur daran lag, dass mir die Szene unvertraut war. Die Leute die hier als interessierte Bieter und Kunstliebhaber auf den gepolsterten Stühlen Platz nahmen, waren Statisten.
Dann entdeckte ich Kattnig. Mit einem unmerklichen Nicken signalisierte er mir, dass er mich ebenfalls bemerkt hatte, ehe er sich breitbeinig in der ersten Reihe niederließ.
Im Unterschied zu ihm kam Adelinde von Knottau-Webern, gekleidet in ein bodenlanges Blümchenkleid mit Reifrock, mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.
»Meine liebe Frau von Marensperg-Töbeln«, begrüßte sie mich, als wären wir alte Freundinnen. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«
Inzwischen wusste ich, dass sie unter ihrem wahren Namen auftrat. Adelinde war eine von Dutzenden Knottau-Weberns in Deutschland, einem verhältnismäßig jungen Adelsgeschlecht, das im 18. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt wurde. Entgegen dem Wunsch ihrer Familie hatte sie eine Schauspielausbildung abgeschlossen und war in ein paar Provinztheatern aufgetreten, ehe sie auf Pferdezucht umgesattelt hatte.
Diese Biographie machte sie mir schon fast sympathisch. Außerdem hielt ich sie für eine äußerst brillante Darstellerin. Schließlich hatte ich ihr die entrückte Adelige vorbehaltlos abgenommen.
»Sie haben das mit der chinesischen Regierung sicher geklärt, oder nicht?«, schob sie eifrig nach. »Sie erinnern sich, dass ich erst eine Entschuldigung seitens eines Regierungsvertreters erwarte, was Tibet und die Uiguren betrifft!«
Damit hatte ich gerechnet. Das Lächeln, mit dem ich sie bedachte, war voller Zuversicht und Verständnis.
»Aber natürlich. Die Botschaft hat mir ihre Zusicherung gegeben.«
Ich sah Irritation in ihren Augen und schmunzelte in mich hinein. Mein Plan, restlose Verwirrung zu stiften, lief an.
»Und wie und wann soll das geschehen?« Das tapfere Bemühen, mit der Wendung abseits des Briefings zurechtzukommen, war ihr anzumerken. »Die Auktion … beginnt in einer Viertelstunde.« Sie warf einen nervösen Blick auf ihre grazile Armbanduhr. »Ich biete nur mit, wenn sich China uneingeschränkt zur Einhaltung der Menschenrechte bekennt! Das habe ich von Anfang an gesagt!«
Wieder lächelte ich süßlich.
»Wie gesagt, die Botschaft hat es mir zugesichert.«
Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Bettina in schwarzem Designerkostüm mit Fedora-Hut den Saal betrat, entschuldigte mich bei Adelinde und tat so, als wollte ich die Toilette aufsuchen. In Wahrheit suchte ich hinter einer Säule Schutz vor den zweifelsohne im ganzen Saal versteckten Kameras.
Bettina steuerte auf mich zu, und einen Moment lang fürchtete ich, sie hätte meine Anweisungen nicht verstanden. Keine Kontaktaufnahme. Offiziell kannten wir uns nicht. Niemand sollte Verdacht schöpfen, am allerwenigsten Claudio, den ich gut getarnt unter den Anwesenden vermutete.
Doch meine Reittrainerin war viel zu intelligent, um ihre Tarnung als mysteriöse Lady in Black auffliegen zu lassen. Wie zufällig ließ sie einen ihrer schwarzen Handschuhe fallen.
»Und du bist sicher, dass diese Versteigerung keine Rechtsgültigkeit hat?«, flüsterte sie mir zu, während sie sich nach ihm bückte. »Ich will nicht auf hunderttausenden Euros Schulden sitzenbleiben!«
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ich sie und tat so, als spräche ich in mein Handy. »Dazu wird es nicht kommen.«
Sie wählte einen Platz links am Rand. Dass sie aufgeregt war, verriet ihr nervöses Blinzeln. Ich rechnete ihr hoch an, wie schnell sie sich hatte überreden lassen, am diesem Set mitzuwirken, bei dem nun ich die Regie führen würde.
Mein Handy klingelte, kaum dass ich es wieder eingesteckt hatte.
»Wo ist Weisskopf?«, wollte Kattnig grußlos wissen.
»Er wird kommen«, versicherte ich.
»Ich werde ihn töten.«
Ging es noch plakativer?
»Das sagten Sie schon«, erwiderte ich gelassen. Ich trat hinter der Säule hervor. Kattnig saß noch immer ganz vorne, hielt das Handy ans Ohr und spähte gespielt nervös in den Saal. Für Bruchteile von Sekunden trafen sich unsere Blicke.
»Ich rechne damit, dass Sie klug genug waren, die Polizei aus dem Spiel zu lassen!«
Was hatte Claudio in seinem Drehbuch niedergeschrieben? Was glaubte er, wie ich reagieren würde?
»Wenn die Polizei Bescheid wüsste, säßen Sie nicht hier«, entgegnete ich nüchtern.
Meine Antwort schien Kattnig vorläufig zufriedenzustellen. Er legte auf und richtete seinen Blick nach vorne auf die kleine Bühne, wo sich Auktionator und Sensalin gerade einrichteten.
Ich sah mich um. Es waren nur noch wenige Stühle unbesetzt. Ich nahm an, dass man den Stuhl in der ersten Reihe rechts bewusst frei gelassen hatte – für Weisskopf und seinen blutigen Showdown.
Als sich die Flügeltüren des Auktionssaals schlossen, glänzte das Mordopfer in spe noch immer mit Abwesenheit. Allerdings war Kamon in Erscheinung getreten, Student der Politikwissenschaften und Aushilfskellner bei meinem Lieblingsthailänder ums Eck. Im etwas zu knapp sitzenden Anzug seines älteren Bruders wirkte er ungewohnt erwachsen und seriös. Die dezent gemusterte Krawatte und die noble Aktentasche, mit denen ich ihn zusätzlich ausgestattet hatte, rundeten sein Erscheinungsbild ab.
Ich sah, wie er Adelinde von Knottau-Webern ansprach. Zwar hörte ich nicht, was er zu ihr sagte, wusste es aber auch so. Schließlich hatte ich selbst den Text für ihn als chinesischen Diplomaten entworfen. Ich beobachtete, wie Adelinde von Knottau-Webern kurzfristig die Gesichtszüge entglitten, als er sich bei ihr als Regierungsattaché vorstellte und ihr eine hochoffizielle Visitenkarte überreichte, die wir heute in aller Frühe an meinem Computer entworfen und auf Hochglanz-Karton ausgedruckt hatten.
Adelinde von Knottau-Webern wirkte ziemlich verdutzt, was ich nachvollziehen konnte. Kamon hatte ihr immerhin gerade ein Umdenken seiner Regierung im Umgang mit Menschenrechten und Minderheiten in China zugesichert und der erlauchten Dame obendrein angeboten, sich als ausländische Sonderbotschafterin bei einem mehrmonatigen Aufenthalt im Land selbst davon zu überzeugen.
Glaubte sie ihm, oder roch sie Lunte? – Nichts in ihrem Gesicht deutete auf letzteres hin. Sie sah einfach nur verwirrt aus. Mit einem gewissen Amüsement nahm ich zur Kenntnis, wie sich Kamon gelassen an ihrer Seite niederließ. Ich konnte sehen, wie unbehaglich sie sich neben meinem Fake-Diplomaten fühlte.
Ziemlich sicher hatte auch Claudio inzwischen beobachtet, dass hier irgendetwas im Busch war. Doch ohne seine Tarnung auffliegen zu lassen, würde er jetzt und hier nicht eingreifen können.
Mit einem Gongschlag wurde die Auktion eröffnet. Der Auktionator sprach ein paar kurze Worte, dann kam auch schon das erste Stück zur Versteigerung – eine Statue.
Mein Handy vibrierte in der Tasche.
WO ist Weisskopf, schrieb Kattnig und setzte dahinter statt eines Fragezeichens fünf Ausrufezeichen. Ich verzichtete auf Antwort.
Dann war es endlich soweit. Die Vase wurde von einem Saaldiener in weißen Handschuhen auf die Bühne getragen und in einem Glaskasten ausgestellt. Vor ein paar Stunden, als ich sie zum ersten Mal aus nächster Nähe gesehen hatte, war sie mir größer und imposanter erschienen. Aus der Ferne wirkte sie wieder ziemlich kitschig. Ich konnte gut verstehen, dass mein Vater sie abstoßen wollte.
Der erste Bieter, ein untersetzter Mann in Reihe drei, hatte gerade die Hand gehoben, als sich eine der Flügeltüren öffnete und Weisskopf den Raum betrat. Zielstrebig schritt er nach vorn und setzte sich auf den ihm zugedachten Platz.
Prompt ging ein Ruck durch Kattnig, der auffälliger nicht hätte sein können. Ich griff in meine Tasche nach einem kleinen Gegenstand, der noch großes bewirken würde. Noch aber war es nicht soweit.
Bettina hob jetzt die Hand. Das Angebot für die Vase stand damit bei 12.000 Euro. Ein älterer Herr, graues Haar, grauer Anzug, Gehstock neben dem Stuhl, begann sich ebenfalls an der Auktion zu beteiligen. 12.500, 13.000, 14.000 Euro. Bettina trieb den Preis kontinuierlich nach oben.
20.000 Euro.
Nun stieg Adelinde von Knottau-Webern ein. Der ältere Herr bot 25.000, sie ging auf 30.000, er steigerte auf 35.000 Euro. Weisskopfs Strohmann!
40.000 Euro. Bettina wirkte so routiniert als schwerreiche Bieterin, dass ich unwillkürlich schmunzeln musste. Ihre anfängliche Unsicherheit hatte sich anscheinend gelegt.
50.000 Euro. Das war wieder Weisskopfs Strohmann.
60.000 Euro. Adelinde von Knottau-Webern.
Als die 100.000-Euro-Grenze überschritten wurde, ging ein Raunen durch den Saal.
Bettina bot 120.000 Euro.
Mit Genuss malte ich mir aus, wie sich Claudio fragte, wer diese Frau war, die sein Filmset offenbar für eine echte Auktion hielt. Sicher suchte er fieberhaft nach einer Möglichkeit, sie zu loszuwerden, ohne viel Aufsehen zu erregen.
140.000 Euro. Das war wieder Adelinde von Knottau-Webern.
Was aber war eigentlich mit Kattnig? Ich schielte zu ihm hinüber.
Sein Stuhl war leer.
Verdammt! Dass der Mörder den Tatort vor der Tat verließ, war nicht vorgesehen!
180.000 Euro. Weisskopfs Strohmann gab nicht auf.
Adelinde von Knottau-Webern auch nicht. 200.000 Euro.
220.000 Euro. Das war Bettina.
260.000 Euro. Weisskopfs Strohmann hob die Hand.
Der Preis stieg und stieg. Adelinde von Knottau-Webern bot fleißig mit, schien sich aber ebenfalls keinen Reim auf die Unbekannte in Schwarz machen zu können, die das Drehbuch völlig durcheinanderbrachte. Auch der Weisskopf-Strohmann schien verwirrt.
Ich stellte mir vor, dass Claudio inzwischen fast durchdrehte.
Nach zwanzig Minuten hatte die Vase immer noch keinen neuen Besitzer. Der Preis lag inzwischen bei unfassbaren 420.000 Euro.
Bei 450.000 Euro – das Gebot von Bettina – war für Starregisseur Claudio LePré endgültig Schluss. Irgendwie hatte er seinen Akteuren eine Botschaft zukommen lassen, denn weder Weisskopfs Strohmann noch Adelinde von Knottau-Webern boten noch mit.
»450.000 Euro zum ersten …« Der Auktionator sah sich im ganzen Saal um. »450.000 Euro zum zweiten …«
Bettina drehte sich zu mir um. Ein panisches Flackern lag in ihren Augen. Offenbar war es mir nicht wirklich gelungen, sie davon zu überzeugen, dass für sie im Zweifelsfall keine Kosten anfielen.
»450.000 Euro zum dr–«
»Raubkunst! Raubkunst!«, schrie plötzlich eine Stimme aus den Zuschauerreihen, und ich erkannte die falsche Rebecca Chan. »Die Auktion muss sofort gestoppt werden!«
»Was soll das, Frau Chan?« Weisskopfs Strohmann meldete sich erstmals nicht nur per Handzeichen zu Wort. Er war aufgestanden und ging, gestützt auf seinem Gehstock, nach vorn. »Laut Dreh-«, er unterbrach sich, »eh, laut Auktionskatalog ist die Ware von Ihnen geprüft und die Herkunft für einwandfrei beurteilt worden!«
Du lieber Himmel, wie platt. Nun hielten sich nicht mal mehr Claudios Schauspieler an ihren Text.
Ein anderer hielt sich allerdings auch nicht länger an die Vorgaben. Kamon, voll und ganz in seinem Element, trat nach vorne und verdrängte den Auktionator vom Rednerpult.
»Im Namen der chinesischen Regierung, im Auftrag von Staatschef Xi Jinping, Ministerpräsident Keqiang und des nationalen Volkskongresses fordere ich die sofortige Rückgabe unseres Eigentums!«
Alle starrten ihn an, mich eingeschlossen. Kamon, der nur eineinhalb Stunden Vorbereitungszeit für seine Rolle gehabt hatte, beeindruckte mich schwer. Ich würde mir nie wieder Essen von ihm servieren lassen können, ohne an diese Szene zu denken.
Leider glaubte er, noch eines draufsetzen zu müssen.
»Diese Vase«, dozierte er, während er mit langen Schritten über die Bühne ging, »hat meinem ehrenwerten Urgroßvater Quianlong gehört. Sie stand mit Mohnblumen befüllt in seinem Schlafzimmer, als die britischen Truppen den Palast plünderten! Europa hat schwere Schuld auf sich geladen. Der chinesische Staat wird nicht ruhen, ehe das letzte geraubte Artefakt in die Heimat zurückgekehrt ist!«
Irgendwer im Saal prustete los. Ein anderer tarnte sein Lachen als Hustenanfall.
Adelinde von Knottau-Webern war nun auch vorgetreten und ruderte dort hilflos mit den Armen. Anscheinend fehlten ihr die Worte. Weisskopf hatte sich von seinem Stuhl erhoben und starrte mit gerunzelter Stirn auf das Geschehen.
»Im Namen des chinesischen Staates ordne ich die sofortige Herausgabe dieser Vase an!«, befahl Kamon mit vor Autorität berstender Stimme, und der Schauspieler, der den Auktionator spielte, stotterte ein klägliches »Ähmmm … hmm …« ins Mikrophon.
Ich barg mein Gesicht in den Händen. Lena Roßlochs geplanter Actiondreh verkam zur Komödie. Immerhin: Claudios künstlerische Intention, wie immer diese ausgesehen hätte, war dahin.
Vorne näherte sich die Charade einem ungeahnten Höhepunkt.
Adelinde von Knottau-Webern besann sich auf ihre Rolle als Menschenrechtsaktivistin und faselte etwas von hunderttausend Uiguren, die in Lagern gefangen gehalten wurden. Mein Aushilfskellner ließ sie mit staatsmännischer Härte abblitzen und vergaß in seinem politischen Höhenflug ganz, dass er dieser Frau zuvor noch angeboten hatte, als Sonderbotschafterin tätig zu werden. Adelinde von Knottau-Webern allerdings auch. Dafür erinnerte sie sich wieder daran, dass sie darauf bestanden hatte, Weisskopf nicht begegnen zu müssen, denn nun zeigte sie mit dem Finger auf ihn, griff sich theatralisch ans Herz und rief: »Man hatte mir versichert, dass Sie nicht herkommen! Nur deshalb bin ich gekommen. Es ist mir unerträglich, mit einem Schurken wie Ihnen im selben Raum zu sein!«
Weisskopf ließ sich indes nicht beirren. Er trat jetzt auch auf die Bühne und steuerte schnurstracks auf das Exponat zu. Automatisch griff ich wieder nach dem kleinen Plastikteil mit dem Funksender. Sollte der Mann sich die Vase tatsächlich grapschen, würde nicht nur die Alarmanlage des Auktionshauses losgehen …
Weisskopfs Finger berührten kaum den schützenden Glaskasten, als plötzlich Kattnig aus einem Seitenzugang auf die Bühne platzte.
»Weisskopf, du Schwein!«, brüllte er im schönsten Bühnendeutsch – und zielte mit einer Pistole auf sein Opfer, das erschrocken zurückwich. »Du hast meine Tochter auf dem Gewissen!«
Er fuchtelte konfus mit der Pistole herum. Schauspielerische Erfahrungen als Bösewicht oder Polizist besaß dieser Darsteller sichtlich noch keine.
Weisskopf und er vollführten einen merkwürdigen Tanz aus Zurückweichen und Sichannähern, dessen Zweck mir erst klar wurde, als Kattnig ins Publikum schrie: »Frau Roßloch, diesen Mord haben Sie zu verantworten!«
Okay, jetzt hatte ich begriffen: An dieser Stelle hätte ich wohl auf die Bühne stürzen und eingreifen sollen. Möglicherweise hätte ich das sogar getan, wäre die Situation real gewesen. So aber blieb ich ruhig sitzen.
»Weisskopf, das ist Ihr Ende!« Kattnig drückte den Abzug.
Und ich den Auslöser.
Eine ohrenbetäubende Explosion erschütterte den Saal. Der Boden bebte. Das Publikum brach in Geschrei aus. Einige gerieten in Panik und kreischten, als ginge es um ihr Leben. Die meisten flüchteten zum Ausgang, rissen die Flügeltüre auf, stürzten hinaus.
Die Bühne vor mir war in dichten Rauch gehüllt, was mich irritierte. Was war da los? Es hielt mich nicht länger auf meinem Platz.
Eigentlich hätte es nach dem Knall bunte Papierschnipsel regnen müssen! Aus einer Konfettikanone, versteckt im Inneren der Vase, die per Knopfdruck ausgelöst wurde. Konstruiert hatte das Ganze der gewiefte Bastler, dem ich bereits meine Licht- und Soundanlage in der Wohnung verdankte. Ich hatte die Box mit den Schnipseln mit eigenen Augen gesehen, sie sogar selbst in der Vase verstaut!
Der Rauch verzog sich.
Kattnig hielt noch immer die Pistole in der Hand. Ihr Lauf zeigte gen Boden. Adelinde von Knottau-Webern lehnte an der Wand und tupfte sich mit einem Taschentuch Schweiß und Staub von der Stirn. Kamon wirkte trotz seines dunkleren Teints kalkweiß. Der wortgewandte Diplomat war dem kleinen Kellner und Studenten gewichen.
Weisskopf stand genau dort, wo er sich vor der Explosion befunden hatte. Allerdings breitete sich auf seiner Brust ein dunkelroter Fleck aus. Die Patrone mit Theaterblut war plangemäß geplatzt, nur hatte der frisch Erschossene vergessen, seinen bühnenreifen Tod zu sterben. Stattdessen starrte er jetzt auf den Scherbenhaufen nur wenige Schritte vor ihm.
Die chinesische Vase. Sie lag in Trümmern.
Das Exponat der Sammlung meines Vaters … Rollengemäß entrang sich ein erstickter Laut meiner Kehle. Meine unterdrückte Verzweiflung klang recht gelungen.
»Du willst mich aufs Kreuz legen? – Dann musst du nächstes Mal früher aufstehen, Prinzessin!«
Ich fuhr herum und schaute in das Gesicht des buckeligen, kleinen Mannes, der als Erster geboten, sich dann aber zurückgezogen hatte. Sekunden verstrichen, ehe ich hinter der nahezu perfekten Maskerade Claudio erkannte. Er starrte mich an, ohne einen einzigen Gesichtsmuskel zu bewegen. Eisern erwiderte ich seinen Blick.
Wortlos sagten wir uns in diesem Augenblick alles, was es zu sagen gab: Er hatte mein Vertrauen missbraucht, ich hatte Torrid Target torpediert. Zwischen uns würde nichts mehr so sein wie früher.
Er war es, der sich zuerst abwandte.
Ich sah ihn zwischen seinen Komparsen verschwinden.
»Okay, Leute, wir sind fertig für heute!«, hörte ich ihn energisch rufen. Während aus allen Ecken, Verstecken und Fugen nun Kameraleute und Tontechniker hervorkrochen, wollte ich einfach nur weg. Und tat genau das: Ich flüchtete.
*
KURIER.at, 16. Jänner 2020, 16:32 Uhr
Explosion bei Dreharbeiten zu LePré-Film
Wien. Bei Dreharbeiten zu ›Torrid Target‹, dem neuen Film-Projekt von Starregisseur und Oscar-Preisträger Claudio LePré, kam es im Auktionshaus in der Dorotheergasse zu einem Vorfall, bei dem eine antike Vase zerstört wurde. Die Anwesenden kamen mit dem Schrecken davon.
Es war das klassische LePré-Setting: ein realer Ort, versteckte Kameras, gebriefte Schauspieler und ein streng geheimes Drehbuch, in dessen Zentrum eine Person steht, die unwissentlich mitwirkt. In diesem Fall eine Frau, wie LePré der Redaktion verriet. Die inszenierte Auktion war bereits angelaufen, als eine Explosion den Saal erschütterte. Anwesende sprachen von »Zuständen wie an einem Kriegsschauplatz«. Die Berufsfeuerwehr war Minuten später mit Großaufgebot vor Ort, Einsatzkräfte von Polizei und Rettung kümmerten sich um Menschen, die einen Schock erlitten hatten. Das Auktionshaus wurde komplett geräumt und einem umfassenden Sicherheitscheck durch Brandschutzexperten unterzogen. Nach einer Stunde dann Entwarnung; der Geschäftsbetrieb konnte wieder aufgenommen werden. Die Asiatika-Auktion ging später ohne Zwischenfälle über die Bühne – allerdings mit einem Artefakt weniger als geplant.
Die zerstörte Vase entstammte der Qing-Dynastie. Der Besitzer des Stücks, Heinrich Eberhard von Marensperg-Töbeln, reagierte betroffen: »Kein altes Kunstwerk verdient es, auf so respektlose Art und Weise zerstört zu werden. Ich habe nie meine Einwilligung dazu gegeben, dass mein Eigentum als Requisit bei Filmarbeiten zum Einsatz kommt. Ich bin zutiefst enttäuscht, dass die Geschäftsführung des Auktionshauses dies ohne Rücksprache zugelassen hat, und werde rechtliche Schritte gegen sie und die Film-Firma einleiten.«
Der zuständige Brandschutzmeister spricht von einer Miniatur-Bombe, die im Inneren der Vase versteckt war und per Fernzünder aktiviert wurde. Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln.
Und Claudio LePré? – Der Regisseur sieht die Aufregung gelassen. »Ich habe keine Ahnung, wie eine Bombe in die Vase gelangt ist«, behauptet er. »Der Film bekommt durch dieses imposante Finale aber gewiss eine andere Note.« Zu der Frage, wer hinter dem Sabotage-Akt stecken könnte, wollte sich der 34-Jährige nicht äußern. Ob der Film in dieser Form in die Kinos kommt, ist wie bei allen Werken des Regisseurs zunächst noch ungewiss. »Ich bin aber überzeugt, dass wir uns mit der Torrid Target-Hauptperson einigen werden. Sie ist eine Geschäftsfrau – auch wenn sie das vielleicht noch nicht weiß.«
Mehr will LePré über die mysteriöse Hauptperson nicht verraten. Doch wer ihn kennt, weiß: Der für seine kunstvolle Verknüpfung von Spielfilm und Dokudrama berühmte Regisseur überlässt selten etwas dem Zufall. Und so liegt der Verdacht nahe, dass auch die Explosion nicht etwa einer Panne geschuldet war. Was könnte für bessere PR sorgen als ein Feuerwehr-Großeinsatz mitten in Wiens Innenstadt?