Agata Jankowski

Vier Wochen später war meine Wut noch nicht verraucht. Ich fühlte mich schrecklich enttäuscht. Wenn ich nachts aufschreckte, lag ich stundenlang wach und grübelte. Erst Farah, und nun ClaudioWarum war ich zum zweiten Mal in meinem Leben so schlimm verraten und betrogen geworden?

Claudio hatte mir fünf Tage nach dem Vorfall im Auktionshaus eine Nachricht auf der Mobilbox hinterlassen. Er wolle mit mir reden, ich solle ihn zurückrufen. Ich tat es nicht. Danach rief er täglich an und schickte Mails, in denen er immer wieder um ein Gespräch bat. Ich ignorierte auch sie und blockierte ihn schließlich.

Stattdessen ließ ich ihm von der Rechtsanwaltskanzlei, die ich engagiert hatte, ein Schreiben zukommen, in dem er darüber informiert wurde, dass sich eine Anklage gegen ihn wegen Verletzung der Privatsphäre in Vorbereitung fand. Er reagierte darauf, indem auch er seine Anwälte ins Feld schickte.

Was meine Wut Tag und Nacht am Kochen hielt, war die Erkenntnis, dass diese LeuteLeute, denen ich mein Vertrauen geschenkt hatte und für die ich alles getan hätte! – sich überhaupt nicht bewusst waren, was sie in mir zerstörten. Da war Claudio nicht anders als Farah.

Als Peter damals in Berlin aufgetaucht war, hatte ich noch im­mer daran geglaubt, er würde uns außer Landes schaffen. Farah und mich. Ich kapierte tatsächlich erst, als er seinen Arm um Farah legte und die beiden sich demonstrativ küssten.

Danach wurde ich nie wieder die, die ich vorher war. Ich vertraute niemandem mehr. Alexander musste diese Barriere in mir gespürt haben, dachte aber möglicherweise anfangs, er könnte mich schon irgendwie dazu bringen, mich zu öffnen. Doch ich zog mich immer mehr zurück, während ich nach außen dem Bild entsprach, das die Gesellschaft von mir erwartete: das der ewig Lächelnden an Alexanders Seite.

Ich verlor mich in dieser Rolle. Die Oberflächlichkeit der Menschen, mit denen ich während meiner Ehe zu tun hatte, gab mir eine gewisse Sicherheit. Ich wurde in Ruhe gelassen. Meine verwundete Seele interessierte niemanden. Nur wenn ich im Sattel saß, fühlte ich mich manchmal für kurze Zeit unbeschwert. Meistens aber fühlte ich mich ungeliebt, missverstanden und furchtbar alleine.

Vielleicht wäre ich in diesen Momenten verzweifelt. Doch es gab in meinem Leben einen Lichtblick, jemanden, der auf mich einging, ohne mich je unter Druck zu setzen, jemanden, der immer zu spüren schien, wenn ich ihn brauchteden einzigen Menschen, dem ich vertraute: Claudio. Und nun hatte gerade er mich hintergangen, mich manipuliert, angelogen, abgehört, bespitzelt, gefilmt! Er hatte unsere Freundschaft verraten für seinen persönlichen Erfolg! Ich blieb allein zurück, mit einem Herzen, das nie wieder irgendetwas anderes empfinden konnte als Abscheu für diejenigen, die mir so viel Elend angetan hatten.

Ich ging weiterhin morgens joggen oder, wenn das Wetter nicht mitspielte, ins Fitnessstudio. Am Nachmittag fuhr ich in den Stall und drehte ein paar lustlose Runden auf Hector. Ansonsten kapselte ich mich von der Außenwelt ab. Ich hatte keine Lust mehr, mich mit irgendjemand zu treffen. Nicht einmal, wenn Jo anriefwas seit dem Showdown im Auktionshaus vier Mal der Fall gewesen war –, hob ich ab. Auch sie hatte sich illoyal verhalten.

Zwischen meiner Familie und mir herrschte ebenfalls Funkstille. Für Vater war Claudio schon immer ein rotes Tuch gewe­sen. Er hatte diese Freundschaft nie gutheißen können. Nun, da die chinesische Vase ausgerechnet im Rahmen von Claudios Dreh­arbeiten zerbrochen war, hatte mein Vater Eins und Eins zusammengezählt und unterstellte mir, ich sei an dem Plan, sie zu zerstören, beteiligt gewesen.

Wieder hatte ich ihn enttäuscht. Er ließ mich das ungeschönt wissen. Ich verteidigte mich nicht, denn im Grunde hatte er ja recht, auch wenn ich tatsächlich nur eine Konfetti-Bombe in der Vase platziert hatte. Dass ihm der Verlust plötzlich so zusetzte, gehörte zu den klassischen Reaktionen meines Vaters: Dingen, die ihm zuvor egal waren, maß er einen enormen persönlichen Wert zu, sobald sie ihm genommen wurden.

Sein Plan, mich zur Kuratorin zu machen, war mittlerweile vom Tisch. Mein Vater leitete mir kurzerhand eine Korrespondenz mit einem promovierten Kunsthistoriker weiter, aus der klar hervorging, dass dieser ab April im Chefsessel sitzen würde. Zwei Tage später teilte mir unser Familienanwalt mit, dass die Auszahlung meiner Apanage vorläufig ausgesetzt wurde. Ich nahm es hin.

An einem verregneten Dienstag Mitte Februar wurde ich zur Besprechung in die Anwaltskanzlei gebeten, die mich gegenüber Claudio vertrat.

Dr. Agata Jankowski war jene Anwältin, die die Hauptarbeit in der Vorbereitung der Klage leisteteeine kleine, energische Frau um die fünfzig mit kurzem, braunem Haar und gediegen-konservativem Kleidungsstil. Agata und ich kannten uns aus meinem Leben mit Alexander; wir waren nicht befreundet, aber per du. Außer ihr saß noch Michael Flamminger mit am Konferenztisch, Spezialist in Klagen gegen Film- und Fernsehschaffende.

Neben Kaffee und Wasser erwarteten uns drei prall gefüllte Ordner und eine dicke Klarsichtmappe mit der Aufschrift Roßloch gegen LePré.

»In dieser Mappe befindet sich die Anklageschrift, die wir für einen Gerichtsprozess vorbereitet haben«, kam Agata gleich zur Sache. »Zweihundertsechsundsiebzig Seiten. Dass der Film nebst Originalmaterial ohne deine Zustimmung nicht gesendet werden darf, ist sowieso klar. Wir bringen LePré Productions wegen Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht in mehreren Punkten, wegen Einbruchs, Sachbeschädigung und Bedrohung von Leib und Leben vor Gericht. Im schlimmsten Fall droht Claudio LePré eine Freiheitsstrafe von mehreren Jahren nebst einer Geldstrafe in Millionenhöhe

Ich sagte zunächst nichts, schluckte trocken und fühlte gleichzeitig einen Funken Genugtuung.

»Einbruch?«, griff ich dann das Wort auf, mit dem ich nichts verbinden konnte.

»Nun, irgendwie müssen die Abhörwanzen ja in Ihr Hotelzimmer und Ihre Wohnung gekommen sein«, erwiderte Flamminger.

Nur zu gerne hätte ich Claudio auch das unterstellt. Doch es würde der Beweislage kaum standhalten.

»Wahrscheinlich sind diese Wanzen von einer Schauspielerin installiert worden, die ich freiwillig reingelassen habe«, stellte ich klar.

»Zorana Marković, richtigAgata sah mich über den Rand ihrer dunklen Brille an und machte sich eine Notiz.

Ich nickte und fühlte dabei einmal mehr den Kloß in meiner Kehle, der mir immer fast die Luft raubte, wenn ich an sie dachte.

»Leider haben wir sie noch nicht ausfindig machen können«, erklärte Agata. »Sie ist eine wichtige Zeugin. Vermutlich ist sie abgetaucht, weil auch sie einige strafbare Handlungen begangen hat

Ich sah das anders. Zorana war verschwunden, weil sie mir nicht mehr gegenübertreten wollte. Weil die zahllosen Lügen, die sie mir aufgetischt hatte, alle offengelegt worden waren. Weil sie mir nicht mehr in die Augen schauen konnte. Die Vorstellung, dass sie auf der Anklagebank sitzen sollte, war mir dennoch zuwider.

»Sie hat im Auftrag von LePré gehandelt«, wendete ich ein.

»Das mindert eventuell ihre Schuld, spricht sie aber nicht frei«, belehrte mich Agata prompt. »Ein Auftragskiller wird auch nicht für unschuldig befunden, nur weil er den Mord für jemand anderen begangen hat

Natürlich verstand ich, was sie mir damit sagen wollte. Gleichzeitig sah ich aber zum ersten Mal einen Vorteil darin, dass Zorana nicht auffindbar war.

»Wir haben LePré, LePré Productions und deren Anwälte mittlerweile mit den Vorwürfen konfrontiert«, fuhr Agata nun fort. »Wenig überraschend haben sie die strafrechtlich schwerwiegendsten Punkte entschieden zurückgewiesen und uns in anderen Punkten eine außergerichtliche Konfliktlösung vorgeschlagen

»WasIch blinzelte irritiert. Bedeutete das etwa, dass Claudio fast ungeschoren davonkommen konnte? »Aber wir steigen darauf nicht ein, oder

Agata und Flamminger wechselten einen vielsagenden Blick.

»Dazu bin ich nicht bereit«, erwiderte ich sofort und konnte meine Empörung nur mühsam im Zaum halten. »Ich will, dass es ihm richtig wehtut! Damit er versteht, dass er Grenzen überschritten hat

Wieder wechselten Agata und Flamminger einen Blick.

»Ich habe mich in alle Klagen eingelesen, die gegen LePré und LePré Productions je eingereicht wurden. LePré ist zwar in einigen Fällen zu Geldstrafen verurteilt worden«, informierte mich Flamminger dann, »die meisten Anklagepunkte wurden aber wegen mangelnder Relevanz und Beweislast abgeschmettert. LePré hat ein eigenes Team hochspezialisierter Rechtsexperten

»Und das heißt was genauIch sah beide verständnislos an. »Dass wir die Sache auf sich beruhen lassen? Dass wir ihm nicht einmal einen Denkzettel verpassen? – Das kann es doch wohl nicht sein! Er hat mich betrogen und hintergangen

Vermutlich hörte ich mich an wie eine gehörnte Ehefrau, aber das war mir egal. Die Vorstellung, dass Claudio aus dieser Sache womöglich ungeschoren herauskam, ließ in mir die Wut auflodern wie ein Feuer, in das Öl gekippt wurde.

»Na, ordentlich blechen muss er schon«, erwiderte Flamminger flapsig. Er machte eine kurze, nachdenkliche Pause, dann fügte er hinzu: »Wobei das für ihn wahrscheinlich Peanuts sind. Die zahlt er aus seiner Kriegskasse. Aber wie gesagt, Sie werden nicht leer ausgehen

»In anderen Worten, ihn kratzt das alles nicht«, brachte ich es auf den Punkt. Warum saß ich überhaupt hier? Weshalb bezahlte ich diese Leute dafür, dass sie meine Interessen vertraten, wenn Claudio im Endeffekt gar nicht spürbar belangt würde?

»Helene, was erwartest du dir?«, fragte Agata nun ruhig. »Willst du ihn im Gefängnis sehen? – Wenn das dein Plan ist, müssen wir das Mandat niederlegen. Das übersteigt unsere Möglichkeiten. LePré Productions ist zu stark, und die Öffentlichkeit wird auf seiner Seite stehen, was uns zusätzlich Geld und Zeit kosten könnte. Die Journalisten werden nicht locker lassen, bis genau das passiert, was du nicht willst: Du rückst ins Zentrum der Öffentlichkeit. Die Medien werden in dir diejenige sehen, die ein internationales Idol der Filmindustrie vor Gericht zerrt. Unsere ganze Kanzlei wäre nur noch mit Klagen gegen Medien beschäftigt, die genau das täten, was du LePré vorwirfst: deine Privatsphäre verletzen. Und der Ausgang des Prozesses bleibt ungewiss. Möglicherweise steigt LePré als freier Mann aus dem Ring und du als ruinierte Existenz

Ich stand auf. Das musste ich mir nicht länger anhören. Ich wollte Anwälte, die auf meiner Seite standen, nicht gegen mich arbeiteten!

»Ich kann mir auch eine andere Kanzlei suchen«, erklärte ich bissig. »Eine, die mehr Kapazitäten hat

»Ja, kannst du«, bestätigte Agata.

Flamminger war aufgestanden und ging schon zur Tür. Ich wollte ihm folgen, doch sie hielt mich zurück.

»Helene, bitte hör mir zu«, begann sie mit fester Stimme, und an Flamminger gerichtet: »Bitte lass uns zehn Minuten allein

Eigentlich wollte ich nicht länger zuhören. Ihr nicht und auch niemand sonst. Ich wollte mich in meiner Wohnung verkriechen, unter meiner Bettdecke. Nie wieder nach draußen gehen.

»Claudio LePré und du, ihr wart enge Freunde, so wie ich das verstanden habe

Ich verdrehte die Augen, merkte aber selbst, dass ich mich gerade verhielt wie ein pubertierender Teenager, und sagte betont nüchtern: »Bitte komm mir jetzt nicht mit Sentimentalitäten! Das tut nichts zur Sache

»Doch, tut es. Denn nur daraus lässt sich dein grenzenloser Ärger erklären

Ich schnappte empört nach Luft, doch Agata fuhr unbeeindruckt fort: »Hass und Wut lähmen den Verstand. Aus meiner Sicht geht es dir schon lange nicht mehr darum, ob dein Gesicht auf der Kinoleinwand erscheint, in einer Geschichte, zu der du die Vorlage geliefert hast; auch nicht darum, ob Originalaufnahmen eingespielt werden. Es geht dir nur darum, ihn fertigzumachen

Ich zuckte mit den Schultern. War das ihre bahnbrechende Erkenntnis? Dafür brauchte man ja wohl weder ein Juraexamen noch ein Diplom in Psychologie.

»Und wenn schon«, sagte ich.

»GutSie nickte. »Dann darf ich dir gratulieren, denn das hast du bereits erreicht. Du hast ihn fertiggemacht

»Ach ja. Und das weißt du woher

Ich musste mich bemühen, nicht patzig zu klingen.

»Das entnehme ich dem Schreiben, das wir von seinen Anwälten erhalten haben

Agata schob einen sehr offiziell aussehenden, in englischer Sprache verfassten Brief über den Tisch. Ich überflog ihn, runzelte die Stirn.

»Claudio will mir zwei Millionen überweisen, wenn ich über eine außergerichtliche Vereinbarung hinaus dazu bereit bin, mit ihm eine Viertelstunde unter vier Augen zu sprechen

Nun hatte er wohl vollends den Verstand verloren.

»Zwei Millionen Euro, nur um mit einer ehemaligen Freundin zu reden. – Du siehst, er ist schon am Boden«, erwiderte Agata, und ich spürte, wie meine Stimmung umkippte. Genau das wollte ich nicht. Wütend sein, ja. Aber nicht traurig. Traurig bedeutete schwach. Ich wollte diesen Verräter hocherhobenen Hauptes untergehen sehen!

Also warf ich den Kopf in den Nacken und erklärte kühl: »Ich werde nicht mit ihm reden. Und wenn er mir fünf Millionen zahlt

»Das ist selbstverständlich deine EntscheidungAgata verzog keine Miene. »Dein Einverständnis vorausgesetzt, werden wir unabhängig davon einer außergerichtlichen Konfliktlösung zustimmen

»Das heißt

»Wir treffen uns mit LePré und seinen Anwälten und verhandeln darüber, was er dir zahlt, wenn du von einem Prozessmit, wie ich noch mal betone, sehr ungewissem Ausgangabsiehst

Der Plan war nicht das, was mir Genugtuung verschaffte, aber wohl die vernünftigste Option.

»Muss ich bei diesem Termin dabei sein?«, erkundigte ich mich missmutig.

»Ja. Das kann ich dir nicht ersparen

Ich presste meine Lippen aufeinander. »Wenn es sein muss«, erwiderte ich. »Aber es wird kein persönliches Gespräch geben

Agata sagte nichts. Stattdessen rief sie Flamminger wieder herein. Wir besprachen noch ein paar inhaltliche Punkte, ehe wir uns formell voneinander verabschiedeten.

Anschließend begleitete mich Agata noch zur Tür, was so untypisch für sie war, dass ich bereits ahnte, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte. Sie sah mich ernst an: »Rache ist wie Schokolade. In Maßen schmeckt sie süß. Von zu viel wird dir schlecht

Sie meinte es gut mit mir, aber was bitte sollte ich mit solch einem Kalenderspruch?

*

Der Kalenderspruch begleitete mich nicht nur auf dem Weg von der Kanzlei nach Hause, sondern auch durch die folgenden Tage. Irgendwann war ich bereit, mir einzugestehen, dass mich nicht nur Agatas Schokoladen-Rache-Vergleich, sondern das gesamte Gespräch aufgerüttelt hatte. Auf dezente, aber geradlinige Art hatte mir meine Anwältin die Leviten gelesen: Benimm dich nicht wie ein beleidigtes Kind. Lass los und lebe dein Leben.

Denn genau das tat ich nicht. Ich dämmerte dahin, ließ mich vom Fluss treiben wie ein Stück Holz, das irgendwann auf den Grund sinken würde, alt, morsch und vergessen.

Statt zu versuchen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen, hatte ich mich in den Hass auf Claudio verbisseneinen Hass, der sowieso nicht ihm allein galt, sondern viel tiefere Wurzeln hatte. Ich hasste meine Eltern, ich hasste Farahund ich hasste mich.

Die Selbsterkenntnis traf mich wie ein Blitz. Ich musste endlich an mich selbst denken! Ein von im Geburtsnamen zu haben, half rein gar nichts, und hehren Grundsätzen zu folgen, war edel und gut, füllte aber weder den Magen noch mein Konto. Zwei Millionen täten beidesdoch machten sie auf Dauer glücklich?

Eine schonungslose Analyse meines derzeitigen Tagesablaufs lieferte mir die Antwort: nein, taten sie nicht.

Ich brauchte eine Aufgabe. Etwas, das mit mir wachsen konnte, das mich herausforderte und dazu beitrug, mich lebendig zu fühlen.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto konkreter nahm meine Idee Gestalt an. Schließlich saß ich nicht mehr deprimiert auf dem Sofa, sondern eifrig tippend vor meinem Notebook.

Stunde um Stunde arbeitete ich an einem Konzept, und mit jeder weiteren Seite, die ich mit Worten und Prognosen über Umsatz und Gewinn füllte, wurde mein Bedürfnis, meinen alten Freund bei lebendigem Leib zu häuten, kleiner und unbedeutender.

Als ich fertig war, schickte ich mein Elaborat per Mail an Agata und Flamminger. In wohldurchdachten Sätzen brachte ich ihnen zur Kenntnis, wie ich mir die Verhandlungen mit unserem Gegner vorstellte.

Zwei Stunden später erhielt ich das Antwortmail von Agata. Es beinhaltete nur ein einziges Zeichen: einen nach oben gestreckten Daumen.

*

Claudio erschien in Begleitung von vier Anwälten, seiner Assis­tentin Priscilla und Neil Saunders, einem aalglatten Marketing­-Typen, der als Geschäftsführer von LePré Productions eingesetzt war. Der Neutralität wegen fand das Treffen im Konferenzraum eines der großen Ringstraßen-Hotels statt.

Die Anwälte, Priscilla und Neil Saunders schüttelten sich zur Begrüßung die Hände. Claudio und ich beließen es bei einem unverbindlichen Nicken. Ich sah hinab auf die Tischplatte, während unsere Rechtsvertretungen die Formalitäten klärten und Agata Jankowski schließlich die an die Produktionsfirma gerichteten Vorwürfe und meine Forderungen vortrug. Den gewaltigsten Punkt hatte sie sich für den Schluss aufgehoben.

Ich spürte, dass Claudio mich ansah, hob unwillkürlich den Kopfund erschrak, als ich ihn das erste Mal richtig wahrnahm. Er war auffallend mager und blass, die Haut an seinen Händen und im Gesicht schuppig und gerötet. Hatte ich vor ein paar Monaten noch darüber hatte hinwegsehen und es verdrängen können, sprang mir die Tatsache, dass er an irgendeiner Krankheit litt, nun direkt ins Gesicht.

Ich schluckte und wandte den Blick ab. Es war zu viel zwischen uns zu Bruch gegangen, um mir den Kopf über seinen Gesundheitszustand zu zerbrechen.

»Nur noch einmal, um Missverständnisse zu vermeiden«, begann einer von Claudios Anwälten nun. »Ihre Mandantin Frau Roßloch will sich selbstständig machen und mit ihrem Business unter dem Label Claudio LePré agieren? Sie verlangt hierzu die uneingeschränkten Nutzungsrechte des Filmkonzepts unseres Mandanten

»Das haben Sie richtig verstanden«, bestätigte Agata ungerührt. »Nach all den Beeinträchtigungen, die meine Mandantin durch ihre unfreiwillige Mitwirkung an den unautorisierten Dreh­arbeiten Ihres Mandanten erlitten hat, und dem Verlust ihrer Privat- und Intimsphäre ist das eine angemessene Entschädigung

»Geradezu lächerlich!«, platzte Neil Saunders heraus. »Wir sprechen von einem Milliardengeschäft

»Es ist nicht so, dass Frau Roßloch LePré Productions übernehmen will, falls Sie ihr das gerade unterstellen«, stellte Agata klar. »Von einem Milliardengeschäft kann also keine Rede sein

»Die Forderung ist in jedem Fall inakzeptabel«, ergriff einer von Claudios Anwälten das Wort. »Der Nutzwert des Markennamens geht weit über das hinaus, was wir als Entschädigung zu zahlen bereit sind

»Wenn das so ist, sehen wir uns vor Gericht

Agata klappte ihre Mappe zu und erhob sich. Ich wusste, dass sie bluffte. Sie wollte noch immer nicht vor Gericht, zumal das, was ich hier forderte, dort nicht einmal Verhandlungsgegenstand sein würde.

»Moment bitteZum ersten Mal meldete sich Claudio zu Wort. »Ehe wir das hier abbrechen, möchte ich, dass Lena mir in eigenen Worten schildert, was genau sie vorhat. Mit diesen juristischen Verklausulierungen kann ich nichts anfangen

Das war typisch Claudio: sich erst einmal dümmer zu stellen, als er es war. Ich tat mir und ihm trotzdem den Gefallen.

»Ich möchte Leuten die Möglichkeit geben zu einem Abenteuer wie in einem Film. Auch Susie Müller und Otto Mayer von nebenan sollen aufregende Dinge erleben können, die sie über ihren Alltag hinausführen. Meine neu gegründete Firma LePré Adventures soll das möglich machen. Das Konzept orientiert sich an den Claudio-LePré-Filmen: Menschen geraten in Ausnahmesituationen, mit denen sie zurechtkommen müssen

»Werden sie dabei gefilmt?«, fragte Claudio.

»Nur punktuell. Das Material wird nicht veröffentlicht, sondern den Klienten als Filmdatei mitgegebeneine Erinnerung an ihr persönliches Abenteuer. Im Vordergrund steht das Erleben

»LePré-Filme leben vom Überraschungseffekt«, warf Neil Saunders ein. »Bei dem Konzept von Frau Roßloch wäre aber von Anfang an klar, dass alles inszeniert ist. – Warum, um Himmels willen, sollte irgendwer freiwillig bei so etwas mitmachen wollen

»Eine interessante Fragemit der Sie uns gerade bestätigen, dass Frau Roßloch außergewöhnlichen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt war«, konterte Agata.

»Also, das habe ich damit nicht –«, verteidigte sich Saunders lahm, doch Claudio brachte ihn mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen.

»Bitte beantworte uns die Frage, Lena«, sagte er. »Warum sollte sich jemand freiwillig in solche Abenteuer verwickeln lassen

»Weil die meisten Leute in ihrem Alltagstrott völlig festgefahren sind«, erklärte ich voller Überzeugung. »Weil sie sich im Kreis drehen, immer nach demselben Muster agieren, immer dieselben Fehler machen und unterm Strich unzufrieden sind. Ich möchte ihnen die Möglichkeit eröffnen, Neues zu entdecken und über sich hinauszuwachsen. Und danach mit gestärktem Selbstbewusstsein und offenem Blick in die Welt zu gehen

Ich hatte mich in Fahrt geredet. Meine Wangen waren ganz heiß geworden, während ich über meinen Businessplan sprach. Bisher hatte ich ihn mehreren Anwälten der Kanzlei vorgetragen, einem Wirtschaftsberater und meiner Trainerin Bettina, weil Menschen wie sie womöglich zur Zielgruppe gehören würden. Sie war mindestens so begeistert gewesen wie ich selbst.

»Sie sagen also, dass ein Abenteuer nach dem LePré-Konzept das Leben der Menschen bereichert«, fasste einer der Anwälte auf seine Weise zusammen. »Hat es auch Ihr Leben bereichert

Ich fühlte Agatas Hand auf meiner Schulter.

»Einspruch!«, rief Flamminger, obwohl wir gar nicht vor Gericht waren. »Unsere Klientin wird die Frage nicht beantworten

Ich biss mir auf die Lippen. Wahrscheinlich war es doch besser, Agata das Reden zu überlassen.

»Die Summe, die Sie von uns fordern, scheint uns unabhängig davon völlig überzogen«, griff einer der Anwälte nun einen weiteren Punkt auf. »Zwei Millionen Euro. Das ist lächerlich

Ich sah, wie Claudio angesichts der Summe erst unmerklich zusammenzuckte, dann aber blitzte ein Funken Hoffnung in seinen Augen auf. Ich ahnte, was er sich erhoffte.

»Ihre Forderungen sind insgesamt inakzeptabel und –«, setzte der zweite Anwalt der Gegenseite an, wurde aber von Claudio unterbrochen.

»Ich möchte, dass Frau Roßloch alle Forderungen erfüllt werden«, sagte er mit klarer Stimme. »Sie soll ihre Firma LePré Adventures nennen können, sie soll das LePré-Logo verwenden dürfen, sie soll ihr Business unter meinem Namen bewerben und von LePré Productions jede erforderliche Unterstützung bekommen. Die zwei Millionen Startkapital gehen für mich klar

Sanders schnappte nach Luft. Priscilla zog überrascht die Augenbrauen hoch. Die Anwälte wirkten wenig erfreut.

»Herr LePré, wir sollten darüber noch einmal reden«, begann einer von ihnen vorsichtig. »Das sind immense Zugeständnisse

»Da gibt es nichts mehr zu reden«, wischte Claudio den Einwand vom Tisch. »Frau Roßloch soll bekommen, was sie sich wünscht. – Und jetzt darf ich alle bitten, das Zimmer zu verlassen. Ich möchte mit ihr ein Gespräch unter vier Augen führen

»Nein«, sagte ich. »Es ist alles gesagt

Der Hoffnungsfunke in seinen Augen erlosch.

»Aberdie zwei Millionen …«

»Unsere Mandantin hat einem persönlichen Gespräch nicht zugestimmt«, stellte Agata strikt klar.

»Herr LePré, akzeptieren Sie die Forderungen der Gegenseite auch unter diesen Umständen?«, erkundigte sich einer der Anwälte. Die Hoffnung auf neuerliche Verhandlungen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Claudio schaute sekundenlang unter sich. Dann hob er den Kopf.

»JaSeine Stimme klang fest.

Ich konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Was ich als seine Demütigung vorgesehen hatte, wurde zu einer Erniedrigung für mich selbst. Ich hätte alles fordern könnenzwei Millionen, vier Millionen, zehn Millionen, die Zerschlagung seiner Firma. Er hätte alles in Kauf genommen. Agata lag mit ihrer Einschätzung vollkommen richtig: Dieser Mann lag bereits am Boden.

Aus eigenem Verschulden, rief ich mir gewaltsam in Erinnerung, während ich Agata sagen hörte: »Unsere Mandantin bittet des Weiteren um die Herausgabe der Kontaktdaten von Zorana Marković

Ich war froh, dass sie ihr Lieblingswort fordern gegen bitten ersetzt hatte. Denn genau das entsprach meiner aktuellen Gefühlslage.

Falls Claudio überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken.

»Ja«, sagte er direkt an mich gewandt. »Im Gegenzug möchte ich aber mit dir unter vier Augen reden

Ich schluckte.

War mir die Adresse seiner Handlangerin wichtig genug, um mich darauf einzulassen? Andererseits: Würde Claudio mich nicht ohnehin weiter mit seinem Gesprächswunsch bedrängen? – Ich gab mir selbst die Antwort: Er gab nie auf. Besser also, es hier und jetzt hinter sich zu bringen. Ich nickte widerstrebend.

Augenblicke später waren wir allein.

Ich stand auf und ging zum Panoramafenster, um in den bepflanzten Innenhof zu schauen.

»Lena. Kannst du dich bitte zu mir setzen

Ich warf ihm einen kühlen Blick über die Schulter zu.

»Ich höre dich auch so sehr gut

Er seufzte. »Ich wollte doch nur dein Bestes

Meine Wut kam mit einem Schlag zurück und explodierte ähnlich wie die chinesische Vase.

»Mein Bestes?«, fuhr ich ihn an. »Definier das bitte mal! Mein Bestesmeinst du damit, zwischen mich und meine Familie endgültig einen Keil zu treiben

»Deine FamilieClaudio schüttelte resigniert den Kopf. »Deine Familie, die deine Meinung ignoriert! Die sich nie aufrichtig mit dir auseinandergesetzt hat! Und der du dich dennoch seltsamerweise so verbunden fühlst, dass du dich auf ewig ihrem Regime unterordnest? Von dieser Familie sprichst du? Definier du doch bitte mal Familie

Seine Worte schmerzten zu sehr, als dass ich darauf hätte eingehen wollen. Lieber konzentrierte ich mich auf das, was in mir brodelte und kurz vorm Überkochen stand.

»Ist es etwa zu meinem Besten, mir eine Art Prostituierte auf den Hals zu hetzen? Oder mich durch Torrid Target öffentlich als bisexuell zu outen? Hast du auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, was du mir damit antust

Es war falsch und gemein, Zorana als Prostituierte zu bezeichnen. Aber in diesem Moment war mein Zorn größer als mein Gerechtigkeitssinn.

»Und von dieser Prostituierten, wie du sie nennst, willst du also unbedingt die Kontaktdaten«, entgegnete Claudio gelassen. »Im Übrigen bist du nicht bisexuell, sondern lesbisch. Ich weiß es, du weißt es, und wenn du die letzten siebzehn Jahre nicht damit verbracht hättest, diesen Fakt zu verdrängen, hättest du dir viel erspart

»Hör auf! Du hast null Ahnung, was ich bin

»Du hast es mir damals selbst gesagtvor deiner Hochzeit

Es machte mich rasend, dass er so ruhig blieb, es machte mich rasend, dass er diesen unglückseligen Abend erwähnte.

»Farah und du –«, begann er, und das sprengte meinen letzten Rest an Selbstbeherrschung.

»Es reicht!«, schrie ich ihn an. »Hör auf, mir ständig zu sagen, was ich bin und was nicht! Du hast nicht die geringste Vorstellung, was passiert ist

Meine Stimme kippte. Tränen liefen mir über das Gesicht.

»Du warst in sie verliebt«, sagte Claudio. »Und ich habe das eigentlich bereits auf Schloss Nippe gewusst. Ich hatte auch damals schon Augen im Kopf, Lena

Er kapierte es nicht. Er kapierte es einfach nicht!

»Nichts hattest du!«, schluchzte ich. »Du warst damals genauso egozentrisch wie heute! Wenn du nur einen Hauch Empathie gehabt hättest, danndann …«

Ich verlor den Faden. Die Zeit mit Farah zog an mir vorbei wie ein Film: unsere Gespräche, der erste Kuss. Die Nacht, in der wir das Alarmsystem der Schule lahmgelegt hatten und im Schutz der Dunkelheit querfeldein in den nächsten Ort davongelaufen waren. Wie wir den erstbesten Zug nahmen, auf einer öffentlichen Toilette unser Haar färbten und im Zickzack-Kurs nach Berlin durchbrannten. Wie wir in dieser Billigpension in Berlin bei jedem Geräusch, das wir draußen am Gang hörten, zusammenzuckten. Wir wussten, dass wir gesucht wurdennicht nur von der Polizei, sondern auch von dem Spezialtrupp, den Farahs Vater auf uns gehetzt hatte. Und als Peter dann endlich kam und die gefälschten Pässe zückte, zersprang mein HerzDer Schmerz war jetzt wieder so stark, dass ich keine Luft bekam. Der Raum um mich begann sich zu drehen. Meine Knie gaben nach.

Claudio fing mich auf, noch ehe ich zu Boden ging, und bug­sierte mich auf einen Stuhl. Lange brachte ich kein Wort über die Lippen, sondern schluchzte in das Taschentuch, das er mir reichte. Er saß reglos vor mir.

»Was ist damals passiert?«, fragte er schließlich leise. »Hat sie dich sitzen lassen? Für diesen Lehrer? FürPeter Queens

Ich hob den Kopf, starrte ihn an.

»Woher weißt du das?«, flüsterte ich matt.

»Weil ich eben doch Augen im Kopf habe

»Du wusstest es und hast nichts gesagt

»Wie denn? – Du selbst hast alles getan, um dein Verhältnis mit ihr zu verbergen. Ich hätte nicht einmal gewusst, wie ich dich darauf ansprechen sollte. Ich war ein Teenager wie duunbeholfen und unerfahren. Erzählst du mir jetzt die ganze Geschichte

»Damit du daraus einen Film machst

Er verzog das Gesicht.

»Das ist ja wohl vom Tisch, oder? Ich kann deinen Ärger verstehen, aber nicht deinen Hass auf mich. Lena, ich will verstehen, warum du mich am liebsten vernichten würdest. Habe ich etwa irgendeine Schuld an dem, was Farah dir angetan hat

»Du hast Erinnerungen gewecktDinge, die ich vergessen wollteIch fuhr mir mit der Hand über die Augen und verschmierte dabei gewiss meinen Lidschatten. Es war mir egal. Ich fühlte mich nur ausgelaugt und erschöpft. »Lange Zeit hatte ich nicht an Farah gedachtund jetzt ist alles wieder da. Auch die Schuld

»Welche Schuld

»Wie du weißt, wurden Farah und ich getrennt voneinander aufgegriffenich von der Polizei in Berlin, sie irgendwo in England von den Schergen ihres Vaters. Es war ein ganz großes Drama. Meine Eltern kamen. Auf dem Revier wurde ich stundenlang verhört wie eine Verbrecherin. Ich musste jedes Detail unserer Flucht erzählen. Am Ende stand für alle fest, dass ich diejenige war, die Farah eingeredet hatte, gemeinsam abzuhauen. Ich hatte die Pläne gemacht und unsere Flucht organisiert, ich hatte die Kameras lahmgelegt, die Wächter außer Gefecht gesetztund so weiter, und so weiter

»Stimmt das

Ich lachte bitter.

»Selbstverständlich stimmt es. Oder glaubst du wirklich, dass Farah da selbst auch nur einen Handgriff getan hätte

»Nein«, erwiderte er ohne zu Zögern. »Aber was ist mit diesem Peter

»Der wollte sich die Hände nicht schmutzig machen

»Er war nach eurer Flucht nicht mehr an unserer Schule. Offiziell hieß es, er hätte den Job krankheitsbedingt niederlegen müssen

»Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Ich weiß auch nicht, was danach mit Farah geschah. Ich kann es nur vermuten

»Und was vermutest du

»Dass sie tot ist. Sie hat immer gesagt, ihr Vater werde sie töten, wenn sie sich ihm widersetzt. Angeblich hat er ihre ältere Schwester steinigen lassen

Claudio runzelte die Stirn.

»Das klingtsehr abenteuerlich

»Nun, sie hat es gesagt. Und ich habe ihr geglaubt

Mittlerweile glaubte ich auch nicht mehr recht daran, dass ein saudi-arabischer Geschäftsmann der einen Tochter erlaubte, fern der Heimat ein gemischtgeschlechtliches Internat zu besuchen, während er eine andere auf primitive Art töten ließ.

»Später hieß es, du hättest das Abi an einer Abendschule nachgemacht«, sagte Claudio nun. »Was war da wirklich los

»Das stimmtIch schluckte. »Mir ging es damals gar nicht gut. Meine Familie …« Ich atmete tief durch. Sollte ich ihm davon erzählen?

Ja, sagte die Stimme in meinem Inneren. Er würde sonst nie verstehen, weshalb ich ihm seine Aktion nicht verzeihen konnte.

»Mein Vater war damals auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er hatte einen Botschafterposten in Saudi-Arabien. Farahs Vater war ein einflussreicher Mann. Als offiziell feststand, dass ich Farah zur Flucht überredet hatte, wurde mein Vater aus Saudi-Arabien abgezogen. Er verlor seinen diplomatischen Status und sein Ansehen

»Und gibt dir bis heute die Schuld dafür«, schlussfolgerte Claudio.

Ich nickte. »Ja. Zu Recht

»Also bemühst du dich nach Kräften, es wiedergutzumachen. Deshalb hast du dich so gefügig gezeigt, was die Sache mit dem Museum betrifft, und deshalb lässt du dir so viel von ihm gefallen

Wieder nickte ich.

»Und dann komme ich, Claudio LePré, und bringe deine selbst­auferlegte Loyalität ins Wanken. Als du deinen Vater mit dem Thema Kunstraub konfrontiert hast, musstet du einmal mehr erleben, dass er dir kaum zuhört. – Dafür bist du jetzt sauer auf mich. Habe ich es richtig verstanden

»Nein, hast du nichtNicht vollends, zumindest. »Das mit meinem Vater, mit der Familieist nicht der Hauptgrund. Böse bin ich dir, weil du dasselbe getan hast wie Farah. Du hast mein Vertrauen missbraucht! Wir haben oft darüber gesprochen, wie schlimm ich es finde, dass ihr die Leute heimlich filmt und das dann veröffentlicht

»Nur, wenn sie zustimmen«, kam prompt Claudios Einwand. Ich überging ihn.

»Ihr filmt ohne ihre vorherige Zustimmung. Du wühlst sie auf, beförderst Dinge aus ihrem Innersten zu Tage, deren Folgen nicht absehbar sind, und führst sie vor. Du behandelst Menschen wie Schachfiguren, die du nach Belieben verrücken kannst. – Und genau das wolltest du auch mit mir tun, Claudio! Du hast mich zur Schachfigur gemacht. – Was hast du erwartet? Dass ich versuche, Kattnig die Pistole zu entreißen

»So in etwaEr lächelte zaghaft. Ich konnte sein Lächeln nicht erwidern. »Wäre doch ein gutes Ende gewesen, oder nicht? – Stattdessen musste die alte Vase daran glauben. Welch Jammer

»Weil du meine harmlose Konfettibombe ausgetauscht und mich damit sogar noch einmal hintergangen hast

Er hob die Schultern. »Ich bin der Regisseur. Ich sage, wie die Geschichte laufen wird

»Ja, und jetzt läuft sie gar nicht, und nicht nur die Vase, auch unsere Freundschaft liegt in Scherben

Er schaute auf seine blankgeputzten Lederschuhe, als suchte er verzweifelt nach einem Staubkorn, das er hätte fixieren können. Einen Moment lang sah er aus wie ein zerknirschter Schulbub, der sich die Standpauke zu Herzen nahm. Dann hob er den Blick. Tiefer Ernst lag darin.

»Es wäre mein letzter Film gewesen. Ich wollte dir und mir ein Denkmal damit setzen

»Darauf verzichte ich gerne

»Ich wollte nur das Beste für dich. In jeder Hinsicht

Wir drehten uns im Kreis. Ich hatte ihm alles gesagt, doch er wollte es nicht verstehen. Vor mir stand nicht mein Freund, sondern nur noch Regisseur LePré. Die Erkenntnis traf mich mit einer Endgültigkeit, die meinem Gefühlschaos ein abruptes Ende setzte.

Ich stand auf und griff nach meiner Handtasche.

Ich hatte alles, was ich wollte: ein mehr als nur saftiges Startkapital, einen soliden Businessplan und ein starkes Marketing im Hintergrund. Ich musste nur noch loslegen.

Eines aber fehlte noch.

»Zoranas Kontaktdaten«, erinnerte ich ihn.

Er entsperrte sein Handy, drückte ein paar Tasten und leierte die Emailadresse herunter.

»Das ist alles? – Nicht dein Ernst

»Ihr Handy ist seit Wochen inaktiv, und selbst ihre Agentur weiß nicht, wo sie steckt. Ihr Künstlername ist Zoya Berg. Tut mir leid, mehr kann ich dir auch nicht bieten

Abends setzte ich mich mit dem festen Willen, Zorana ein paar verbindliche Sätze zu schicken, an mein Notebook. Eine halbe Stunde später schaltete ich es ab, ohne einen einzigen Buchstaben getippt zu haben. Ich hatte ihr so viel zu sagen und gleichzeitig so wenig.

Nüchtern betrachtet, lebten wir in zwei verschiedenen Welten. Das Migrantenkind und die Prinzessin. Arm und reich, jung und nun ja, älter. Eine Tatsache, denn Zoya Berg war laut ihrer Agenturwebsite gerade mal fünfundzwanzig. Mit meinem exponentiellen »Mehr« an Lebenserfahrung kam ich mir als Mittdreißigerin da vergleichsweise alt vor.

Was wollte ich also von dieser Frau? – Ich wusste es selbst nicht.

Aber ich vermisste sie.

Und je mehr ich an sie dachte, desto quälender wurde die Sehnsucht, sie einfach nur an meiner Seite zu haben und in die Arme schließen zu können.