Claudio LePré II
Die Vorbereitungen für LePré Adventures gingen gut voran. Kamon hatte einen Kumpel, der Websites bastelte, und so kam meine Firma schneller als erwartet zu einem professionellen Online-Auftritt. Über den Webmaster wiederum lernte ich eine engagierte Grafikerin kennen, die mir Vorschläge für Werbeflyer lieferte. Ich machte mich unterdessen über Werbemöglichkeiten und potenzielle Kooperationspartner schlau, mit deren Hilfe ich mein neues Business auch unabhängig von LePré Productions bewerben konnte: Foren, auf denen sich Kletterer, Kite-Surfer und Gleitschirmflieger austauschten, Magazine, die über Autorennen und Sportsegeln berichteten, Fachzeitschriften für Extrem-Mountainbiking und Profi-Bergsteigen. Überall dorthin, wo es nach Adrenalin roch, würde ich in Zukunft meine potenzielle Kundschaft schicken. Ich würde Leute in herausfordernde Situationen und mit Menschen zusammenbringen, die das Abenteuer suchen und ihm auch gewachsen waren.
Daneben schrieb ich Plots, in die ich sie verwickeln wollte, und recherchierte Locations, an denen die Abenteuer stattfinden konnten – sogar ein echtes Spukschloss im deutschen Fichtelgebirge.
Schauspielerinnen und Schauspieler hatte ich über eine Agentur angeworben. Durch die Castings lernte ich viele interessante Menschen kennen. Meine Tage waren so ausgefüllt, das ich kaum Zeit fand, zu Hector in den Stall zu fahren. Abends kippte ich meist todmüde in mein Bett.
Anfang September sollte das erste Abenteuer mit einem Kunden starten. Ende März gestand ich mir ein, dass sich die Arbeit nicht mehr alleine bewältigen ließ, und stellte eine Sekretärin ein. Bea und ich arbeiteten zwei Wochen lang in meinem Wohnzimmer, bis ich kapitulierte und ein 60-Quadratmeter-Büro im 7. Bezirk anmietete.
Schließlich kam Ostern, Bea hatte frei, und alle, mit denen ich sonst tagsüber beschäftigt war, flüchteten aus der Stadt. Die Welle quälender Einsamkeit traf mich wie aus dem Nichts und überrollte mich mit brachialer Urgewalt.
Am Ostersonntag lag ich auf meinem Sofa und heulte. Meine sozialen Kontakte lagen in Trümmern – einige hatte ich eigenhändig gekappt. Die Exen von Alexanders Geschäftspartnern hatten mich nur noch gelangweilt, er selbst war mit Sofia und seinem sechs Wochen alten Sohn beschäftigt.
Jo ließ auch nichts mehr von sich hören. Sie hatte es aufgegeben, mich zu einem Versöhnungstreffen zu bewegen. Erst hatte ich es ausgeschlagen, weil ich ihr böse war. Dann war ich zu stolz gewesen, um von mir aus das Gespräch zu suchen. Inzwischen wusste ich einfach nicht mehr, wie ich wieder anknüpfen sollte. Mir war klar, dass ich mich ihr gegenüber nicht ganz gerecht verhalten hatte. Vermutlich hatte sie die Idee, mich zur Hauptperson in einem LePré-Film zu machen, schlicht toll und aufregend gefunden.
Bei meiner Familie hatte ich mich lange nicht mehr gemeldet. Das letzte, was ich erfuhr, war, dass Claudio dreißigtausend Euro für die zerstörte Vase überwiesen hatte, doch selbst diese unfassbare Summe konnte meinen Vater nicht beschwichtigen. So oder so war ich nicht mehr daran interessiert, mich mit ihm und dem Rest des Clans auseinanderzusetzen. Ich hatte jahrelang vergebens um Liebe und Anerkennung gekämpft, nun war ich es satt. Meine Apanage war tatsächlich eingestellt worden. Dank Claudios Entschädigungssumme tangierte mich das herzlich wenig.
Ihn vermisste ich, diese Tatsache konnte ich nicht leugnen. Ich war nicht mehr wütend, nur noch enttäuscht und gekränkt. Ein Griff zum Telefon, und ich hätte ihn vermutlich am Ohr gehabt. Einzig mein Stolz hielt mich davon ab.
Immerhin brachte ich später am Nachmittag ein Mail an Zorana zustande, auch wenn das Wort »verfassen« dafür zu hoch gegriffen war. Ich wusste noch immer nicht, was ich ihr sagen sollte. Also stellte ich nur den Link zur Website meines Unternehmens ins Textfeld, hängte eine PDF-Datei an und schrieb darunter: Liebe Grüße, Lena.
Von da ab rief ich im Fünf-Minuten-Takt meine Mails auf. Doch bis Ostermontag kam nichts zurück. Als am Dienstag Bea aus ihrem Kurzurlaub zurückkam, stürzten wir uns erneut in die Arbeit und ich konnte das Gefühl der Einsamkeit verdrängen.
*
Der große Karton voller Briefkuverts wog schwer in meinen Armen. Ich presste ihn gegen die Brust, während ich gleichzeitig versuchte, mit der rechten Hand den Büroschlüssel aus meiner Handtasche zu angeln. Kaum hatte ich ihn ins Schloss gesteckt, erklang aus meiner Jackentasche Celine Dion mit »My Heart Will Go On«. Der Anruf kam im falschen Moment, doch Celine Dions Titanic-Song war seit eh und je für Jo reserviert. Als Teenager hatte sie den Film an die hundert Mal gesehen.
Ich wollte auf jeden Fall mit ihr reden! – Beim Versuch, an das Handy zu kommen, geriet der Karton ins Rutschen, hunderte von Kuverts glitten auf den Boden.
»Um Himmels willen, warum klingelst du nicht?«
Bea öffnete die Tür von innen.
»Weil ich nicht angenommen hatte, dass du heute schon wieder Überstunden machst. Bitte, Bea, geh nach Hause! Du bist meine Angestellte, nicht meine Sklavin.«
Sie ignorierte meinen Einwand und half mir, die Kuverts wieder einzuschichten. Als ich wieder auf mein Handy sah, hatte Jo bereits aufgelegt, aber eine Nachricht hinterlassen.
»Hallo Lena. Ich weiß, wir hatten in den letzten Wochen nicht den allerbesten Draht zueinander, aber hör mir zu. Es ist wichtig.«
Sie war aufgeregt, das merkte ich sofort.
»Claudio ist im Krankenhaus. Es geht ihm nicht gut. Ich werde zu ihm fliegen und würde dir dasselbe empfehlen. Ich weiß, du hast den Kontakt zu ihm abgebrochen. Aber es ist möglicherweise deine letzte Chance, ihn noch einmal zu sehen.«
Wieder machte sie eine kleine Pause, um schließlich hinzuzufügen: »Die Lage ist ernst, Lena. Bitte komm.«
Eine Weile starrte ich einfach nur vor mich hin. Bea holte mich aus meiner Schockstarre.
»Lena? – Du bist ja ganz blass.«
Ich schüttelte den Kopf, unfähig, mich zu artikulieren. Dann zog ich mich in den zweiten Büroraum zurück. Jo hob sofort ab.
»Was ist mit Claudio? Ist ein Unfall passiert?«, fragte ich.
»Nein. Etwas anderes«, erwiderte Jo. »Bitte, flieg zu ihm. Lass ihn jetzt nicht im Stich.«
Mein Herz zog sich zusammen. In meiner Brust wurde es so eng, dass ich kaum noch atmen konnte. Kalter Schweiß brach mir aus.
»Wo ist er?«
Meine Stimme hörte sich fremd und heiser an.
Mit zittrigen Fingern notierte ich die Adresse der Klinik in Los Angeles, die Jo mir durchgab.
*
Knapp vierundzwanzig Stunden später betrat ich eine modern gestaltete Privatklinik in Westlake, einem der teureren Vororte von L.A. Jo erwartete mich im Eingangsbereich des Krankenhauses. Wortlos zog sie mich in die Arme, und ich begann sofort wieder zu weinen.
»Was ist los mit ihm?«, presste ich hervor. »Vor ein paar Wochen … war er doch noch topfit …«
»Das war er nicht, Herzchen«, korrigierte mich Jo leise. »Er ist schon lange nicht mehr gesund. Claudio lebt seit zweieinhalb Jahren mit CML – chronische myeloische Leukämie.«
Ich befreite mich aus ihrer Umarmung und schnäuzte mich. Wieso wusste ich nichts davon?
»Wurde er denn nicht behandelt?«, fragte ich mit brüchiger Stimme. »Bestrahlung, Chemotherapie … keine Ahnung, was man da tut!«
»Doch, wurde er.« Jo seufzte. »Er hatte eine Stammzellentransplantation. Aber dabei werden Immunzellen des Spenders mitübertragen. Sein Körper hat sie als fremd erkannt und abgestoßen. Claudio bekam deshalb starke Medikamente, um sein Immunsystem zu unterdrücken. Er liegt jetzt hier, weil er sich einen schweren Infekt zugezogen hat, gegen den sich sein Körper nicht mehr wehren kann. Es sieht nicht gut aus.«
Wieder traten mir Tränen in die Augen. Diesmal gelang es mir, mein Schluchzen zu unterdrücken.
»Warum weißt du von alledem und ich nicht?«
Jo legte den Arm um mich und schob mich mit sanfter Gewalt einen Gang entlang.
»Claudio hat es mir vor Weihnachten erzählt und mich um Stillschweigen gebeten«, sagte sie mir. »Er wollte um jeden Preis vermeiden, dass du davon erfährst. Du würdest das im Moment nicht verkraften, meinte er. Aber jetzt hat er mich darum gebeten, dass ich dich anrufe.«
Im Vorraum zur Intensivstation trafen wir auf eine Gruppe von Leuten: Priscilla, Claudios Assistentin, Neil Saunders von LePré Productions, ein junger Kerl, der sich als Claudios aktueller Liebhaber entpuppte, und seine Mutter, Irmgard.
Priscilla und der junge Mann schluchzten um die Wette. Neil Saunders starrte mit glasigem Blick ins Leere. Lediglich Irmgard wirkte erstaunlich gefasst. Sie ging auf mich zu und umarmte mich mit derselben Herzlichkeit, mit der sie mich schon zu Schulzeiten als beste Freundin ihres Sohnes begrüßt hatte.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie in ihrem bayerischen Dialekt. »Er hat mehrmals nach dir gefragt, als er noch ansprechbar war.«
»Wie?« Ich starrte sie geschockt an. »Was heißt das?«
»Seit ungefähr zwei Stunden liegt er im Koma«, informierte mich Jo. »Irmi und ich waren die letzten, die noch mit ihm gesprochen haben.«
Ich wollte etwas sagen, wollte erfahren, was er gesagt hatte, doch aus meinem Mund kam nur ein einziger gequälter Laut.
Fünf Minuten später brachte mich eine Krankenschwester an Claudios Bett, und ich starrte wie betäubt auf diese Hülle von Mensch, die verkabelt und von diversen Maschinen am Leben gehalten vor mir lag. Als ich nach seiner Hand griff und ihn ansprach, erwartete ich eine Reaktion – flackernde Augenlider, zuckende Finger, einen Ausschlag einer der Kurven auf den Monitoren um ihn herum. Doch es bewegte sich nichts. Ich war zu spät. Claudio, mein Freund, mein Herzensmensch, mein Geliebter im Geiste, war längst nicht mehr erreichbar.
Ich dachte an alles, was ich ihm an den Kopf geworfen hatte, und bereute jedes einzelne Wort. Jetzt, wo Wut und Enttäuschung dem Schmerz über seinen Verlust wichen, erkannte ich, was er für mich getan hatte: Mit Torrid Target hatte er mich aus einem Leben befreit, das ich hasste. Er war derjenige, der mich aus meinem Dornröschenschlaf gerissen und wachgerüttelt hatte, damit ich mir die entscheidenden Fragen zu stellen begann: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich?
Möglicherweise war einiges von dem, was bei dem Dreh zu Torrid Target geschehen war, anders gelaufen als gedacht. Es war nicht geplant gewesen, dass Zorana sich in mich verliebte – wohl aber, dass ich einer attraktiven Frau begegnete. Claudio war davon überzeugt, dass ich mich nie in einen Mann verlieben würde. Torrid Target sollte mich dazu bewegen, das auch selbst zu erkennen.
Dass mich dabei die bittere Vergangenheit einholen würde, hatte er nicht wissen können.
Es wäre mein letzter Film gewesen. Ich wollte dir und mir ein Denkmal damit setzen.
Seine Worte hallten noch in meinem Kopf wider, als mich die Krankenschwester nach Ablauf der Besuchszeit aus seinem Zimmer hinausbegleitete. Jo wollte auf mich zukommen, doch ich gab ihr mit einer knappen Geste zu verstehen, dass ich allein sein wollte. Ich setzte mich auf eine Wartebank und fühlte mich für ein paar Minuten wie benommen. Dann informierte ich meine Rechtsanwältin Agata über Claudios Zustand.
Als ich wieder zu den anderen kam, starrte Priscilla trübsinnig in einen Becher mit Automatenkaffee.
»Claudio kann den Film nicht mehr fertigstellen«, sagte ich mit belegter Stimme. »Aber bitte sorge dafür, dass es jemand anderes tut. Ich möchte, dass Torrid Target in die Kinos kommt.«
Verwunderung lag in ihren dunklen Augen, als sie den Kopf hob.
»Du meinst … so richtig? Mit Originalmaterial? Von dir?«
Ich nickte. »Ja. Und meinem vollen Namen und einer Danksagung meinerseits im Abspann.«
Es war das Letzte, was ich für meinen besten Freund tun konnte.
*
Claudio starb zwei Tage später an multiplem Organversagen. Irmgard war bei ihm. Ich selbst hatte mich kurz zum Schlafen ins Hotel zurückgezogen und sah ihn erst wieder, als seine Seele längst den Körper verlassen hatte. Ohne das Atemgerät und die vielen Maschinen sah es so aus, als würde er friedlich schlafen. Ich küsste ihn auf die Wange und atmete ein letztes Mal den unverkennbaren Hauch des Rasierwassers ein, das ein italienischer Parfumeur speziell für ihn zusammengestellt hatte. Selbst Tage im Krankenhaus hatten die letzten Spuren davon nicht tilgen können.
Dann betrank ich mich mit Jo in einer Strandbar. Wir schwelgten in Erinnerungen, tauschten uns über all die Geschichten aus, die wir mit Claudio hatten erleben dürfen, weinten und lachten, bis der Barkeeper irgendwann das Licht abdrehte.
Am folgenden Nachmittag flog ich nach Hause und wurde dort erneut so sehr von Trauer überwältigt, dass ich zwei Tage lang zu nichts zu gebrauchen war. Dann rief mich Irmgard an und bat um Hilfe. Claudios Beerdigung sollte in München stattfinden, seiner Geburtsstadt. Ein Großaufgebot von Prominenten und Fans war zu erwarten. Priscilla und Neil kümmerten sich um die Organisation, doch in manchen Punkten war Irmgards Zustimmung erforderlich, und die Sprachbarriere – Irmi hatte nie Englisch gelernt – machte eine Verständigung schwierig. Das war nun mein Part, und ich war froh, dadurch aus meiner Einsamkeit gerissen zu werden.
*
Am Tag der Beerdigung brach der Frühling aus. Die Bäume standen über Nacht in voller Blüte, Vögel zwitscherten, und kein Wölkchen störte am azurblauen Himmel.
Wie nicht anders erwartet, hatte die Polizei alle Hände voll zu tun, die über siebenhundert Gäste davon abzuhalten, in die Trauerhalle und an das Grab zu drängen. Dies war allein Claudios engsten Freunden und Angehörigen vorbehalten, und allein damit war die Halle bereits auf den letzten Platz gefüllt. Auf Großleinwänden wurde die Zeremonie jedoch nach außen übertragen, sodass seine Anhängerschaft nicht das Gefühl hatte, umsonst angereist zu sein.
Einige Leute hielten ausschweifende Nachrufe, darunter auch Jo. Ich hatte es abgelehnt, als Priscilla mich darum bat. Beerdigungen nahmen mich seit jeher mit. Unabhängig davon, wer zu Grabe getragen wurde, setzte mir die ganze Atmosphäre – die Musik, das Schwarz, die Betroffenheit der Angehörigen – jedes Mal so zu, dass ich fast mitweinen musste. Von klein auf zur Selbstbeherrschung erzogen, hatte ich meist Haltung bewahrt. Diesmal aber konnte und wollte ich mich nicht kontrollieren.
Das hier war Claudio, mein bester Freund, und ich hatte alles Recht der Welt, um ihn zu trauern! Ich hatte es satt, ständig die Contenance wahren zu müssen, und genug davon, meine Gefühle zu dosieren. Also löste ich mich während der offiziellen Zeremonie nahezu in Tränen auf, ohne mich deshalb zu schämen.
Auch wenn nur ausgewählte Medienleute für das Begräbnis akkreditiert und um pietätvolles Verhalten gebeten worden waren, gab es Dutzende von Paparazzi, die mit gewaltigen Teleobjektiven aus der Entfernung Fotos davon schossen, wie Claudios Sarg in der Grube versenkt wurde. Sie schossen auch Fotos von den Trauergästen in der ersten Reihe – von Irmi, von Priscilla, von Neil Saunders, von Claudios jungem Freund, dessen Namen ich noch immer nicht kannte, von Jo und mir. Dass sie sich auf mich fokussierten, die blonde Frau mit Hut, die am allermeisten weinte, konnte ich mir denken. Ich sah jetzt schon die plakativen Schlagzeilen und Artikel: Claudio LePré – war er wirklich homosexuell?
Ich führte mich auf wie die am Boden zerstörte Witwe und fühlte mich auch so. Mit Claudio war ein wichtiger Teil meines Lebens weggebrochen, endgültig. Dieses Loch würde nichts und niemand füllen können. Die Welt versank für mich in Dunkelheit, obwohl die Sonne am Himmel strahlte.
Asche zu Asche, Staub zu Staub. Erde zu Erde.
Ich warf gleich nach Irmgard ein Schäufelchen Erde auf den Sarg und auch die Rose, die ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Es war eine Black Baccara. Claudio hatte diese tief dunkelroten, fast schwarzen Rosen immer geliebt. Dann trat ich zur Seite, um anderen Platz zu machen.
Unter einem Fliederbaum etwas abseits der Trauergesellschaft, aber noch vor der Öffentlichkeit geschützt durch die polizeilichen Absperrungen, entdeckte ich eine Bank. Ich schwitzte in meinem schwarzen Hosenanzug mit dem fast knielangen Gehrock, fühlte mich ausgelaugt und kaputt. Erschöpft nahm ich den Hut ab und schloss die Augen.
Irgendwann spürte ich, dass ich nicht mehr allein war. Jemand hatte sich neben mich gesetzt. Es war aber nicht Jos Parfüm, das ich roch, und auch nicht ihre Art, sich zu bewegen.
Ich hätte die Augen einfach öffnen können, doch ich tat es nicht. Eine vage Ahnung schlich sich in mein Herz und brachte es dazu, schneller zu schlagen. Auf einmal war mir nicht mehr nur wegen der warmen Temperaturen heiß. Als sich eine schmale Hand in die meine schob, war jeder Zweifel beseitigt.
»Es tut mir so leid«, sagte Zorana leise. Dann nieste sie. Nicht nur ein Mal, sondern gleich fünf Mal in Folge. Ich sah ein, dass ihre Anwesenheit sich nicht länger ignorieren ließ.
Sie trug ein schwarzes Trägerkleid, ihr Haar war aufgesteckt. Durch die Niesattacke hatten sich zwei Strähnen gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren gerötet. Ansonsten hatte sich in den fast vier Monaten, in denen wir uns nicht mehr begegnet waren, nichts an ihr verändert. Wortlos öffnete ich meine Handtasche und reichte ihr ein Taschentuch.
»Danke.«
Sie schnäuzte sich geräuschvoll.
Dann griff ich erneut in meine Tasche. Der Silberring glänzte in der Sonne.
»Dein Ring«, sagte ich. »Für Zorana von ihrer Oma. – Ich nehme an, den möchtest du wiederhaben.«
»Du hast ihn dabei?!« Ihre Augenbrauen rutschten nach oben. »Woher wusstest du, dass ich hier sein würde?«
»Das wusste ich nicht. Wie auch, nachdem du dein Handy abgemeldet hast und nicht auf meine Mails reagierst? Ich trage deinen Ring bei mir, seit du ihn im Hotelzimmer zurückgelassen hast.«
»Wirklich?« Freude schwang in ihrer Stimme, deren Ursache mir erst klar war, als sie hinterherschob: »Als Glücksbringer?«
»Wenn das so wäre, säßen wir wohl kaum auf dem Friedhof.«
Ein paar Augenblicke lang war nur das Gezwitscher der Vögel zu hören.
»Ich glaube nicht, dass ein Talisman etwas so Unausweichliches wie den Tod verhindern kann«, sagte sie dann ernst. »Er ist ein Glücksbringer für die kleineren Dinge. Für deinen Geschäftserfolg, zum Beispiel.«
»Oh.« Ich betrachtete sie prüfend. »Du hast meine Mails also doch gelesen.«
»Mail. Einzahl. Übertreib nicht. Und dass an dir eine Schriftstellerin verlorengegangen wäre, kann man auch nicht gerade behaupten. Ich hatte das Gefühl, dass du allein für die Anrede zehn Minuten überlegen musstest.«
Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf stieg.
»Bei der Fülle deiner Vornamen ist das auch nicht so einfach«, verteidigte ich mich. »Selina, Zorana, Zoya – woher soll ich wissen, wie du angesprochen werden willst?«
»Na, dreimal darfst du raten, wo mein Geburtsname doch in diesen Ring eingraviert ist«, bemerkte sie süffisant. »Zorana. Ich mag meinen Namen. Weißt du, was er bedeutet?«
»Nein.«
»Die Hübsche.«
Unwillkürlich musste ich lächeln.
»Da haben deine Eltern bei der Namenswahl ja sehr vorausschauend gehandelt.«
»Ich war schon als Baby hübsch«, schmunzelte sie. Etwas ernster schob sie nach: »Zumindest findest du mich immer noch attraktiv. Immerhin eine positive Eigenschaft.«
»Eigenschaft?«, wiederholte ich nachdenklich. »So würde ich das jetzt nicht nennen. Das ist simple Genetik. Da hast du wenig selbst dazu beigetragen.«
»Ich habe auch noch andere Qualitäten.« Sie atmete tief durch. »Wenn du mir eine Chance gibst, kann ich sie dir die nächsten sieben Jahrzehnte täglich demonstrieren.«
Sie hatte mit scherzhaftem Unterton gesprochen, doch ich sah, dass sie auf ein positives Signal hoffte. Auch ich wollte in diesem Moment und an diesem Ort nicht weiter Geplänkel betreiben.
»Mein Leben ist zurzeit mehr als turbulent«, begann ich ernst. »Mein bester Freund wird gerade beerdigt. Ich habe mit dem Aufbau meiner Firma alle Hände voll zu tun. Und darüber hinaus …« Ich seufzte und sah ihr in die Augen. Diese hoffnungsvollen, dunklen, großen Augen. Es kostete mich Mühe, aber ich wollte ihr gegenüber fair bleiben.
»Darüber hinaus weiß ich nicht, ob ich überhaupt fähig bin, mich auf einen anderen Menschen einzulassen. Bisher ist mir das nie wirklich gelungen.«
Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht.
»Ganz ehrlich, Zorana. Es liegt nicht an dir. Es ist mein persönliches Problem.«
»Du bist mir nicht mehr böse?«
»Nein. Ich habe inzwischen begriffen, dass du mir schon damals auf der Strandpromenade, nach unserer ersten Nacht, sagen wolltest, wer du bist. Ich wollte dir nur nicht zuhören.«
Ich lächelte schief.
Sie entzog mir ihre Hand. Jetzt sah auch ich, dass Priscilla auf uns zusteuerte, ein Kuvert in der Hand. Ich nahm an, dass sie damit zu Zorana wollte. Doch sie wandte sich an mich.
»Das lag auf Claudios Schreibtisch. Ich denke, er wollte, dass du es bekommst.«
Für meine Prinzessin, stand in seiner schwungvollen Handschrift auf dem Umschlag. In Englisch und Deutsch. Er musste gefühlt haben, dass sich sein Gesundheitszustand dramatisch verschlechterte, und hatte Vorkehrungen getroffen.
Ich ließ den Abschiedsbrief ungeöffnet in meiner Handtasche verschwinden. Um ihn zu lesen, würde ich allein sein müssen.
Als uns Priscilla wieder den Rücken zugewandt hatte, schob mir auch Zorana etwas zu – eine Visitenkarte mit ihrem Namen.
»Da steht meine neue Telefonnummer drauf. Ich würde mich freuen, wenn du dich mal meldest. – Das Leben ist kostbar.«
Ich nickte.
So schnell gab sie also nicht auf. Doch ewig würde sie nicht auf mich warten. Das hatte sie mir soeben durch die Blume mitgeteilt.
*
Um kurz vor Mitternacht war ich wieder in meiner Wohnung in Wien. Ich setzte mich aufs Sofa und riss Claudios Kuvert auf, eine Packung Taschentücher griffbereit.
Doch der Brief, der schließlich auseinandergefaltet vor mir lag, enthielt lediglich den Link zum Facebook-Profil eines Mannes namens David P. Craig. Ich rief es sofort im Handy auf und zuckte zurück, als das Profilbild erschien. Der Typ, der im sportlichen Kombianzug neben einem Hubschrauber stand, den Helm unter den Arm geklemmt, war zwar gealtert, aber unverkennbar Peter.
Ich studierte seine Beiträge. Allem Anschein nach handelte es sich um ein berufliches Profil. Peter Queens alias David P. Craig bot Kurse für Fallschirmspringer an. Sitz seines Unternehmens war in Vaduz, Liechtenstein. Eine genaue Adresse, eine Telefonnummer und auch eine Mailadresse zur Kontaktaufnahme waren angegeben.
Mir war sofort klar, weshalb Claudio ihn gesucht hatte. Er wollte, dass ich einen Abschluss finden konnte, wie immer dieser dann aussehen würde. Ich schlief darüber nicht nur eine Nacht, sondern gleich zwei, und schwankte tagsüber zwischen der Versuchung, Peter zu fragen, was mit Farah passiert war, und der Furcht, dadurch Salz in meine Wunden zu streuen.
Am Morgen nach der zweiten Nacht galt mein erster Gedanke wieder Peter und Farah. Ich begriff, dass die Erinnerung an diese beiden längst in meinen Wunden brannte wie Salz, und zwar seit Jahren. Es war höchste Zeit, sie auszuspülen.