Claudio

Schwungvoll setzte ich meinen Namen unter die Papiere, die das En­de meiner elfjährigen Ehe besiegelten. Alexander tat es mir gleich.

»Wars das?«, fragte er dann und warf einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr, wie immer, wenn er andere wissen lassen wollte, dass er ein vielbeschäftigter Mann war.

»Ja«, bestätigte die Richterin. Sie sah zu, wie Alexander mir in den Mantel half, und fügte hinzu: »Ich wünschte, alle Scheidungen gingen so einvernehmlich und friedlich über die Büh­ne

»Die Mantel-und-Degen-Szenen haben wir schon zu Hause ausgefochten. Wir wollen die Arbeitszeit der Justiz und Ihre Geduld schließlich nicht überstrapazieren

Alexander schickte der Richterin, einer gepflegten Dame um die fünfundfünfzig und damit seine Altersklasse, ein Zwinkern, das sie wie ein pubertierendes Schulmädchen kichern ließ, und bewies mir damit wieder einmal, welche Wirkung er auf Frauen hatte. Mit seiner hochgewachsenen, sportlichen Statur und den ebenmäßigen Gesichtszügen war Alexander ein gutaussehender Mann, der trotz grauer Haare eine gewisse Jugendlichkeit und Vitalität ausstrahlte. Die ihm eigene Dominanz verbarg er gewöhnlich hinter einer Mischung aus Witz und Charme, was ihn für viele Frauen nahezu unwiderstehlich machte.

Sein Spruch von Mantel-und-Degen-Szenen, was auch immer ich mir darunter vorstellen sollte, war natürlich blanker Unsinn. Es hatte so gut wie keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gegeben. Dafür hatten wir in den vergangenen Jahren ohnehin zu wenig Zeit miteinander verbracht.

Ich beließ es bei einem unverbindlichen Lächeln, ehe wir gemeinsam das Gerichtsgebäude in Wien-Döbling verließen. Vor der Türe wartete Sofia, meine Nachfolgerin an Alexanders Seite, gemeinsam mit ihrem überspannten Windhund Fiffy. Der weitgeschnittene Nerzmantel verbarg ihren Babybauch, den Hauptgrund für unsere zügige Scheidung, noch ziemlich gut. Während sich der Windhund vor hysterischer Freude, Alexander zu sehen, fast mit seiner eigenen Leine erwürgte, strahlte Sofia mich an, als wären wir die besten Freundinnen.

»Fesch siehst du aus!«, sagte sie, indem sie übergriffig an meinem kobaltblauen Kaschmirschal herumzupfte. »Coole Farbe! Ist der neu? Und warst du beim Friseur? Deine Haare fallen heute so schön

Aber natürlich, ich habe mich extra für die Scheidung hübsch gemacht!

Der Spruch lag mir auf der Zunge, doch eine unerwartete Schwermut hinderte mich daran, ihn über die Lippen zu bringen. Dass ich mit meiner Unterschrift gerade eben mein persönliches Scheitern als Ehefrau bestätigt hatte, wurde mir erst jetzt bewusst. Mein einsilbiges »Nein« beantwortete beide Fragen. Den Schal hatte mir meine Schwester Hedwig vor vier Jahren zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Ihre Großzügigkeit hielt sich in engen Grenzen. Hedwig war mit Albert Graf von Brechtesau zu Witten verheiratet, einem der größten Grundbesitzer Baden-Württembergs, geizte aber, als hätte sie nur das Einkommen ihrer Haushälterin zur Verfügung. Was mein angeblich heute so schönes Haar betraf, so wirkte sich vermutlich die Luftfeuchtigkeit positiv auf meine Locken aus.

Trotzdem kam ich mir neben Sofia mit ihrem frischen, makellosen Teint, ihren sorgfältig gestylten Augenbrauen und den vollen, rotgefärbten Lippen vor wie ein in die Jahre gekommenes Aschenputtel. Ich hatte noch nie zu den Frauen gehört, die Stunden vor dem Badezimmerspiegel verbrachten, und neben einer Vierundzwanzigjährigen war es ohnehin schwer genug, sich nicht alt zu fühlen.

Ein kleiner böser Funke ließ ein Bild vor meinem inneren Auge auflodern: Alexander und Sofia vor genau diesem Gebäude, beide um zehn Jahre älter, mit einer dritten, viel Jüngeren, die genauso blond, genauso hübsch, genauso vorzeigbar wäre wie wir in ihrem Alter. Doch dann sah ich, wie Alexander Sofia in die Arme schloss und voller Inbrunst küsste, und verwarf den Gedanken wieder. Er liebte sie anscheinend wirklich, und sie ihn.

Einen Moment lang fühlte ich mich verloren. Dann nahm ich die Gestalt wahr, die zügig auf uns zukam, einen Trolley hinter sich herziehend. Mein Herz machte unwillkürlich einen Satz. Rote, tief ins Gesicht gezogene Ballonmütze, Blue Jeans und fast bis zum Knie reichende Schnürstiefeldas war unverkennbar Clau­dio! Ich fiel ihm regelrecht in die Arme, selten so froh wie in diesem Augenblick, ihn zu sehen. Sein Dreitagebart kratzte an meiner Wange.

»Prinzessin«, murmelte er an meinem Ohr, während mich seine schlaksigen Arme fest umschlossen. Ich klammerte mich an ihn wie eine Ertrinkende und konnte noch immer nicht fassen, dass er hier war.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich an diesem Schicksalstag allein lasse?«, flüsterte er. Dankbar und glücklich, dass dieser wunderbare Mensch mein Freund war, und in der Gewissheit, dass mir niemand näher stand als er, drückte ich ihm ein Küsschen auf die Wange.

Wir lösten uns aus der Umarmung. Claudio hielt meine kalte Hand in der seinen.

»Istist dasich meinewirklichsind Sie das? Claudio LePré? Der Regisseur

Sofia war völlig aus dem Häuschen. Aufgeregt kramte sie aus ihrer Handtasche einen kleinen Taschenkalender und einen silbernen Kugelschreiber hervor.

»Könnten Sieich meinewürden Sie mirein Autogramm vielleicht

Gewöhnlich war Sofia, die Frau mit dem Bachelor in Germanistik, durchaus in der Lage, ganze Sätze zu bilden, doch Claudios bloße Anwesenheit schien die dafür relevanten Gehirnareale bei ihr zu blockieren. Während sie noch mit sich rang, ob sie Claudio Kugelschreiber und Block einfach so aufdrängen konnte, schüttelten sich Alexander und mein Freund bereits die Hand.

»Ich hatte keine Ahnung, dass du in Wien bist«, sagte Alex­ander. »Welche Dreharbeiten haben dich hergelockt? Ein weiteres oscarreifes Projekt

»Ich bin rein privat hier«, stellte Claudio klar, ohne eine Miene zu verziehen. »Schließlich muss so ein Anlass anständig gefeiert werden

Alexanders Mundwinkel zucktennicht amüsiert, wie ich in seinen Augen las, sondern missbilligend. Die Idee, dass Claudio allein wegen mir gekommen sein könnte, war für ihn anscheinend völlig abwegig. Für Claudios Humor hatte er sich selten begeistern können. Überhaupt war ihm dieser Mann in meinem Leben immer ein Dorn im Auge gewesen, auch wenn ich das nie hatte verstehen können.

Im selben Augenblick schwang die Türe des Gerichtsgebäudes auf. Die Richterin trat mit einer anderen Frau heraus, vermutlich einer Kollegin. Für ein, zwei Sekunden blieb sie stehen und schaute zu uns herüber, dann sagte sie etwas zu ihrer Begleiterin. Auch wenn ich es nicht verstand, war sonnenklar, worum es ging: um unsere ach-so-friedliche, harmonische Scheidung. Da Claudio noch immer meine Hand hielt, musste sie in ihm zwangsläufig meinen neuen Partner sehen, während sie Sofia hoffentlich für Alexanders nicht-existente Tochter aus erster Ehe hielt. Der kleine Funken Bosheit in meinem Inneren wünschte sich genau das. Schon die einundzwanzig Jahre Altersunterschied, die Alexander und mich trennten, waren mir gelegentlich makaber erschienen. Dass er für den Rest seines Lebens eine Frau neben sich sah, die satte einunddreißig Jahre jünger, fiel mir noch immer schwer zu verstehen. Was redete er mit diesem Kind, das selbst eines erwartete?

»Bitte, du musst mich nicht siezenClaudio hatte mit Sofia Erbarmen, nahm ihr den Kalender ab und schüttelte ihr die lederbehandschuhte Hand. »Für dich nur Claudio. Schließlich sind wir in gewisser Weise doch beide Freunde von Lena

Ich unterdrückte den Impuls, ihm kräftig gegen das Schienbein zu treten. Sofia als Freundin zu bezeichnen, ging eindeutig zu weit. Für mich würde sie nie mehr sein als die Person, die meinen Mann daran erinnert hatte, dass er in seiner Ehe so einiges vermisste.

»LenaSofia runzelte irritiert die Stirn. Claudio hatte anscheinend wirklich ihr Denkvermögen gelähmt.

»Helene«, half Alexander ihr auf die Sprünge. In unseren elf gemeinsamen Jahren war er nie dazu bereit gewesen, mich mit einer zeitgemäßen Abwandlung meines Namens anzusprechen. Damit verhielt er sich nicht anders als meine Eltern und Geschwister.

Claudio hatte ein paar Zeilen und seinen Namen in den Kalender gekritzelt und gab ihn seiner Besitzerin zurück.

»Für Sofia. Mögest du auf dem Opernball lieber elegante Pirouetten drehen als die Lage der Notausgänge checken. Dann ist dir die Liebe von Alexander dem Großen gewiss! Claudio LePré, professioneller Wahrsager und Regisseur

Sofia, die den Text laut vorgelesen hatte, sah erst Claudio fragend an, dann, als er ihr eine Erklärung schuldig blieb, ihren zukünftigen Gatten.

»Was soll das bedeuten

»Im Grunde nichts, was mit dir zu tun hatAlexander zog den Kragen seines Mantels nach obeneine typische Geste, wenn er von etwas genug hatte wie jetzt eindeutig von Claudio, der ihn amüsiert angrinste. »Claudio wünscht mir eine Frau, die weniger schrullig ist als Helene, und überschätzt möglicherweise seine eigenen Fähigkeiten. Das ist alles

Claudios Grinsen wurde breiter.

Ich ärgerte mich in diesem Moment sowohl über Claudio, der ein Geheimnis von mir preisgegeben hatte, als auch über Alexander, der mich ungeniert als schrullig bezeichnete. Ja, ich sah mich generell nach den Notausgängen um, wenn ich an einer Veranstaltung mit vielen Leuten teilnahmund zwar, weil mir genau das im Falle einer Massenpanik oder eines unvorhersehbaren Vorfalls mein Leben retten würde.

»Mir wird allmählich kaltIch trat demonstrativ von einem Fuß auf den anderen. »Wollen wir nicht mal gehenDas richtete sich ausschließlich an Claudio, doch Sofia, der weiterhin die Bewunderung für meinen Freund, den international bekannten Regisseur, ins Gesicht geschrieben stand, fühlte sich sofort mit angesprochen.

»Oh ja! Gehen wir irgendwo was trinken«, schlug sie mit beinahe kindlicher Euphorie vor. »Ich meineihr trinkt was. Ich sitz nur bei einem Glas Wasser dabei. Bin ja etwas ausgebremst

Sie deutete auf ihren Bauch.

Claudio grinste erst mich an, dann sie. Er setzte an, um etwas zu erwidern, doch Alexander kam ihm zuvor.

»Liebling, ich habe im Fabios einen Tisch für zwei reserviert«, sagte er und legte fast schon väterlich den Arm um die Schultern der werdenden Mutter. »Und auch Helene wird andere Pläne haben

»Oh, schadeSofia wirkte aufrichtig enttäuscht, was gewiss nicht mit mir zu tun hatte. Ihre Augen klebten an Claudio LePré. »Ich hätte so gern mehr über Sieüber dich erfahren! Über deine Filme, meine ich. Crazy Cruising war sooo toll! Der hat die zwei Oscars völlig zu Recht bekommen! Ich meine, das ist echt soinnovativ. So völlig abgedreht. So …«

»Liebling. Der Tisch im FabiosAlexander drängte zum Aufbruch. Mit einem letzten Blick auf uns sagte er: »Man sieht sich

Ich fragte mich, bei welcher Gelegenheit. Unsere Hausstände hatten wir bereits vor sieben Monaten auseinanderdividiert, er residierte weiterhin in der Familienvilla am Türkenschanzpark und ich wohnte seither in einer Altbauwohnung in der Innenstadt. Es gab eigentlich keinen Grund mehr, Kontakt zu halten, einvernehmliche Scheidung hin oder her.

»Auf Wiedersehen«, sagte ich flach.

Ich sah den beiden nach, wie sie mit dem zappelnden Hund den kleinen Park durchquerten.

»Auf WiedersehenClaudio stieß mir seinen Ellbogen in die Seite. »Sag mal, was ist mit dir? – Du warst immerhin elf Jahre mit ihm zusammenEr sah mich von der Seite an, runzelte die Stirn. »Ich weiß ja, dass deine Familie genetisch bedingt einen Stock im Arsch hat, aber kommt du dir nicht selbst etwas zu formell vor

»Herrgott, was hätte ich denn sagen oder tun sollenIn gespielter Verzweiflung streckte ich die Hände gen Himmel, während ich insgeheim selbst schmunzeln musste. Auf Wiedersehen war wirklich die falsche Verabschiedung, denn eigentlich wollte ich Alexander gar nicht wiedersehen. »Ihm schluchzend um den Hals fallen und unter Tränen bitten, die Scheidung rückgängig zu machenIch hakte mich bei Claudio unter. »Gehen wir was essen. Lust auf Sushi

»Wenn es ein Lokal mit einer dunklen Ecke ist, in der mich keiner mit Autogrammwünschen behelligt, dann gerne

»Mit der dunkelsten Ecke der Welt!«, versicherte ich. »Schon aus Eigennutz

»Aus Eigennutz? Wieso, was hast du vor …?«

Er betrachtete mich skeptisch von der Seite, während ich nur auf den richtigen Moment wartete, um meinen Angriff zu starten. Langsam erwachten meine Sinne aus dem Koma, in das sie durch die steife Atmosphäre im Gericht und die Begegnung mit Alexander nebst Sofia versetzt worden waren. Ich freute mich so, dass Claudio da war! Am liebsten wäre ich quer durch den Park getanzt, was gewöhnlich gar nicht meiner Art entsprach. Der Übermut in mir schlug Purzelbäume.

Wir hatten gerade den Gehsteig erreicht, da beantwortete ich voller Leidenschaft Claudios Frage: Ich biss ihn in den Hals.

Damit hatte er nicht gerechnet. Er quietschte wie ein verwundetes Schweinchen, und ich bog mich vor Lachen. Die Leute auf der Straße drehten sich verwundert zu uns um. Ein paar blieben stehen und starrten uns an wie zwei Außerirdische. Einer zückte bereits sein Handy, um ein Foto zu schießen.

»Du bist so …!«, setzte Claudio an, dann wurde er sich des allgemeinen Interesses bewusst. Er hielt das nächstbeste Taxi an und schubste mich ins Innere, ehe er die Türe von innen zuzog.

Ich lachte noch immer. »Ichbinwas?«, quetschte ich zwischen meinen Lachsalven hervor.

»Entsetzlich! Furchtbar! Teuflisch!«, kam es zurück.

Claudio griff sich an die Stelle, an der ich ihn gebissen hatte. Sie war gerötet, mein Zahnabdruck war deutlich sichtbar.

»Hast du den Typen mit der Kamera gesehenClaudio zückte ein Etui mit einem Taschenspiegel und besah sich die Bissstelle. »Toll! Wirklich ganz toll«, stellte er sarkastisch fest. »Du und ich, das wird das Titelbild der morgigen Kronen Zeitung oder irgendeiner dieser Gratis-Postillen, und mit deinen Lippen an meinem Hals, meine Süße, bin ich für die Männerwelt erst einmal out! Und zwar nicht im Sinne von Coming-out, wenn du verstehst, was ich meine

»Gut

Ich wischte mir meine Lachtränen aus den Augen, dann wurde mir bewusst, dass wir stadtauswärts fuhren. Bisher hatte keiner von uns beiden dem Taxifahrer gesagt, wohin es gehen sollte. Höchste Zeit, das nachzuholen.

»Erster Bezirk. Kärntner Ring, Grand Hotel, bitte

*

Die dunkle Ecke, die sich Claudio gewünscht hatte, lag im obersten Stock des Hotels. Ich mochte das japanische Restaurant dort, weil die verwinkelte Bauweise für ausreichend Privatsphäre sorgte. Ideal für Celebritys, die eine Zeit lang dem öffentlichen Interesse entfliehen möchten.

Galant wies Claudio auf die Sitzbank an der Wand. Er wusste, dass ich es nicht ertrug, mit dem Rücken zum Raum zu sitzen. Das Restaurant war um diese Zeit recht voll. Vermutlich verdankten wir nur meinem Namen und meinen häufigen Besuchen, dass wir ohne Reservierung einen Tisch bekamen.

Ich gab Claudio Zeit, die Speisekarte zu studieren, und betrachtete ihn währenddessen. Die rote Ballonkappe hatte er inzwischen abgenommen. Seit wir uns vor vier Monaten zuletzt gesehen hatten, war sein mittelbraunes Haar schütter geworden. Graue Strähnen hatten sich eingeschlichen. Für jemanden, der seinen Wohnsitz in L.A. hatte, kam Claudio mir auffallend blass vor. Um seine Augen herum entdeckte ich erstmals Falten. Er war nur vierzehn Tage älter als ich, doch jetzt kam es mir vor wie vierzehn Jahre. Das Leben auf der Überholspur hinterließ Spuren.

Unwillkürlich dachte ich an unsere erste Begegnung, die vor zwanzig Jahren auf dem dämmrigen, kalten Gang eines alten Gebäudes stattgefunden hatte, dessen vergitterte Fenster symbolisch waren für den Geist des gesamten Hauses. Schloss Nippe in der Nähe von Koblenz war als Nobelinternat nicht nur für seine exzellente Ausbildung, sondern hauptsächlich für Strenge und Disziplin bekannt. Meine Eltern zahlten die horrenden Gebühren, weil es an meiner vorherigen Schule, einem Internat am Chiemsee, zu ein paar unschönen Vorfällen gekommen war. Eigentlich hatte ich nur ein paar Unterschriften unter Atteste gesetzt, die Mitschülerinnen vom Sportunterricht befreiten, und zwei Zeugnisse gefälschtim Übrigen nicht einmal meine eigenen. Zwei Freunde hatten mich um Hilfe gebeten, weil sie von meiner Begabung für Unterschriften wussten. Für überzeugende Kopien brauchte ich natürlich Blanko-Zeugnis-Formulare. Meine Eltern und der Direktor bezeichneten meine Suche im Schulsekretariat später als Einbruch. Das war lächerlich, denn das Schloss ließ sich mühelos knacken und die Schränke standen offen. Aufgeflo­gen war die Sache nur deshalb, weil einer der Bubenvon Gewissensbissen geplagtalles seinen Eltern beichtete. Mein Wechsel nach Schloss Nippe war daher beschlossene Sache, noch ehe ich mich überhaupt verteidigen konnte.

Für Claudio war es dagegen eine Ehre, auf Schloss Nippe aufgenommen zu werden. Er war einer der wenigen Stipendiaten, für die der Förderverein das Schulgeld übernahm. Wir liefen uns zum ersten Mal am Tag der Einschreibung über den Weg, als er mit seiner Mutter Irmgard gerade das Sekretariat verließ und ich in Begleitung meiner Eltern im Begriff war, es zu betreten. Meine Mutter rümpfte dezent die Nase, als sie an ihnen vorbeiging, und auch mir fiel auf, dass die beiden eigentlich gar nicht hierher passten.

Claudio war schmächtig und blass. Er trug einen schwarzen Anzug, der ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, und dazu ausgetretene Halbschuhe. Sein Gesichtsausdruck war wach, aufmerksam, interessiert. Er wirkte intelligent, aber möglicherweise lag das auch an der Brille mit den dicken Gläsern, die auf seiner Nase prangte. Sein braunes Haar schrie nach einem Friseurbesuch.

Seine Mutter dagegen sah ein bisschen so aus wie die Menschen aus den Nachmittagstalkshows, die ich mir gelegentlich heimlich reinzog: leicht übergewichtig, mit strähnigem, schulterlangem Haar, das eine lange Historie stümperhafter Tönungsversuche hinter sich hatte, und feuerrot bemalten Lippen. Make-up und Kleidung verrieten, dass sie sich durchaus Gedanken über ihr Outfit gemacht hatte: Zur schwarz-blau gemusterten Leggins trug sie einen dunklen Umhang, den man mit etwas gutem Willen als weit geschnittenen Gehrock hätte interpretieren können. Auf ihren weißen, klobigen Turnschuhen prangten Glitzersteine.

Später, als meine Eltern noch mit den Formalitäten beschäftigt waren, trafen Claudio und ich im Schlosspark aufeinander. Ich, das verwöhnte Mädchen im Faltenrock, mit der weißen Bluse und den Perlohrringen, hatte mich hinter einer Baumgruppe versteckt, um heimlich zu rauchen; er wartete auf seine Mutter, die in Erfahrung bringen wollte, wann der nächste Bus zum Bahnhof ging.

Ich erzählte ihm großspurig, dass mein Vater Diplomat sei und ich schon die halbe Welt gesehen hätte. Was durchaus stimmte. Ich bin in Kairo geboren, habe in Marokko und Tune­si­en gewohnt, wurde in Hongkong eingeschult und war dann drei Jahre lang in einer Schule in Dubai. Danach ging es für uns nach Paris und anschließendwenig spektakulärnach Berlin. Da der nächste Auslandsaufenthalt jedoch bereits feststand und es für mich und meine Geschwister immer schwieriger wurde, unsere schulische Laufbahn in den verschiedenen Ländern fortzusetzen, besuchten wir seit dem Wechsel ins Gymnasium allesamt Internate.

Claudio dagegen war bis dahin aus München-Giesing nicht herausgekommen, was man ihm auch anhörte. Er hatte Mühe, hochdeutsch zu sprechen, und rollte auf verstörende Weise das R.

Er fand es sehr aufregend, dass ich adeliger Herkunft war, und nannte mich von da an Prinzessin. Dass mein von nur auf niedrigen Landadel zurückging, störte ihn dabei nicht. Er fühlte sich ab Tag eins wie der Ritter, der mich beschützen wollte, und ich dachte damals noch: Wer da wohl wen beschützen wird? Denn aufgrund seiner schlichten Abkunft und der Arglosigkeit, mit der er auf andere zuging, kam er mir vor wie das perfekte Mobbing-Opfer an einer Schule für Kinder aus reichem Hause.

Ich irrte mich. Durch seine Intelligenz und die Fähigkeit, schnell mit anderen in Kontakt zu kommen, hatte er auf Schloss Nippe schon bald mehr Freunde als ich. Er beobachtete gut und lernte rasch. Nach ein paar Monaten war Claudio in seiner Schul­uniform und seinem Auftreten nicht mehr von uns zu unterscheiden.

Und nun, fast zwei Jahrzehnte später, saßen wir hier in Wien gemeinsam in einem Lokal und waren noch immer die besten Freun­de.

»Also, Prinzessin, jetzt mal ehrlich: Wie geht es dir

Wir hatten unsere Bestellung inzwischen aufgegeben. Claudio nippte an einem Mineralwasser, ich saß vor einem Glas Weißwein.

»GutIch nickte automatisch, als müsste ich mir meine Behauptung bestätigen. »Ich weiß es nicht«, korrigierte ich mich dann, denn immerhin war Claudio ein echter Freund. »Es ist nicht so, dass ich Alexander vermissen würde. Trotzdem komme ich mir im Moment etwas einsam vor

Claudio nickte bedächtig.

»Du hättest ihn von Anfang an nicht heiraten sollen. Ich habe dich damals gewarnt, weißt du noch? Ich habe dir gesagt, er ist nicht der Mensch, der dich langfristig glücklich macht

»Ja, das hast du

Auch ich erinnerte mich an diesen verhängnisvollen Abend in einer Münchner Bar, zwei Tage vor meiner Hochzeit, obwohl ich es am liebsten für immer vergessen hätte. Die Zunge gelockert vom Alkohol, hatte ich Claudio etwas anvertraut, das ich niemals irgendjemandem hatte erzählen wollen. Ich bereute meine Offenheit bereits, als ich trunken und müde in meinem Hotelbett lag. Claudio hatte mich nie mehr darauf angesprochen. Aber ich wusste, dass er es nicht vergessen hatte. Dass es in ihm arbeitete, dass er nur auf den richtigen Augenblick wartete, um mich damit zu konfrontieren.

Nun war ich geschieden.

Die leise Furcht, er könnte meinen, dieser Augenblick sei nun gekommen, nahm in meinem Inneren Gestalt an. Ich fühlte Claudios Blick nachdenklich auf mir ruhen und wappnete mich.

»Du hast ihn nie wirklich geliebt«, stellte er einfach nur fest.

»Wir sind gut miteinander ausgekommen. Das ist mehr, als die meisten Eheleute nach zehn Jahren guten Gewissens behaupten können

»Was ist mit Liebe? Mit Leidenschaft?«, fragte er dann, und mir brach prompt der Schweiß aus. Das war genau das Minenfeld, auf das ich mich nicht begeben wollte.

»Mein Leben ist gut, wie es ist, Claudio

»Ich mache mir Sorgen um dich«, gab er freimütig zu. »Du bist so allein. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass jemand für dich da ist

Nun musste ich doch lachen.

»Claudio, bitte! Du redest, als sei ich pflegebedürftig

»Ja«, bestätigte er. »Beinahe wäre es so gekommen, oder? Stichwort Pflege: Wer war denn für dich da, als du vor ein paar Monaten den Reitunfall hattest? Als du auf der Intensivstation lagst und zweimal operiert werden musstest? – Alexander war mit Sofia auf den Bahamas, Jo auf Weinreise in Südafrika und ich mitten in Dreharbeiten! Ganz abgesehen von deiner ach so liebevollen Familie, die so getan hat, als wäre der Unfall nur eine Kleinigkeit

»Es war jetzt auch nicht lebensbedrohlich«, spielte ich die Verletzung herunter, obwohl ich es besser wusste. Auch wenn mein Sturz vergleichsweise glimpflich ausgegangen war, hatte ich inzwischen gelernt, dass eine Leberrupturabhängig vom Schweregraddurchaus tödlich enden konnte. Insgeheim musste ich Claudio zudem recht geben: Die Zeit in diesem Krankenhaus und hernach im Reha-Zentrum waren die längsten zweieinhalb Monate meines Lebens.

»Mir geht es wieder blendend«, versicherte ich ihm. »Ich gehe regelmäßig laufen und sitze fest im Sattel

Claudio wirkte weiterhin skeptisch.

»Und sonst?«, erkundigte er sich, nachdem er einen Schluck aus seinem Wasserglas genommen hatte. »Irgendwelche neuen Bekanntschaften? Irgendwelche Kontakte? Was machst du den ganzen Tag, jetzt, wo du Alexander nicht mehr zu Geschäftsessen und auf gesellschaftliche Veranstaltungen begleitest

»Ach, das ÜblicheIch hob die Schultern. »Reiten. Fitnessstudio. Ab und zu ein bisschen Kultur: Konzerte, Theaterich habe hier schon einen Bekanntenkreis, keine Sorge

»Sind es nicht eher Alexanders Bekannte

»Es sind die Exen seiner Bekannten, wenn dus genau wissen willst. Ich bin quasi hochoffiziell in die Runde der Verlassenen aufgenommen worden

»Klingt ja prickelnd

Er gab sich wenig Mühe, seinen Sarkasmus zu verbergen, und ich konnte ihm nicht einmal widersprechen. Manchmal fühlte ich mich in der Gesellschaft dieser Frauen, die ihren Ex-Männern hinterhertrauerten, aber gleichzeitig über sie schimpften, herrlich deplatziert. Sie stritten mit ihnen um Kinder, Geld und Immobilien, vertrieben sich ihre Lebenslangeweile mit Shopping und Charity und hatten kaum ein anderes Ziel, als dem nächsten vermögenden, einflussreichen Alphamann ein Eheversprechen zu entlocken.

»Du willst also hier in Wien wohnen bleiben und so weitermachen wie bisher

»TjaIch hob die Schultern. »Das wäre die eine Option. Es ist eine schöne Stadt mit hoher Lebensqualität

»Und was wäre die andere

Ich verschränkte meine Hände ineinander und schaute ein paar Sekunden auf die Tischplatte, während die leise Jazzmusik im Hintergrund plötzlich überdeutlich an mein Ohr drang.

»Die andere ist, nach Niederbayern zu ziehen und die Leitung des Museums zu übernehmen

»Bitte, wasClaudio stellte sein Glas so schwungvoll auf den Tisch zurück, dass es beinahe überschwappte. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Du willst nach Niederbayern ziehen? Etwa zu deinen Eltern? Und von welchem Museum sprichst du überhaupt

»Ich habe dir doch erzählt, dass mein Vater im Laufe der Jahre eine Sammlung antiker asiatischer Artefakte aufgebaut hat. Er will sie jetzt der Öffentlichkeit zugängig machen. Die Stadt Landshut hat ihm dafür Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Derzeit laufen noch Umbauarbeiten. Die Eröffnung ist für Mitte nächsten Jahres geplant. Vater hat mir angeboten, die Ausstellung zu kuratieren

»Seit wann kennst du dich mit asiatischer Kunst aus

Claudio sah mich über den Rand seines dunklen Brillengestells ungläubig an.

»Bisher fast gar nicht«, gab ich zu. »Aber ich könnte mich einlesen. Immerhin wäre das eine Aufgabe

Auch ohne die zwei steilen Falten, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten, war klar, was mein bester Freund von dieser Idee hielt.

»Es wäre durchaus etwas zu tun«, sagte ich. »Das Museum muss bekannt gemacht werden, braucht ein Gesicht nach außen. Je­mand, der es repräsentiert

»Mehr wirst du ohnehin nicht tun können, als dein Gesicht vor Kameras zu halten und ein paar salbungsvolle Worte zu sprechen. Du wirst nichts selbst entscheiden dürfen, sondern wie eine Marionette in der Hand deiner Familie zappeln

»So schlimm wird es schon nicht werden«, erwiderte ich halbherzig.

Eine asiatische Kellnerin brachte unsere Sushi-Platten an den Tisch und bereitete unserem Gespräch vorübergehend ein Ende. Eine Weile fachsimpelten wir über die diversen Sushi-Variationen, die in ihrem Facettenreichtum über das übliche Angebot japanischer Lokale weit hinausgingen. Ich betrachtete das Muse­ums-Thema schon als erledigt, als Claudio es wieder aufgriff.

»Ich will nicht, dass du das machst«, erklärte er ohne Umschweife. »Es ist die schlimmste Entscheidung, die du treffen könn­­test. Du gäbest damit dein Leben auf! Solange du in den Klauen deines Clans bist, ist dein Weg vorgezeichnet: Du wirst bis zu deinem Lebensende tiefunglücklich und unausgefüllt sein. Du wirst dich tagtäglich in den Erdboden langweilen und irgendwann wieder in den Armen irgendeines adeligen Langeweilers landen. Lena, ich bitte dich, du hast nur dieses eine Leben

»ClaudioIch legte meine Hand auf seine. »Wenn ich etwas aus der Beziehung mit Alexander gelernt habe, dann, dass ich für die Ehe nicht geschaffen bin. Ich brauche diese Art von Nähe nicht

»Das ist doch Quatsch. Er war einfach nur der völlig falsche Mensch für dich. Du bist keines dieser dekorativen Püppchen, deren Leben mit drei Kosmetikterminen und zwei Charity-Events die Woche ausgefüllt ist. Aber genau so eine Frau braucht Alex­ander

»Nun, die hat er mit Sofia nun auch bekommen

Ich sah zu, wie Claudio mit einem Ura-Maki kämpfte. Schließ­lich schob er es ganz in den Mund und war erst einmal mit Kauen beschäftigt, während ich nach einem unverfänglichen Gesprächsthema suchte. Wenn ich nicht rasch eingriff, würde er nur noch tiefer schürfen.

»Dein neues Filmprojekt –«

»Du solltest über –«

Wir sprachen beide gleichzeitig, brachen beide abrupt ab und sahen uns an. Ich wollte gerade von Neuem beginnen, aber Claudio war schneller.

»Du solltest darüber nachdenken, ob du deine Präferenzen nicht endlich auslebst. Das Leben ist zu kurz, um sich zu verbiegen, und ich frage mich, was du eigentlich zu verlieren hast. Um die Liebe deiner Familie kann es ja wohl kaum gehen, man kann be­kanntlich nichts verlieren, was man nie hatte. Abgesehen davon, bist du eine erwachsene Frau

In mir wurde alles zu Eis. Ich legte die Stäbchen zur Seite und starrte auf mein letztes Maki, als wäre es eine Giftspinne, die mich gleich anspringen würde. Kurz war ich versucht, einfach aufzustehen und zu gehen. Dann wurde mir wieder bewusst, dass es Claudio war, der mir gegenübersaß, der Mensch, der mir am nächsten stand. Ich atmete tief durch.

»Du übertreibst. Meine Familie hat zwar die Herzlichkeit nicht für sich gepachtet, aber letztendlich halten wir zusammen

Es war besser, sich auf die Familie zu konzentrieren, als den ersten Teil seiner kleinen Ansprache zu vertiefen.

»Ist das soClaudio tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. »Bisher hatte ich eher den Eindruck, du wirst deinen Ruf als schwarzes Schaf nicht los

»Das ist lange herIch rang mir ein Lächeln ab. »Ich war zwar ein rebellischer Teenager, aber mittlerweile haben sich sämtliche Wogen geglättet. Desiree, meine Schwägerin, hat mich vor Kurzem sogar gefragt, ob ich Patentante werden will

Die Frau meines zwei Jahre älteren Bruders Heinrich war im siebten Monat schwanger, der Nachwuchs wurde für Anfang Februar erwartet.

»Wolltest du nicht aus der Kirche austreten, jetzt, wo du geschieden bist? Du hast mit diesem Verein nichts am Hut, hast du mir bei unserem letzten Treffen erklärt

»Ich habe mich ja auch noch nicht entschieden

Dass ich den Austritt hinauszögerte, hatte zwar weniger mit meinem Zweifel bezüglich der Kirche, als mit meiner katholischen Familie und dem Museum zu tun, doch wenn ich Claudio das sagte, goss ich nur Öl ins Feuer.

Die Bedienung kam und erkundigte sich, ob wir die Dessertkarte wünschten. Stattdessen zahlten wir und zogen uns in meine Wohnung zurück, ehe Claudio in einer Bar womöglich erkannt wurde und sich überenthusiastischer Fans oder sogar der Presse erwehren musste. Unser Zusammensein war privat und sollte es auch bleiben.

Wir verbrachten einen entspannten Nachmittag auf meinem Sofa und mit vorsorglich gekühltem Moët & Chandon. In meiner Ehe mit Alexander hatte ich gelernt, stets für feierliche Anlässe und Besuche gerüstet zu sein. Nachdem wir mein Leben bereits im Restaurant durchgekaut hatten, überließ ich es nun Claudio, von sich zu erzählen. Von einem erfolgreichen Regisseur gab es sicherlich ohnehin mehr zu berichten.

Dabei hatte er zu Schulzeiten als Computerbrain gegolten. Das Rechenzentrum von Schloss Nippe war gut ausgestattet gewesen, früh hatte dort das damals noch ziemlich neue Internet Einzug gehalten. Ich hatte mich nie sonderlich dafür interessiert, aber Claudio gründete mit ein paar Jungs eine Art exklusiven Nerdclub und verbrachte Stunden am Rechner. Damals hatten alle damit gerechnet, dass Claudio nach dem Abitur Informatik studieren würde.

Umso größer war die allgemeine Überraschung, als er sich in Berlin auf der Film- und Fernsehakademie bewarb und prompt aufgenommen wurde. Zwar hatte er in den letzten Schuljahren mit Bravour die Theatergruppe geleitet und mit seinem unkonventionellen Umgang mit Goethe, Schiller oder Shakespeare für Kontroversen gesorgt, doch niemand hatte jemals geglaubt, dass er die Darstellerei als berufliche Laufbahn einschlagen würde.

Bereits in seiner Ausbildung weckte er das Interesse von Leuten aus der Filmwirtschaft, gewann mit Kurzfilmen erste Nachwuchspreise. Er nannte sich nun LePré, weil er seinen Geburtsnamen Hasenzagl für nicht karrieretauglich hielt.

Als frischgebackener Absolvent bekam er dann recht zügig die Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen, und das für die 457. Folge einer etablierten Krimireihe, die seit Jahren ihre Zuschauer an den Vormitternachtsschlaf verlor. Claudios hippe Inszenierung eines Nullachtfünfzehn-Eifersuchtsmordes verhalf dem Sender zu einem Quotenhoch und ihm selbst zu weiteren prestigeträchtigen Projekten. Mit nicht mal sechsundzwanzig Jahren war Claudio plötzlich das Wunderkind der deutschen Filmbranche. Es mangelte nicht an Aufträgen, und er hätte in Deutschland fortan ein ziemlich komfortables Leben haben können.

Doch kurz vor seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag kehrte mein Freund Europa den Rücken und begann in Kalifornien einen Neustart: mit einem Aufbaulehrgang an einer renommierten Filmakademie, mit kleineren Projekten, gefolgt von Arbeiten für einen Fernsehsender. Vor knapp vier Jahren kam dann der Durchbruch. Crazy Cruising zog die Zuschauer in den USA in Massen in die Kinos, und auch in Europa und einigen asiatischen Ländern war der Film ein voller Erfolg. Ein Jahr später spielte ein Folgestreifen ebenfalls Millionen ein. Sein bisher größter Erfolg jedoch war jener Film, in dem ein Mann im festen Glauben, nur noch wenige Monate zu leben zu haben, alles nachholte, was er im bisherigen Leben versäumt hatteund dabei einigen alten und neuen Weggenossen ungeniert die Meinung geigte.

Ich bewunderte Claudio. Aber ich mochte seine Filme nicht. Das wusste er und akzeptierte es. Es waren keine Spielfilme, sondern im Grunde inszenierte Doku-Dramen, die sich haarscharf am ethischen Abgrund entlangbewegten, weil nichtsahnende Menschen dabei unbarmherzig vorgeführt wurden.

Claudio und ich hatten darüber lange Debatten geführt, aber nie zu einem Konsens gefunden. Was für ihn künstlerisch und vertretbar war, blieb für mich ein schonungsloser, die ureigensten Persönlichkeitsrechte verletzender Übergriff, der einzig und allein dazu diente, ungebildete Massen à la Dschungelcamp und Frauentausch zu unterhalten. Dass Claudio wegen seines dynamischen Schnitts auch noch Preise bekam und von Intellektuellen aus allen Ländern in den Himmel gehoben wurde, leuchtete mir nicht ein.

Trotzdem hielt ich ihn für ein Genie. Er war der genialste, vielseitigste und klügste Mensch, den ich kannte. Alexander hatte mir manchmal im Scherz vorgeworfen, ich hätte eigentlich Claudio heiraten sollen, nicht ihn. Ich hatte das stets mit einem Lachen abgetan, doch im Grunde lag er damit gar nicht verkehrt. Ich liebte Claudio und hätte mir ein Leben an seiner Seite durchaus vorstellen können, wenn es für ihn ebenfalls denkbar gewesen wäre. Dass er sexuell anders orientiert war, hätte für mich kein Hindernis bedeutet. Wie sich in den vergangenen Jahren her­ausgestellt hatte, kam ich auch ohne Sex ganz gut zurecht.

Claudio allerdings war im Grunde seines Herzens ein Einzelgänger und auf seine Filmprojekte fixiert. Mittlerweile nutzte er beinahe alle Society-Events, die sich in der Branche boten, um Kontakte zu machen. Dass er jedes Mal schnellstmöglich galant durch den Hinterausgang verschwand, schien kaum jemandem aufzufallen. Claudio liebte seine Wohnungaktuell ein Loft im Zentrum von L.A. – und teilte sie mit keinem. Für ihn gab es nichts Schlimmeres als die Vorstellung, nach Hause zu kommen und erwartet zu werden. Folglich waren seine Beziehungenwenn dieser Ausdruck überhaupt passtenur von kurzer Dauer.

An diesem Nachmittag auf meiner Couch erzählte er mir von einem Regieassistenten namens Pedro, der ihn aktuell glücklich machte, schob aber sogleich nach: »Das ist nichts für immer; der ist erst dreiundzwanzig, der will noch mehr vom Leben

»Du meinst, er will sich noch sexuell ausleben

»BestimmtClaudio grinste, wurde dann aber ernst. »Ich fühle mich alt. Älter, als du dir vorstellen kannst

»Vielleicht ist es doch an der Zeit für eine feste Beziehung

»Ich bin nicht wie duEr verzog den Mund, doch das angedeutete Lächeln erreichte seine Augen nicht. »Ich kann das nicht, und ich will es nicht. Mein Leben ist erfüllt genug

»Meines auch

»Nein«, widersprach er. »Du bist ein Beziehungstyp

Wir steuerten unweigerlich wieder auf das Thema zu, das mir schon im Lokal Bauchweh beschert hatte.

»Jetzt kommt erst mal das Jahresende«, sagte ich leichthin. »Danach sehen wir weiterIch würde ihn ohnehin nicht überzeugen.

»Ja. Danach sehen wir weiterSeine Stimme klang nachdenklich, er sah mich lange an. »Was machst du an Weihnachten?«, erkundigte er sich schließlich.

»Zu meiner Familie fahrenIch wusste, dass er das nicht verstehen würde. Das Zucken seines rechten Augenlids bestätigte es. »Es sei denn, du hast spontan Zeit für mich. Dann buche ich sofort einen Flug und verbringe Weihnachten mit dir unter Palmen

»Prinzessin, da muss ich dich enttäuschen. Ich bin von den Zehenspitzen bis zum Scheitel mit Arbeit und Terminen eingedeckt. Außerdem kommt meine Mutter

Dass dies ein Widerspruch in sich war, fiel ihm anscheinend nicht auf. Mir versetzten seine Worte einen leichten Stich. Irmgard und ich kannten uns. Konnten wir das Fest nicht zu dritt ver­bringen?

»Wie schön«, hörte ich mich dennoch sagen.

»Wir könnten Silvester miteinander verbringen«, schlug er unerwartet vor. »Entweder werde ich auf dieser Filmparty am Broadway Theater sein oder auf einer Yacht vor Key West. Sie gehört einem Produzentenpaar. Coole Typen! Die hätten sicher kein Problem damit, wenn ich jemanden mitbringe; da werden sowieso um die zwanzig, fünfundzwanzig Leute an Bord sein

Kurz sah ich mich tatsächlich an Claudios Seite im eleganten Cocktailkleid durch einen Theatersaal schweben oder auf einem Partyboot mit einer Horde gutaussehender und interessanter schwuler Männer die Hüften schwingen, einen Drink in der Hand. Dann schüttelte ich heftig den Kopf, weil mir zwei Dinge klar wurden. Erstens: Ich hatte bereits etwas vor. Zweitens: Was er mir da anbot, war völlig absurd und eigentlich eine weitere Kränkung.

»Danke, aber da bin ich mit Jo auf Fuerteventura«, erwiderte ich und bemühte mich, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Außerdem ist es unmöglich, so knapp vor Silvester einen Flug zu ergatternob nun nach New York oder Miami, was auch immer du spontan entscheiden würdest

Einen Augenblick lang wirkte er beinahe verlegen. Er merkte, dass ich ihn durchschaut hatte.

»Immerhin haben wir uns heute gesehen. Ich bin für dich da, wann immer du mich brauchst

»Ja. Danke

Mehr wusste ich nicht dazu zu sagen. Das Hochgefühl, das mich bei Claudios Ankunft erfüllt hatte, war verflogen. Ich hatte seine verstohlenen Blicke auf die Uhr bemerkt, die Ungeduld, die von ihm Besitz ergriff, und auch die Tatsache, dass er in Abschiedsformeln sprach. Er würde nicht bleiben.

»Hej, Prinzessin. Mach nicht so ein Gesicht. Ich komme wieder

Er hob mein Kinn mit beiden Zeigefingern und lächelte mich an. Seine braunen Augen schimmerten im Licht der Stehlampe, die mein Wohnzimmer in gemütliches Dämmerlicht tauchte.

»Nur wann du kommst, ist die FrageIch sah zur Seite.

Wir erhoben uns gleichzeitig. Ich begleitete ihn in den Vorraum und sah dabei zu, wie er in seinen schwarzen Parka schlüpfte und die Ballonmütze aufsetzte. Mit einem Mal fühlte mich genauso wie vor ein paar Stunden, als sich Alexander und Sofia vor dem Gerichtsgebäude küssten.

Eine ungewohnte Woge an Emotionalität flutete meinen Körper. Ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und presste die Lippen aufeinander. Hastig wischte ich mir über die Wange und hoffte, dass Claudio nichts merkte. Vergebens.

Er war gerade dabei gewesen, seine Schnürstiefel zu binden, richtete sich nun aber auf und zog mich an sich. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Wollschal und schniefte. Es würden Wochen oder gar Monate vergehen, bis dahin sah ich ihn nur dann und wann über Skype. Obwohl er mich in den Armen hielt, fehlte er mir schon jetzt.

Irgendwann hatte ich mich wieder im Griff. Mit geröteten Augen löste ich mich aus der Umarmung.

»Ich weiß. Ich bin dumm«, sagte ich mit verlegenem Lächeln.

Er blieb ernst. »Du bist einsam. Dagegen sollten wir etwas unternehmen, Prinzessin

Sofort war ich in Alarmbereitschaft. Ich trat zwei Schritte zurück.

»Untersteh dich

Er hob beschwichtigend die Hände. »Alles gut. Ich werde keinen Versuch machen, dich zu verkuppeln. Versprochen

Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.