Jo

Mein Flieger landete um kurz nach zwölf Uhr Ortszeit am Flughafen von Puerto del Rosario, Hauptstadt der kanarischen Insel, auf die mich Jo mit zweifelhaften VersprechungenRuhe, Erholung, Naturgelockt hatte. Fuerteventura war nicht meine Idee gewesen und ich wusste noch immer nicht recht, was ich in dieser kargen Vulkanlandschaft eine Woche lang tun sollte, doch in erster Linie war ich einfach froh, dem nebelverhangenen, kalten Mitteleuropa den Rücken zu kehren. Jo würde erst am frühen Abend von Heathrow aus eintreffen. Also nahm ich den Mietwagen in Empfang und war knapp vierzig Minuten später in unserem Hotel in Corralejo, einem Ort an der Nordküste.

Ich bezog mein Zimmer, packte aus. Vom Fenster aus hatte ich direkten Blick auf das schäumende Meer. Im Vorgarten des Hotels bogen sich die Palmen im Wind. Trotzdem waren einige Liegebetten am Strand besetzt. Mir stach eine Frau im bunten, kimonoähnlichen Strandkleid ins Auge. Sie stand auf einem der Holzstege, die über den goldenen Sand in Richtung Meer führten. Ihr langes, schwarzes Haar wehte.

Ein Mädchen in einem Park. Das dichte, schwarz glänzende Haar vom Wind zerzaust, den Blick in die Ferne gerichtet, den Kopf voller Sorgen.

Die Erinnerung überkam mich so unerwartet und heftig, dass ich taumelte. Für einen Moment stützte ich mich am Fenster ab. Meine Hand hinterließ einen hässlichen Abdruck auf der Scheibe.

Wie aus dem Nichts tauchte nun ein Mann auf und sprach die Frau auf dem Steg an. Sie drehte sich um, hatte ein Lächeln im Gesicht. Die beiden küssten sich.

Und ich landete wieder im Hier und Jetzt.

Atmete tief durch.

Ich durfte den Geistern der Vergangenheit keinen Raum geben. Seit meiner Scheidung schlichen sie sich wieder öfter in meine Gedanken.

Ablenkung war das beste Mittel dagegen. Eilig zog ich meine Sportkleidung und die Laufschuhe an. Wenig später joggte ich den Strand entlang, genau dort, wo das Wasser den Sand gerade nicht erreichte und der Boden noch einigermaßen hart war. Es war dennoch anstrengender als erwartet. Trotzdem lief ich weiter, was ich auch sonst hätte tun sollen. Zeit ohne Vorgaben konnte ich nicht gut aushalten. Meine Internatszeit hatte mich da stark geprägt. Unsere Tage waren sehr strukturiert gewesen: Aufstehen um 6.30 Uhr, Frühstück um 7 Uhr, Unterrichtsbeginn um 7.30 Uhr. Um 12.30 Uhr gab es Mittagessen, um 14 Uhr begann die Studierstunde. Ab 16.30 Uhr fanden die Sportkurse und sonstigen Aktivitäten wie Chorsingen, Musizieren, Theatergruppe oder der Fotokurs statt. Von 18 Uhr bis 19 Uhr hatten wir Zeit für uns selbst. Die meisten von uns waren dann meist schon zu erschöpft, um sie anders zu nutzen, als auf den Betten, oder, wenn es das Wetter zuließ, im Park herumzuliegen. Ab 21.30 Uhr herrschte strenge Bettruhe. Nur am Wochenende ging es etwas entspannter zu.

Schloss Nippe hatte zu dieser Zeit einhundertachtzig Schülerinnen und Schüler aus dreiundzwanzig Nationen. Ein Drittel davon waren Deutsche, eine weitere große Gruppe war aus Amerika, teilweise mit weit zurückreichenden deutschen Wurzeln, dann folgten zahlenmäßig Briten, Spanier, Chinesen und Südkoreaner. Unterrichtet wurde in Englisch; für mich kein Problem, ich kannte es nicht anders.

Es gab einen Jungen- und einen Mädchentrakt. Auch wenn wir in den Kursen und bei den außerschulischen Aktivitäten zusammen waren, galt ein striktes Verbot gegenseitiger Besuche in den Zimmern. Nicht einmal die Kollegstufe, auf der viele bereits die Volljährigkeit erreicht hatten, war davon ausgenommen.

Ich teilte mein Zimmer mit einer deutschen Unternehmertochter namens Astrid, zu der ich nie wirklich Zugang fand. Sie war alles, was ich nicht war: diszipliniert, ehrgeizig und zielstrebig. Während sich Astrid in unserer knapp bemessenen Freizeit in deutsche Literaturklassiker vertiefte oder in einem der Musikzimmer Cello übte, saß ich missmutig auf dem Bett und stopfte Chips und Schokoriegel in mich hinein, weil es leichter war, an Essbares zu kommen als an Zigaretten. In der Kollegstufe gab es zwei Typen, die zu überteuerten Preisen Marlboro und Lucky Strike verkauftenund noch so einiges mehr, das mich aber nicht interessierte. Manch andere dagegen schon. Ich bekam bald einen Blick dafür, wer sich diese bunten Ecstasy-Tabletten einwarf oder regelmäßig Kokain schnupfte.

Ich hasste Sport, der hier so großgeschrieben wurde, und erfand alle erdenklichen Ausreden, um mich vor dem Schwimmunterricht, dem Leichtathletik-Training und sämtlichen Ballspielen zu drücken. Kreislaufzusammenbrüche und Verstauchungen zu simulieren, fiel mir leicht. Nur am Reitunterricht, den ein mit dem Internat kooperierender Hof in der nächsten Ortschaft anbot, fand ich Gefallen. Einmal die Woche durfte ich mich in den Sattel schwingen. Es war wenig, aber besser als nichts. Wenn ich bei den Pferden sein durfte, fühlte ich mich nicht mehr ganz so einsam.

Natürlich knüpfte ich auf Schloss Nippe Freundschaftendiese Art von Freundschaften, die sich ergaben, weil man denselben Kurs besuchte oder zu einer Gruppenarbeit verdonnert wurde. Doch einen echten Zugang zu meinen Mitschülern bekam ich nie. Die meisten waren wie Astrid: zielstrebig, wettbewerbs­orientiert und sich vollkommen darüber bewusst, einer elitären Schicht anzugehören.

Lediglich zu Claudio hatte ich ein engeres Verhältnis. Ich ließ mich von ihm zum Fotokurs und zur Theatergruppe überreden. Weder im Umgang mit der analogen Spiegelreflexkamera noch auf der Bühne bewies ich Talent. Aber ich mochte es, Zeit mit Claudio zu verbringen. Er war witzig, brachte uns bei Projektarbeiten auf tolle Ideen und fand innovative Lösungen für Probleme, mit denen sich sonst niemand auseinandersetzen wollte.

Bald galten wir als Paar. Einige machten anzügliche Witze oder schmierten die Tafel mit unseren Namen und Herzchen voll, wenn kein Lehrer in der Klasse war. Wir verzichteten auf eine Klarstellung. Eine Weile dachte ich tatsächlich, ich sei in ihn verliebt, und stellte mir vor, wie es wäre, ihn zu küssen. Doch die Vorstellung, dass sich unsere Zungen berührten, rief in mir nichts als Ekel hervor.

In diesen ersten Monaten im Internat war Claudio meine einzige Bezugsperson. Ich war unglücklich und hasste die Welt. Und er schien intuitiv zu spüren, was in mir vorging, und war immer da, wenn ich in meinem persönlichen Unglück zu versinken drohte.

An diese harte Zeit auf Schloss Nippe dachte ich zurück, als ich mich jetztfrisch geduscht und mit einer luftigen Sommerhose und Polo-Shirt bekleidetauf den Weg zu Jos Zimmer machte.

Ich hatte kaum geklopft, da wurde die Türe auch schon aufgerissen. Jos hochgewachsene, hagere Gestalt zeichnete sich dunkel im Rahmen ab, während das Zimmer hinter ihr vom Licht eines kleinen Lusters erfüllt wurde.

»Lena

Wir umarmten uns kurz und ich konnte Jos schweres Parfum riechen, das kaum zu einer Frau passte, die nur ein Jahr älter war als ich. Dann trat Jo zur Seite und ließ mich hinein.

Sie hatte eine kleine Suite gebucht, bestehend aus Wohn- und Schlafraum. Ihre Koffer standen noch unangetastet im schmalen Durchgang zum Schlafzimmer. Ein schwarz-weiß karierter Tweed­mantel lag achtlos über die Lehne des Polsterstuhls geworfen.

»Tut mir leid. Ich hätte dich erst auspacken und ankommen lassen sollen

Sie winkte ab. »Unsinn. Ich freu mich, dass du da bist. – Lust auf einen Drink? Die Minibar ist recht ausgestattet

Es war typisch für Jo, dass sie das bereits herausgefunden hatte.

»Wie hast du die Anreise in diesem Ding nur ausgehalten?«, erkundigte ich mich mit einem Blick auf den Mantel über dem Stuhl, während Jo bereits ein Kognak-Fläschchen auf zwei Gläser aufteilte. »In der Sonne hatte es knapp über zwanzig Grad

»Ich bat den Taxifahrer, die Klimaanlage herunterzudrehen«, erwiderte sie unbeeindruckt. »Vermutlich hielt er mich für verrückt, aber damit kann ich leben. Ich hoffe nur, er bekommt keinen Schnupfen

Wir stießen an. Der Kognak hatte eine leicht holzige Note und hinterließ einen ungewohnt rauchigen Geschmack.

»Hmgeht so«, kommentierte Jo, die mit Kognak gewiss mehr Erfahrung hatte als ich. Sie stellte ihr Glas auf den grazilen Couchtisch und musterte mich von unten bis oben.

»Die Scheidung schmeichelt dir. Und der neue Haarschnitt auch. Wer hätte gedacht, dass dir kurze Haare so gut stehen

»Die Friseurin«, antwortete ich trocken, und wir lachten beide.

Vor dem anstrengenden, deprimierenden und vor allem desillusionierenden Weihnachtsfest im Familienkreis hatte ich mich in einem Anflug plötzlicher Kühnheit von meinem langen Haar getrennt. Nach einer unendlichen Abfolge von Shamponaden, Kopfmassagen und Pflegekuren sowie einer zwanzigminütigen Schnippelei sah ich im großen Spiegel vor mir eine Frau, die aussah, als hätte sie den Tag auf einem Surfbrett an der australischen Küste verbracht. Die Friseurin, die sich laut Visitenkarte Stylistin nannte, hatte meine vergessenen Locken zum Leben erweckt. Insgesamt wirkte mein Haar dank des Stufenschnitts im Nacken voller und durch den Wegfall der ausgebleichten Strähnen auch ein paar Nuancen dunkler.

Während ich mich selbst relativ schnell an mein neues Aussehen gewöhnt hatte und mich über die Zeitersparnis bei der Morgentoilette freute, nörgelten Mutter und meine ältere Schwester Hedwig die gesamten Feiertage herum. Die neue Frisur lasse mich unweiblich wirken, lautete der Hauptvorwurf, und ich sei zudem noch viel zu jung dafür. Ich ließ sie reden, weil ich wusste, dass kein Argument der Welt sie von ihrem Urteil abgebracht hätte.

Dass Jo mein neues Erscheinungsbild gefiel, fühlte sich da wie eine kleine Streicheleinheit an. Im Unterschied zu mir hatte sie sich kaum verändert. Im Großen und Ganzen sah sie noch immer aus wie das Mädchen, mit dem ich mich im Reitstall angefreundet hatte.

Damals war sie nur noch dünner gewesen und hatte kaum Busen, dafür aber Akne. In ihren ausgewaschenen Reithosen, mit Schlammspritzern überzogenen Lederstiefeln und nach nassem Hund riechenden Wollpullis wäre sie problemlos als Pferdepflegerin und Stallhilfskraft durchgegangenbis sie den Mund auftat. Denn ihre Aussprache und die gestelzte Betonung entlarvte sie als das, was sie war: ein Mitglied der britischen Upperclass.

Außer dem Reiten verband uns keine außerschulische Aktivität. Sie war eine Klasse weiter als ich und erschien mir immer unnahbar und arrogant, weshalb ich nie das Gespräch mit ihr ge­sucht hatte.

Natürlich kannte ich ihren vollen Namen: Elizabeth Joanne Catherine Houndsville-Montgomery. Angeblich war sie über Ecken mit dem englischen Königshaus verwandt.

Ihr fiel auf, dass ich nicht wusste, wie man ein Pferd satteltwas sie restlos amüsierte und mich noch mehr in Rage versetzte. Immerhin kam sie mir zur Hilfe, und nachdem wir uns eine Weile angezickt hatten, wurden wir Freundinnen. Abgesehen davon, dass sie weit mehr von Pferden verstand als ich und selbst vor den breitesten und höchsten Oxern nicht zurückschreckte, wusste Jo, wo und wie sie an die günstigsten Zigaretten kam. Der Reitlehrer versorgte sie regelmäßig mit Nachschub, wovon in Folge auch ich profitierte.

Fast zwanzig Jahre später rauchte sie noch immer. Ihre unreine Haut gehörte allerdings der Vergangenheit an. Jo war nach wie vor keine Schönheit, hatte sich aber in eine gepflegte Frau verwandelt, die Goldschmuck liebte und die, wenn sie nicht gerade in Reithosen mit speckigem Lederbesatz steckte, gerne teure Kleidung trugaktuell ein geblümtes Kleid aus der Kollektion eines aufstrebenden britischen Designers, von dessen Talent sie schwärmte, der meinen Geschmack aber so wenig traf wie ihr Parfum.

Zwei Stunden später hatte sie ihr Blümchenkleid gegen einen eleganten Jumpsuit und die Perlohrringe gegen auffällige Kreolen eingetauscht. Ich trug noch immer meine beige Hose und das Polohemd und kam mir neben ihr beinahe vor wie Aschenputtel. Wir saßen am Fenster des Hotelrestaurants mit Blick in den Vorgarten. Die Sicht auf das Meer war von einer kleinen Steinmauer und ein paar Palmen verdeckt, die nach Einbruch der Dunkelheit von Scheinwerfern beleuchtet wurden. Die Flasche Rioja im Weinkühler war nur noch halb voll. Den ersten Gang hatten wir bereits vertilgt und warteten nun gespannt auf den Hauptgang. Die Küche des Restaurants schmückten immerhin zwei Michelin-Sterne.

Bisher hatten wir nur über unser gemeinsames Hobby geplaudert, den Reitsport. Während ich mich nach dem Schulabschluss vorrangig auf das Springreiten konzentriert hatte und dank erstklassiger Pferde und einer exzellenten Trainerin immerhin auf internationalen Turnieren starten konnte, war Jo einen völlig anderen Weg gegangen. Sie hatte sich vom Turniersport zurückgezogen und hielt sich stattdessen auf ihrem Landsitz nordöstlich von London eine Meute Foxhounds. Die von ihr organisierten Schleppjagden mit den rund vierzig Hunden waren legendär.

»Wie war Weihnachten bei deiner Familie?«, wechselte sie nun das Thema.

Ich nahm einen tiefen Schluck Wein. »Nun, immerhin habe ich es überlebt

Jo zog die Augenbrauen hoch. »So schlimm

»Nein. Eigentlich nicht. Es war nur …« Ich seufzte, suchte nach den passenden Worten. »Im Prinzip wie immer, nur dass es jedes Mal noch unangenehmer wirdIch atmete durch, dachte über meine eigenen Worte nach. »Vielleicht liegt es aber auch an mir selbst. Immer, wenn ich zu einem dieser Familientreffen fahre, hoffe ich, dass sich etwas geändert hat. Dass sie nunnormalerglücklicher geworden sind. Aber dann sitze ich dort und sehe, dass es eher schlimmer geworden ist. Mutter pflegt ihre hausgemachten Depressionen und ihr Image als Pessimistin, Vater ignoriert sie und hält Monologe über seine Kunstsammlung, das Museum und irgendwelche Beratertätigkeiten. Meine Schwester Hedwig und ihr Graf sind Kopien meiner Eltern: Er steht mitten im gesellschaftlichen Leben, sie an seiner Seite. Wenn sie sich alleine wähnen, höre ich sie miteinander zanken oder die Kinder zusammenschreien. Mein Bruder Harald versucht verzweifelt, sich aus Mutters Klauen zu befreien, wird von ihr aber weiter behandelt wie ein Kleinkinder ist vierundzwanzig, das muss man sich mal vorstellen! Ich kann nur für ihn hoffen, dass er nach seiner Ausbildung im diplomatischen Dienst nach Burkina Faso oder Papua-Neuguinea versetzt wirdirgendwohin, wo sie nicht ständig hinter ihm her telefonieren kannIch merkte, dass ich mich in Rage geredet hatte, und drosselte meine Stimme. »Jedenfalls bin ich froh, dass ich jetzt mit dir hier bin

Jo lächelte warmherzig.

»Das bin ich auch. Schließlich haben wir uns seit Monaten nicht gesehen. Du hast dieses Jahr an keiner einzigen Jagd teilgenommen

»Der Unfall«, erklärte ich etwas zu rasch. »Hector kann noch nicht voll belastet werden

Bei meinem schweren Reitunfall im Mai hatte sich auch mein Pferd verletzt; die Trainerin hegte Bedenken, ob es je wieder in höheren Leistungsklassen einsetzbar war.

»Du hättest eines meiner Pferde haben können

»Hmm, ja

Ich war erleichtert, dass in diesem Augenblick der Hauptgang serviert wurde. Jo hatte eine Dorade mit Kräuterfüllung bestellt, ich Meeresfrüchte auf Pinien-Basilikumschaum. Beides war kunstvoll angerichtet. Wir bewunderten gegenseitig unsere Teller, ehe wir uns den ersten Bissen auf der Zunge zergehen ließen.

Ich wollte Jo nicht sagen, was ich mir selbst kaum eingestehen konnte: Der Unfall, bei dem ich zwischen Pferdeleib und Hindernisstange geraten und fast erdrückt worden war, hatte etwas in mir verändert. Die Angst saß seither mit im Sattel. Ab da war ich nicht mehr gesprungen. Dass ich in Hectors Verletzung eine glaubwürdige Ausrede hatte, kam mir äußerst gelegen.

»Du hattest wirklich eine Pechsträhne«, stellte Jo nüchtern fest. Sie meinte damit nicht nur den Unfall, sondern auch, dass mein Zweitpferd, eine noch junge, aber vielversprechende Stute, ein Jahr zuvor an einer Kolik verstorben war. »Hast du dich schon nach Ersatz umgeschaut

Ich kaute auf einem Stück Tintenfisch herum, obwohl es butterweich war. »Das steht im Moment nicht zur Diskussion«, sagte ich schließlich.

Jo bedachte mich mit einem kurzen, prüfenden Blick. Dann begriff sie. In unseren Kreisen galt es als eines der größten Tabus, über Geld zu sprechen. Geld war zu selbstverständlich und gleichzeitig ein viel zu heikles Thema.

»Ziehst du deshalb die Sache mit dem Museum in Betracht

Ich blinzelte überrascht.

»Woher weißt du das

»Ich habe Claudio getroffen. Er hat mir davon erzählt

»Wann

Ich stutzte. Von seinem Kurzbesuch bei mir in Wien aus war Claudio gleich nach München zu seiner Mutter geflogen; danach gleich zurück in die USA. Oder etwa doch nicht?

»Vor Weihnachten. In London«, antwortete Jo unbefangen. »Wir hatten einen netten Abend in einer Bar in Soho

Dass sich die beiden getroffen und über mich gesprochen hatten, störte mich weniger als der Umstand, dass Claudio mir nichts von dem Treffen erzählt hatte. Natürlich konnte er sich treffen, wo und mit wem er wollte. Doch Jo war eine gemeinsame Freundin, warum hatte er es also nicht erwähnt?

Ich spülte meinen Ärger mit dem letzten Schluck Wein herunter und sah zu, wie ein dienstbeflissener Kellner das Glas nachfüllte.

»Claudio findet das mit dem Museum keine Lösung«, sagte Jo. »Und ich ehrlich gesagt auch. Du hältst es kaum vier Tage mit deiner Familie aus. Wie willst du dich dauerhaft mit ihnen arrangieren

»Ich würde nicht bei meinen Eltern einziehen, nur mit meinem Vater zusammenarbeiten«, stellte ich klar. »Außerdem ist es nicht gerade so, als ob ich viele Alternativen hätte

»Was ist mit Alexander? Fühlt er sich nicht mehr für dich verantwortlich

Das war Jos elegante Umschreibung für die Frage nach den Konditionen unserer Scheidung.

»Wir haben uns gütlich geeinigt. Er hat mir den Reitsport ermöglicht. Hector gehörte im Grunde ihm. Nun ist er offiziell in meinem Besitz

Jo zog erneut die Augenbrauen hoch. Sie seufzte. »Ein verletztes Pferd. Ich kann nicht fassen, dass du das so akzeptiert hast

»Ich wollte keinen Rosenkrieg

»Es geht nicht darum, was du willst, sondern darum, was erforderlich istJo hatte ihren Teller geleert und tupfte sich den Mund mit der Stoffserviette ab. »Manchmal muss man an sich selbst denken

Sie wusste, wovon sie sprach. Nachdem sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, verstrichen gerade einmal zwei Jahre, ehe sie sich mit Archie Fitzgerald verlobte. Ihre Eltern, zu denen sie ohnehin ein angespanntes Verhältnis hatte, sahen das als astreinen Skandal: ein Mann, der älter war als Jos eigener Vater und nicht aus Adelskreisen stammte. Sie stellten sie vor die Wahl: Entlobung oder Enterbung. Jo entschied sich für Archie und verbrach­te mit ihm fünf glückliche Jahre, von denen sie immer noch emotional zehrte. Dann erlitt Archie beim Golfen einen Herzinfarkt. Jo erbte ein Millionenvermögen und mehrere Immobilien allerdings erst nach einem hässlichen, über drei Jahre dauernden Rechtsstreit mit dessen drei Kindern aus erster Ehe, die das Testament ihres Vaters anfochten.

Meine Situation war eine gänzlich andere. Alexander hatte mir vieles ermöglicht und wenig verlangt. Insgeheim fühlte ich mich schuldig, weil ich ihm letztlich versagt hatte, was in einer Ehe selbstverständlich sein sollte: Liebe. Leidenschaft. Vertrauen. Ihn auch noch finanziell auszubeuten, schien mir nicht angebracht.

»Ich würde die Sache mit dem Museum ja nicht ewig machen«, sagte ich nun und gab mich dabei überzeugter, als ich es war. »Nur vorübergehend, bis sich etwas anderes findet

»Ah jaUnverhohlene Skepsis stand in Jos Gesicht. »Woran genau denkst du da? Doch nicht etwa an einen richtigen Job

»Das wäre eine Möglichkeit

Sie lachte. »Eine wenig aussichtsreiche, soweit ich das beurteilen kann. Wie viel Semester hast du Anglistik studiert? Drei, vier

»Fünf

»Na, wunderbar!«, erwiderte sie trocken. »Ich werde mich gerne für dich umhören, ob sich da etwas findetDann lehnte sie sich nach vorne und berührte flüchtig meine Hand. »Du sollst wissen, dass du immer bei mir willkommen bist. Wir könnten das mit den Jagden in Zukunft gemeinsam aufziehen. Ich könnte Hilfe gut gebrauchen

Das war Jo, meine Freundin mit dem großen Herzen. Die Vor­stellung, auf ihre Unterstützung angewiesen zu sein, war jedoch absurd und würde unserer Freundschaft langfristig schaden. Das wussten wir insgeheim beide, auch wenn sie es in diesem Moment wirklich ernst meinte.

»Danke, Jo«, sagte ich daher sanft. »Aber ich denke nicht, dass die Jagd das Richtige für mich ist

Sie lächelte erleichtert.

*

»Oh, sorry

Fast gleichzeitig zogen die Frau und ich unsere Hände wieder zurück, die im selben Moment nach der kleinen Schaufel beim Rührei hatten greifen wollen. Am Frühstücksbuffet herrschte für ein Hotel dieser Preisklasse überraschender Andrang. Andererseits lag das möglicherweise auch an der Uhrzeit. Um Viertel nach neun fühlten sich wohl fast alle bereit, in den Tag zu starten.

Ich trat einen kleinen Schritt zurück, um der Frau den Vortritt zu lassen. Sie schaufelte sich eine großzügige Portion auf ihren Teller, auf dem sich bereits angebratener Speck, frittierte Zucchinischeiben, in Öl eingelegte Auberginen und mit Käse überbackene Tomaten häuften. Alles schwamm in goldglänzendem Fett. Dabei ernährte sie sich der Figur nach eher von Äpfeln und Salat. Ein kobaltblaues Stretchkleid schmiegte sich eng an ihren schlanken Körper und machte kein Geheimnis aus ihrem wohlproportionierten Gesäß und einer Oberweite, die für eine so zierliche Person durchaus respektabel war.

Sie war fast einen halben Kopf kleiner als ich, obgleich sie Schuhe mit leichtem Absatz trug. Ein südländischer Typ mit olivbraunem Teint und dunkelbraunen, vollen Haaren, die bis über die Schulterblätter reichten.

Ein amüsiertes Lächeln tanzte über ihre vollen, roten Lippen, als sie mich jetzt ansah. »Das ist nicht für mich«, antwortete sie auf meine unausgesprochene Frage, wie ihre Linie und die Speisen auf ihrem Teller zueinanderpassten. »Ich würde niemals etwas so Grauenvolles essen wie dieses Fertigrührei. Wissen Sie ei­gent­lich, wie so etwas hergestellt wird? Aus Volleipulver und massenhaft Zusatzstoffen! Kein Wunder, dass es schmeckt, als würde man Karton essen

Kurz war ich perplexnicht nur, weil eine Wildfremde mir einen Vortrag über Ernährung hielt, sondern auch, weil sie mich ohne zu zögern auf Deutsch angesprochen hatte. Mein kurzes Oh, sorry konnte ihr meine Muttersprache nicht verraten haben. Dass sie mich mit irgendjemandem Deutsch hatte sprechen hören, war ausgeschlossen. Seit meiner Ankunft sprach ich nur Englisch, und das ohnehin akzentfrei.

Offenbar sah ich mit meinem blonden Haar, dem Poloshirt und der weißen Dreiviertelhose deutscher aus als gedacht.

»Ah ja?«, erwiderte ich distanziert und wollte mich abwenden, doch sie war mit ihrem Vortrag noch nicht fertig.

»Sie können Omelette, weiches Ei oder Spiegelei direkt am Tisch bestellen, wussten Sie das nicht? – Das ist ganz frisch und original vom Huhn, ohne Chemie

Gewöhnlich schätzte ich es nicht, ungebeten belehrt zu werden. In diesem Fall aber hielten mich dunkle, lebhafte Augen und ein charmantes Lächeln davon ab, mich mit einem kühlen Danke abzuwenden und zu gehen. Die Frau kam mir außerdem irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatten wir uns schon mal auf einem Charity-Event oder während einer Reitveranstaltung gesehen.

»Kennen wir uns von irgendwo her?«, fragte ich mit ehrlichem Interesse.

Ihr Körper versteifte sich, das Lächeln erfror.

»Ich wüsste nicht, woher«, sagte sie. Der abweisende Unterton in ihrer Stimme stieß mich unweigerlich vor den Kopf.

»Tut mir leid. Dann habe ich Sie verwechselt

Ich wandte mich ab und ging zu den Broten. Die Lust auf Fertigrührei hatte sie mir erfolgreich ausgetrieben.

»Für das, was auf deinem Teller liegt, warst du aber ganz schön lange weg

Jo sah verwundert auf, als ich mich wieder an den Tisch setzte. Auf ihrem zuvor randvollen Teller lag nur noch ein halber Muffin.

»Diese Hotelbuffets überfordern mich immer völlig«, erwiderte ich, was die Wahrheit war. Kurz überlegte ich, ob ich ihr von meiner Begegnung mit der schönen Unbekannten erzählen sollte, ließ es dann aber sein. Was gab es da schon zu sagen?

Eine Kellnerin kam und brachte Kaffee. Während ich an der Tasse nippte und meine Lebensgeister erwachten, glitt mein Blick suchend durch den Saal. Die Frau war nirgendwo mehr zu entdecken.

*

Nach dem Frühstück erschloss ich joggend die Altstadt von Corralejo, die sich um einen kleinen Hafen drängte. Einige pittoreske Häuser, ein paar Bistros und Cafés, vereinzelte Geschäfteviel bot der Touristenort hier nicht. Die eigentliche Einkaufsmeile befand sich laut Hotelplan außerhalb des Zentrums.

Zurück im Hotel duschte ich, schlüpfte in Shorts und T-Shirt und zog mit Bikini, Handtuch, Handy und einer älteren Ausgabe des Time Magazine aus der Hotelbibliothek an den Strand.

Jo hatte es sich dort bereits in einer Liegemuschel bequem gemacht. Es hatte vierundzwanzig Grad, doch ebenso wie gestern wehte ein frischer Wind, dennoch sonnte sie sich im Badeanzug. Ihr Roman hatte sie so in Bann gezogen, dass sie mich erst bemerkte, als mein Schatten über ihr Gesicht fiel.

»Oh, da bist du jaSie setzte sich auf und rutschte bereitwil­lig auf eine Seite der Korbliege, die für ein verliebtes Pärchen ge­wiss ideal, für Freunde aber eher etwas zu kuschlig war. Ich winkte ab und zog mir einen Liegestuhl heran.

»Da wird es dich wegblasen«, prognostizierte sie skeptisch. »Man­che Windböen sind recht unangenehm

Tatsächlich waren nur wenige Liegebetten besetzt. Ein Kellner des Hotels servierte einem Paar in der vorderen Reihe Cocktails in dekorativer Aufmachung. Jo winkte ihn prompt herbei.

»Für uns dasselbe

»Danke, für mich nicht«, korrigierte ich, ehe er die Bestellung aufnahm. Um ein Uhr Mittags war meine Lust auf Alkohol noch schwach ausgeprägt. »Lieber einen Orangensaft. Frisch gepresst

»So gesund«, scherzte Jo, nachdem er uns den Rücken gekehrt hatte. »Wir haben Urlaub, schon vergessen

»Das heißt nicht, dass ich ihn im Delirium verbringen will

Ich sah zu, wie sich Jo eine Zigarette anzündete. Sie brauchte mehrere Versuche, um dabei dem Wind zu trotzen. Dass es ihr im Laufe des Vormittags schon mehrmals gelungen war, bewies der halbvolle Aschenbecher auf dem Beistelltisch.

Mein Orangensaft war genauso hübsch dekoriert wie Jos Cocktailmit Schirmchen, Strohhalm und einem kleinen Fruchtspieß. Jo zückte ihr Handy, und wir schossen ein Selfie mit den Drinks in den Händen und schickten es Claudio. Für einen Moment waren wir nicht mehr Mitte dreißig, sondern vierzehn und fünfzehn. Es dauerte nicht lange, und ein Foto von Claudio ging auf Jos Handy ein. Es zeigte ihn unter einer Palme. Er würde Silvester also auf der Yacht in Miami verbringen, nicht in New York.

Ich betrachtete das Foto lange, ohne genau zu wissen, weshalb. Irgendetwas daran irritierte mich.

»Findest du nicht auch, dass er krank aussieht

Jo nahm das Handy und steckte es zurück in ihre Tasche. Über uns kreischte eine Möwe, die schon seit einer Weile ihre Kreise über dem Strandabschnitt zog.

»Er ist sicher nur überarbeitet«, erwiderte sie dann. »Die paar Tage Erholung über Silvester werden ihm guttun

Ich zog an meinem Strohhalm und blickte gedankenverloren auf das Meer, das immer wieder schäumend ein paar Meter Strand unter Wasser setzte, ehe es sich still zurückzog. Noch vor ein paar Tagen hätte ich Jos Meinung geteilt. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Blass war Claudio immer, was vor allem daran lag, dass er frischer Luft wenig abgewinnen konnte. Bei unserem letzten Treffen aber hatte er erschöpft gewirktund auf seltsame Weise blutleer. Wenn wirklich übermäßiger Stress die Ursache für seinen Zustand war, hatte ich so meine Zweifel, dass ein paar Tage auf einem Boot helfen würden. Claudio konnte sich auf diese Art nicht erholen. Es fiel ihm ebenso schwer wie mir, einfach nur herumzusitzen.

Auch jetzt wusste ich bereits, dass ich es nicht ewig auf diesem Liegestuhl am Strand aushalten würde. Der Wind ließ mich in meinen dünnen Sachen frösteln. Ich wunderte mich, wie Jo es im Badeanzug aushielt. Britinnen hatten eben ein anderes Kälteempfinden.

Jo klappte ihr Buch zu.

»Wenn ich das hier so lese, komme ich zu dem Schluss, dass die Emanzipation an uns spurlos vorübergegangen ist«, sagte sie. »Dieser Roman ist Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erschienen

Ich warf einen kurzen Blick auf das Cover und runzelte die Stirn. Wuthering HeightsSturmhöhe von Emily Brontë.

»Ich bin keine Literaturexpertin, aber soweit ich es in Erinnerung habe, gehts da um eine unerfüllte Liebe, verbitterte Menschen und kaputte Familien

»Das Kernthema ist doch, dass Catherine ihrem Heathcliff einen Mann vorzog, den sie nicht liebte, der aber Geld und Ansehen hatte. Also ging es sehr wohl darum, sich gut zu verheiraten«, hielt Jo dagegen. »Und das ist damals wie heute so. Ich meine, sieh dich mal um: so wie Cathy entscheiden sich noch immer viele Frauen. Wenn du zum Beispiel an unsere Mitschülerinnen denkstmit einigen bin ich noch lose in Kontakt, und ich kann dir versichern, dass ein Großteil davon Cathy alle Ehre macht

Ich dachte an mich selbst. Steckte auch in mir eine Catherine? Es war besser, diesen Gedanken nicht laut auszusprechen. Er würde automatisch die Frage nach dem Heathcliff meines Lebens aufwerfen

»Manche von ihnen haben aber auch Karriere gemacht und den Mann geheiratet, den sie lieben

»Zum Beispiel welche

Jo wollte nicht locker lassen.

»Lillian McLoydsie ist Journalistin und schreibt für das Time Magazine und einige Tageszeitungen. Oder Nicole Dubois! Sie heißt jetzt mit Nachnamen Bernard und leitet die Marketingabteilung von Louis Vuitton in Asien. Luana Wong ist Aktienanalystin in Hongkong und mit einem Engländer verheiratet. Deborah Hin–«

»StoppJo hob die Hand. »Ich rede nicht von solchen Leuten. Ich spreche von unserer Gesellschaft

Was sie meinte, waren unsere Mitschülerinnen aus Adelskreisen. Ich dachte nach. Tatsächlich fiel mir ad hoc keine einzige ein, die eine erwähnenswerte Karriere hingelegt hatte.

»Siehst du«, sagte Jo triumphierend. »Für uns war von vornherein nur Heirat vorgesehen. Ich für meinen Teil bin froh, dieses Kapitel erfolgreich abgehakt zu haben

Sie nahm ihr Cocktailglas, saugte am Strohhalm und wirkte dabei äußerst zufrieden.

»Ich hätte gerne ein paar Jahre mehr mit Archie gehabt«, fuhr sie fort, als sie das nun leere Glas zurück auf das Tischchen stellte. »Du weißt: Ich habe ihn wirklich geliebt. Allerdings war uns beiden von Anfang an klar, dass uns nicht viel Zeit blieb. Sein Tod kam ja nicht unerwartet. Er hatte einen Herzfehler, habe ich dir das erzählt

Nein, hatte sie nicht. Das war mir völlig neu.

»Das tut mir leid«, sagte ich automatisch und hatte unwillkürlich das Bild dieses alten, aber lebhaften Mannes vor Augen, der einer überaus glücklich wirkenden Jo im weißen Kleid den Ring an den Finger steckte. Es war ein bewegender Augenblick gewesen.

»Nun, wie auch immer. So sind die Tatsachen. Ich bin jetzt Witwe und will es auch bleiben«, stellte Jo nüchtern fest. »Und weißt du, warum? Weil ich endlich tun und lassen kann, was ich möchte. Als ledige Frau wollen dich alle verkuppeln. Du wirst bei Partys und Empfängen neben Junggesellen platziert und verbringst die nervigsten Stunden. Bist du aber Witwe, lässt man dich in Ruhe. Und falls sich doch jemand vorwagt und meint, er müsse dich zurück auf den Heiratsmarkt zerren, quetschst du dir ein paar Tränen heraus und sagst, dass es für dich nur den einen gab und dass dein Herz voller Trauer istSie fasste sich mit einer theatralischen Bewegung auf die linke Brust. »Und so hast du Ruhe vor lästigen Kuppeleien, lebst dein Leben, wie es dir gefällt, vögelst, wen du willst, und brauchst dir von niemandem dreinreden lassen. Herrlich

Während mich ihre unverblümten Worte erst einmal sprachlos machten, schüttelte sie seelenruhig das Kissen in ihrer Korbmuschel auf und machte es sich dann wieder bequem, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

»Also, ich kann das nur empfehlen!«, setzte sie zu allem Über­fluss hinzu.

»Ähwie bitte? Du meinst, Witwe zu werden? Hätte ich Alexander etwa umbringen sollen

»Besser wärs gewesen«, erwiderte sie trocken. »Aber jetzt ist es dafür zu spät. Du bist geschieden, nicht verwitwet, du bist Mitte dreißig, und du hast langfristig gesehen ein finanzielles Problem

Jo hatte wirklich Talent darin, heiße Themen zu umschreiben.

»Und was genau empfiehlst du mir jetzt?«, fragte ich so dümm­­­lich, wie ich wohl auch aussah.

»Na, dein Leben einstweilen zu genießen. Du suchst dir jemanden fürs Bett und nebenher einen geeigneten Sponsor

»Den ich dann umbringe, um Witwe zu werden

Jos Cocktail musste recht hochprozentig gewesen sein. Am Vorabend hatte sie doch noch ziemlich vernünftig gewirkt, was meine Zukunft betraf.

»Ich meine es ernst, LenaSie musterte mich streng. »Du bist jetzt quasi Single. Du kannst dich nach Herzenslust austoben. Egal, ob Kellner, Bademeister, Stallbursche oder GärtnerHauptsache, er sieht knackig aus und macht später keine Probleme. Die besten One-Night-Stands hast du mit denen, die auch nur Sex wollen, also nicht gefühlsduselig werden, und die du danach nicht mehr wiedersehen musstbeispielsweise, weil sie am anderen Ende der Welt wohnen

»Danke für die Tipps«, erwiderte ich ironisch. »Ich stelle fest, du bist eine echte Expertin

»Im Gegensatz zu dir sicher«, sagte Jo ungerührt. »Du weißt ja, früh übt sich. Während du auf Schloss Nippe noch mit Farah Abba-Najjar im Park gesessen und unter der Platane über die Schlechtigkeit der Welt philosophiert hast, habe ich meine praktischen Erfahrungen diesbezüglich gesammeltSie grinste.

Ich nicht. Bei der Erwähnung von Farah brach mir kalter Schweiß aus. Jo erzählte irgendetwas von einem Küchengehilfen auf Schloss Nippe, doch ich hörte nicht mehr zu. Das Meer drang plötzlich überlaut an mein Ohr und überdeckte ihr belangloses Geplauder. Der Sand begann vor meinen Augen zu flimmern.

Und dann sah ich Farah, wie sie den Strand entlangspazierte, mit wehendem Haar und in einem blauen Kleid. Sie trug ihre Sandalen in der Hand und ließ die nackten Füße von den Wellen umspülen, die in einem geheimen Rhythmus über den Sand schwappten und kleine, weiße Schaumkronen hinterließen. Dann bog sie auf den Holzsteg ab, der an den Liegestühlen vorbei zurück zur Promenade und zum Hotel führte. Sie kam direkt auf mich zu. Meine Kehle wurde trocken.

Das kann nicht sein, sagte mein Verstand. Das ist nicht echt. Ich wandte meinen Kopf so heftig zur Seite, als hätte mir jemand eine Ohrfeige verpasst. Jos Stimme drang nun wieder ganz klar zu mir durchsie war noch immer bei Stelldicheins mit Küchengehilfen. Die Frau im blauen Kleid war nur noch wenige Schritte von mir entfernt. Ich erkannte jetzt deutlich ihr Gesicht.

Es war nicht Farah. Natürlich nicht. Es war die Frau, die mir am Frühstücksbuffet begegnet war und mich über Fertigrührei aufgeklärt hatte. Sie schenkte mir ein kurzes Lächeln, als sie an mir vorbeiging.

Auf Jos Wunsch hin setzten wir uns eine halbe Stunde später ins Hotelbistro. Jo bestellte Surf & Turf und leerte ihren Teller bis auf das letzte Salatblatt. Ich zwang ein paar Muscheln in Weißweinsoße herunter, ehe ich mich auf die Toilette entschuldigen musste.

Blass, mit roten Augen und einem schalen Geschmack auf der Zunge stand ich kurze Zeit später vor dem Spiegel. Ich sah krank und fertig aus, wozu gewiss auch die uncharmante Neonbeleuchtung beitrug. Ich spülte mir den Mund aus, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und zwickte mir Farbe in die Wangen. Zum ersten Mal in meinem Leben bedauerte ich, dass ich nicht zu den Frauen gehörte, die ständig Rouge und Lippenstift mit sich herumtrugen.

Irgendetwas stimmte nicht mit mir.

Ich musste aufhören, überall Farah zu sehen.

Die Erinnerung an eine Tote tat mir nicht gut.