Selina

Nach dem ersten Strandtag zeigte sich Jo glücklicherweise bereit, die Insel zu erkunden. Während wir den Montag in der Hauptstadt Puerto del Rosario verbrachten, Skulpturen bekannter und unbekannter Künstler bestaunten, die Hafenpromenade sowie die Fußgängerzone entlangschlenderten und schließlich in einem kleinen Lokal an der Plaza de España fangfrischen Fisch aßen, fuhren wir am Dienstag, dem letzten Tag dieses Jahres, weiter gen Süden.

In aller Ruhe spazierten wir durch den Oasis Park, einen Tierpark mit botanischem Garten. Jo verbrachte eine ganze Stunde damit, Giraffen mit Äpfeln und Karotten zu füttern, die der Park seinen Besuchern zum Kauf anbot, während ich ihr geduldig zusah und mich still darüber amüsierte, wie sie sich mit ein paar Kindern um die besten Plätze am Gehege stritt. Als wir gegen vier Uhr endlich den Zoo verließen, war ich erleichtert und Jo rundum begeistert.

Das Hotel hatte zu Silvester einen Galaabend mit Band angesetzt. Da wir bis dahin noch einige Stunden Zeit hatten, fuhren wir weiter bis zu einer winzigen Ortschaft namens La Pared; dort sollte es die spektakulärsten Wellen geben und Surfer, die ihre Künste zur Schau stellten.

Die Wellen vor der Steilküste erwiesen sich tatsächlich als spek­takulär, wogegen die paar Surfer, die sich noch im Wasser tummelten, dem Anschein nach mehr damit beschäftigt waren, nicht zu ertrinken, als auf ihren Brettern elegant über das Wasser zu gleiten.

Jo und ich folgten daher dem Wegweiser zu einem Lokal, das etwas unterhalb der Ortschaft vor einem Felsplateau lag, und ergatterten einen der letzten Plätze auf der Sonnenterrasse. Zwischen den Felsen kraxelten zahlreiche Menschen herum, was mich neugierig machte.

»Was gibt es da zu sehen?«, fragte ich den Kellner und hatte erstmals Gelegenheit, mein nicht ganz so perfektes Schul-Spanisch auszupacken.

»Das Meer«, erklärte er schulterzuckend. »Aber wilder als da vorneEr wies mit dem Kinn in die Richtung, aus der wir ge­kommen waren.

»Komm, lass uns zahlen und selbst schauen gehen«, schlug ich vor.

»Oh nein, nicht mit mirJo wies entrüstet auf ihre Füße in den chicen Riemchen-Sandalen, die bereits den Abstieg zum Strand mit den Wellenreitern übelgenommen und die Haut an den Fersen wund gescheuert hatten. »Geh ruhig; ich warte auf dich

»So wichtig ist es auch wieder nicht

Ich wollte sie nicht alleine lassen, doch sie winkte ab.

»Lass mich hier noch ein wenig die Sonne genießen. Ich bin zufriedenSie fasste in ihre Handtasche und zog ein Taschenbuch heraus. »Und falls es mir doch langweilig werden sollte, bin ich bestens gerüstet

Offensichtlich hatte sie inzwischen das Genre gewechselt. Dem Titel und dem blutverschmierten Messer auf dem Cover nach handelte es sich um einen besonders grausigen Krimi. Auf Sturmhöhe folgte nun also die Inspiration, wie man einen reichen Ehemann um die Ecke bringen konnte. Ein Glück für Alexander, dass ich die Scheidungspapiere vor diesem Urlaub unterschrieben hatte

Die Felsen sahen aus der Ferne herausfordernder aus, als sie tatsächlich waren. Schmale Wege führten durch das Gestein; nur an wenigen Stellen musste man klettern, was in Turnschuhen kein Problem darstellte. Schließlich erreichte ich eine Plattform, die vom Lokal aus nicht zu sehen war, und gesellte mich zu den Schaulustigen, die von den gigantischen Wellenbrüchen weit unten Fotos schossen und Videos drehten. Eine Weile war auch ich von den tosenden, schäumenden und gurgelnden Kräften, die die Natur hier zur Schau stellte, fasziniert. Dann wurde es mir zu langweilig, und ich stieg weiter das Felsmassiv empor. Die engen Wege teilten sich, führten in Sackgassen, den Hügel hinauf oder zurück an die ungesicherte Steilküste.

Und plötzlich war es da, dieses untrügliche Gefühl. Ein unangenehmes Kribbeln stieg mir bis zum Nacken hinauf. Ich spürte Blicke im Rücken. Schutzsuchend lehnte ich mich gegen den nächsten Felsen. Meine Augen suchten die Umgebung ab. Ich entdeckte niemanden und nichts. Aber meine Intuition sagte mir deutlich, dass da jemand war, der mich beobachtete.

Dabei gab es keinen Grund, mich zu verfolgenaußer, irgendwer vermutete in dem kleinen Lederrucksack, den ich bei mir trug, einen prall gefüllten Geldbeutel. Leute, die Touristen bestahlen, gab es überall. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien mir die Erklärung, dass gerade ein semiprofessioneller Taschendieb auf eine günstige Gelegenheit wartete. Hier, auf einem schmalen Pfad zwischen Felsen und Steilküste und abseits von der belebten Plattform, war ich eine leichte Beute. Zumindest hatte er keinen Anlass, anderes von mir anzunehmen.

Angst hatte ich nicht, aber ein mulmiges Gefühl, als ich michden Fels weiterhin im Rückenlangsam von der Steilküste weg in Richtung Inland bewegte. Ich war erst wenige Meter weit gekommen, als ich eine Frau schreien hörte.

Meine Vorsicht verpuffte. Wer auch immer es auf mich und meinen Rucksack abgesehen haben mochte, war nun anscheinend auf ein anderes potenzielles Opfer gestoßen. Ich hastete los.

Als ich an einem Felsen vorbei um die Ecke bog, sah ich die muskulöse Statur eines Mannes und neben ihm die zierliche Gestalt der Frau im kobaltblauen Kleid. Zwischen ihnen baumelte eine weiße Handtasche, an der beide zerrten. Der Ausgang war klar, auch wenn die Frau beinahe panisch einen der Henkel umklammerte und dabei »Loslassen! Loslassenschrie.

»Hej!«, rief ich scharf.

Der Mann ließ so abrupt los, dass die Frau nach hinten taumelte und auf dem Boden landete. Ihr Widersacher starrte mich mit wildem Blick an. Seine Haut war sonnengebräunt. Er trug einen dichten, dunklen Bart. Neben seiner Nase prangte eine dicke, schwarze Warze. Auf seinem T-Shirt war ein Totenkopf gedruckt. Er sah genau so aus, wie man sich einen drittklassigen Verbrecher vorstellte.

Ich rechnete damit, dass er mich angreifen würde. Doch stattdessen rannte er an mir vorbei und verschwand zwischen den Felsen.

Eilig ging ich auf die Frau zu, die noch immer am Boden saß und zu meinem Erstaunen mehr verdutzt als schockiert wirkte. Sie ergriff meine ausgestreckte Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. Ihre grazilen Ballerinas waren für diesen Bergausflug mindestens ebenso ungeeignet wie Jos Riemchen-Sandalen.

»Sind Sie okay

»Ichich weiß nichtich«, sie atmete tief durch, »ich denke schon

Sie machte einen Schritt auf mich zu, verzog aber sogleich das Gesicht vor Schmerz.

»Vielleicht doch nicht. Mein Knöchelich bin beim Hinfallen umgeknickt. Können Sie feststellen, ob er gebrochen ist

»Bitte, was? – Ich bin doch keine Ärztin

Irritiert sah ich ihr zu, wie sie sich zum nächsten halbhohen Stein schleppte und ihr staubiges Kleid etwas anhob, was mich noch mehr irritierte, da es einen Blick auf den Knöchel nicht annähernd behinderte.

»Bitte. Schauen Sie doch mal, ob er geschwollen ist …« Sie schaute mich von unten aus dunklen, großen Augen an.

War das ein Trick? Sofort erwachte mein Misstrauen. Die Vorstellung, dass sie vielleicht mit dem Bärtigen unter einer Decke steckte und diese kleine Szene dazu diente, meine Wachsamkeit zu untergraben, erschien mir gar nicht mehr abwegig. Automatisch machte ich ein paar Schritte zurück, mein Handy in der Hand. Die Nummer der spanischen Polizei hatte ich nicht parat, aber ich konnte Jo alarmieren. Ich würde mich hier nicht zum Opfer machen lassen!

»Ich rufe Hilfe«, log ich.

Meine Finger tippten schon los, da hörte ich Stimmen, die näherkamen: Männer und Frauen, dem Lärm nach eine Gruppe. Schon bogen sie um die Ecke. Es waren sechs junge Leute, offenkundig Niederländer, die uns kaum zur Kenntnis nahmen, sondern nur Augen für den Ausblick hatten. Kein Wunder, die Sonne neigte sich gerade als glutroter Ball dem Horizont entgegen.

Selbst wenn der Bärtige zurückkommen würde, so hatte ihm die Gruppe nun den Plan vermasselt.

»So schlimm hat es meinen Fuß bestimmt nicht erwischt, schauen Sie doch bitte kurz

Ich schob mein Misstrauen zur Seite, steckte das Handy weg und kniete mich vor ihr auf den Boden.

Ihre Haut fühlte sich warm und weich an, als ich von der Fessel abwärts bis zum Knöchel tastete. Er war nicht geschwollen, so viel stand fest, und auch gewiss nicht gebrochen, denn sie konnte das Gelenk noch in alle Richtungen bewegen.

»Ich würde sagen, verstaucht«, sagte ich und richtete mich auf. »Eine Kühlpackung, etwas Schonung, dann wird es wieder gut

Wo ich mich schon beinahe anhörte wie eine mütterliche Kinderärztin, würde ich als Belohnung für das Stillhalten wohl gleich einen Lutscher hervorzaubern. Die mütterliche Anwandlung verflog, als mein Blick auf die übereinandergeschlagenen Beine meiner Patientin fiel. Ihr Kleid war noch weiter nach oben gerutscht. Zwischen ihren Beinen blitzte ein schwarzes Spitzenhöschen auf.

»Bitte, bleiben Sie noch ein bisschen«, bat sie entgegen ihrer Körperhaltung beinahe schüchtern. »Was, wenn der Mann zurückkommt

»Das wird er nicht

Ich wies mit dem Kinn in Richtung der Leute, die nun Bierdosen und Chipstüten auspackten und zur untergehenden Sonne gafften.

Trotzdem setzte ich mich zu ihr auf den Felsbrocken. Er bot kaum genug Fläche, unsere Schultern und Knie berührten sich. Ich war froh, dass meine Beine in einer langen Hose steckten.

»Gut, dass Sie mir folgen«, sagte sie dann leichthin. »Am Anfang wars mir fast etwas unheimlich, aber jetzt bin ich froh. Der Typ hätte mich ausgeraubt und wer weiß was noch, wenn Sie nicht zur Stelle gewesen wären

»Bitte? Ich folge Ihnen? Seit wann denn das?!«

»Na, seit unserer Begegnung am Frühstücksbuffet. Danach haben Sie mir am Strand aufgelauert, und jetzt treffen wir uns rein zufällig hier. Das ist schon etwas auffällig

Ich lachte trocken und suchte in ihrer Miene nach Anzeichen für Ironie. Vergeblich. Sie mochte hübsch aussehen, aber sie war zweifelsohne nicht ganz bei Sinnen.

»Und warum genau sollte ich das tun? Sie verfolgen, meine ich

Jetzt lachte sie und sah mich dabei an, als wäre ich diejenige, die sich einen Scherz erlaubte.

»Das ist doch offensichtlich! Kennen wir uns nicht irgendwoherSie ahmte meine Stimme treffend nach. »Weil Ihr plumper Anmachspruch nicht gezogen hat, suchen Sie jetzt nach einer Möglichkeit, doch noch bei mir zu landen. Vielleicht haben Sie diesen Mann sogar engagiert, um als Retterin in der Not aufzukreuzen

Diese Frau war wirklich nicht ganz dicht!

Schade, stellte ich mit einem Anflug von Bedauern fest, denn sie war wirklich nett anzusehen mit ihren gebräunten, schlanken Beinen, ihrem schönen Dekolleté und dem hübschen Gesicht. Ich hätte an dieser Stelle einfach gehen sollen, doch das Bedürfnis, hier etwas richtigzustellen, hielt mich zurück.

»Sie gehören eindeutig zu den Leuten, bei denen der Wunsch die Realität überlagert«, sagte ich im nachsichtigen Kinderärztin-Modus.

Ich betrachtete die Sonne, die nun die Wasseroberfläche küsste, und rechnete schon nicht mehr mit einer Erwiderung, als ich sie sagen hörte: »Und wenn es so wäre? Wenn wirklich ich Sie kennenlernen will? Würden Sie dann mit mir, nun«, sie zögerte etwas, »etwas trinken gehen

Kurz war ich versucht, ihr einen Besuch beim Psychiater zu raten, doch der unschuldige, fast kindliche Blick und die leise Hoffnung, die in ihrer Stimme mitschwang, machten es mir unmöglich, sie auf diese verletzende Weise abzuweisen. Irgendwie imponierte mir ihr Mut. Es war äußerst kühn und couragiert von ihr, eine x-beliebige andere Frau so unverhohlen anzusprechen, ohne dass diese ein Interesse an gleichgeschlechtlichem Kontakt signalisiert hatte. Zumindest war ich, was mich betraf, davon sehr überzeugt. Ja, ich war ein sportlicher Typ. So hatte es meine Mutter immer formuliert, wenn ich kein Interesse an Kleidern zeigte. Ich trug Hosen, Turnschuhe, Polohemden und selten Schmuck. Aber das sagte meiner Meinung nach nichts über meine sexuelle Orientierung aus.

»Danke, das ist ein sehr nettes Angebot«, erwiderte ich deshalb. »Aber ich verbringe den Urlaub mit meiner Freundin; sie wartet in diesem Lokal auf michJo wunderte sich wahrscheinlich ohnehin schon, wo ich so lange blieb.

»Das istschade

Gemeinsam schauten wir zu, wie die Sonne im Meer versank, während tief unten die Wellen tosend gegen die Felswand klatschten. Als würde jemand einen Dimmschalter betätigen, wurde das gelbe Licht von der hereinbrechenden Dunkelheit verdrängt. Die Niederländer packten zusammen. Das Schauspiel war vorbei.

Ich erhob mich. Sie tat es mir gleich und klopfte sich den Sand vom Kleid.

»Zumindest hatte ich einen wunderschönen Sonnenuntergang mit Ihnen«, sagte sie, ein dünnes Lächeln auf den Lippen. »Und das war das romantischste Erlebnis, das ich seit langer Zeit genießen durfte. Vielen Dank

»Gerne

Dass es mir ebenso ging, behielt ich lieber für mich. Ich wollte keine Glut schüren. Wir gingen gemeinsam zurück. An einer Wegkreuzung, auf der auch die Leute von der Plattform zu uns stießen, blieb sie stehen.

»Ich muss dorthin«, sagte sie und deutete auf einen Parkplatz. »Danke nochmal für die Hilfe. Undnun, ich beneide Ihre Partnerin

Ich hätte die Umstände wohl richtigstellen sollen, beließ es aber bei einem unverbindlichen Lächeln. Sie entfernte sich ohne das kleinste Hinken. Von wegen Knöchelverletzung!

Die Außenterrasse war inzwischen geschlossen, Jo hatte sich ins Innere des Restaurants zurückgezogen. Vor ihr stand ein abgegessener Teller mit Garnelenschalen.

»Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, empfing sie mich. »Stell dir vor, was einem französischen Paar hinten bei den Klippen passiert ist: Sie wurden ausgeraubt! Handy weg, Geld weg, Kreditkarten weg, ja, sogar die Reisepässe sind geklaut! Sie waren völlig aufgelöst, die Armen. Der Wirt hat sie zur nächsten Po­lizeistelle geschickt, um Anzeige zu erstatten

Puh! Da waren meine unbekannte Verehrerin und ich ja gerade noch einmal davongekommen.

»Will die Polizei nicht das Gelände absuchen

»Der Wirt sagte, das hätte keinen Sinn, der Räuber wäre sowieso schon wieder über alle Berge. Die Polizei käme da erst gar nichtJo hob die Schultern. »Tja, andere Länder, andere Sitten

Auf der Fahrt zum Hotel erzählte ich ihr eine Kurzversion meines kleinen Abenteuers an den Klippen. Dass die Frau mir eindeutige Avancen gemacht hatte, ließ ich aus. Das brauchte niemand zu wissen, auch Jo nicht.

*

Die Vorgabe für das Silvesterdinner am Abend lautete Black Tie, ein Dresscode, dem ich nicht besonders viel abgewinnen konnte, da er mir ein großes Opfer abverlangte: Für Damen waren Kleider vorgeschrieben. Da uns der Dresscode vorher bekanntgegeben worden war, hatte ich jedoch entsprechend gepackt und mich für ein bodenlanges, schlicht geschnittenes schwarzes Abendkleid entschieden. Eine dunkelgraue Bolerojacke bedeckte meine nackten Schultern. Um meinen Hals lag ein Silbercollier, das mir Alexander am Anfang unserer Ehe bei einem Kurztrip nach Rom geschenkt hatte, dazu passten die kleinen Silberstecker aus dem Erbe meiner Großmutter. Ich hatte Make-up aufgelegt, die Nägel rot lackiert und meine kurzen Locken mit etwas Gel nach hinten gekämmt. Kurzum, für meine Verhältnisse hatte ich viel Aufwand betrieben, um Jo den Gefallen zu tun, an diesem Gesellschaftsevent teilzunehmen.

Jo tanzte gern, sie freute sich sicher schon auf die angekündigte Big Band. Ich konnte nur hoffen, dass man uns an einem Tisch mit angenehmen Leuten platzieren würdeund Männern, die mehr Interesse an einer humorvollen, reichen, englischen Witwe hatten als an einer geschiedenen Deutschen, die allenfalls auf höfliche Konversation Wert legte.

Ich klopfte an die Tür von Jos Suite in Erwartung, sie gleich im Abendkleid und mit aufgestecktem Haar zu sehen. Doch die Frau, die mir blass und in einem Morgenmantel die Tür öffnete, erinnerte mich eher an die weibliche Version von Gevatter Tod.

»Um Himmels w–«

»Komm rein

Jo ließ sich kraftlos auf das Sofa sinken, während ich die Tür schloss.

»Die Garnelen«, sagte sie. »Es waren die Garnelen in diesem Lokal. Mir ist übel, ich habe mich schon dreimal übergebenna, ich erspare dir weitere DetailsSie sah mich zerknirscht an. »Es tut mir wirklich leid. Aber ich kann unmöglich zu diesem Dinner

»Oh«, rief ich, wenn auch eher aus Selbstmitleid. Auf keinen Fall würde ich mit völlig unbekannten Leuten an einem Tisch sitzen und Silvester feiern! Ich musste mir eine passende Ausrede einfallen lassen, um meinen Kopf buchstäblich aus der Schlinge zu ziehen.

Denn Jo würde darauf bestehen, dass ich zum Dinner ging. Vermutlich hoffte sie, dass ich dort einen Mann kennenlernte, der meine künftigen finanziellen Probleme löste oder mit dem ich wenigstenswie hatte sie es heute genannta really good fuck haben würde. Das einzige, was ich an diesem Abend noch wollte, war irgendetwas Handfestes zu essen und ein Glas Wein. Ich hatte seit dem kurzen Imbiss im Oasis Park nichts mehr zu mir genommen und einen Riesenhunger, was mit einem langgezogenen Sechs-Gänge-Menü sowieso nicht gut vereinbar war.

»Soll ich nicht lieber bei dir bleiben?«, erkundigte ich mich und musste meine Sorge nicht einmal spielen. Jo sah wirklich krank aus. »Oder einen Arzt holen

»Der Hotelarzt kommt, ich habe schon angerufen«, entgegnete Jo mit schwacher Stimme. »Ich denke wirklich nicht, dass du irgendetwas für mich tun kannst. Ich fühle mich so schwach, ich –«

Sie hielt sich die Hand vor den Mund, sprang auf und rannte ins Badezimmer. Minuten später hörte ich die Klospülung, dann das Rauschen des Wasserhahns. Als Jo wieder zurückschlich, war sie ein wandelndes Synonym für Elend.

»Ich könnte einfach hier bei dir bleiben«, versuchte ich es noch mal. »Ich mache es mir hier im Wohnzimmer bequem, du liegst nebenan, und ich bin sofort zur Stelle, wenn du etwas brauchst

»Neinbitte, ich möchte nur schlafen. Der Arzt wird sich um mich kümmern. Geh nach unten und feiere; es reicht doch, wenn eine von uns die Party verpasst

Ich sah ein, dass weitere Diskussionen zwecklos waren, stand auf und überließ sie widerstrebend ihrem Schicksal.

Kurz darauf betrat ich den Festsaal. Ein Blick genügte, um mich galant den Rückzug antreten zu lassen. Es war Viertel nach neun, die Gäste saßen an den zugewiesenen TischenAchtertische! –, und die Big Band setzte gerade zum Eröffnungstusch an. Nichts, was ich haben musste!

Die Bar erwies sich als Zufluchtsort all jener, die vor dem Spektakel im Speisesaal geflüchtet waren. Bereitwillig setzte ich mich auf die kleine Sitzbank hinter dem letzten verfügbaren Tisch und hatte damit das gesamte Lokal im Blick. Allem Anschein nach war ich nicht die Einzige, die keine Lust auf das Galadinner hatte. Rund vierzig Leute füllten den engen Raum. Auf einer kleinen Bühne seitlich der Bar stand ein Flügel. Ein mittelmäßiger Klavierspieler versuchte sich in untermalender Jazz-Musik.

Während ich noch die Weinkarte studierte, auf der Suche nach einem offenen Rotwein, fiel ein Schatten über den Tisch. Ich hob den Kopf, meine Bestellung bereits auf den Lippen, doch es war nicht der Kellner, sondern meine neue Bekannte.

Sie sah mich an, ein vorsichtiges Lächeln auf den roten Lippen.

»Ist dieser Platz für Ihre Freundin reserviertSie deutete auf den freien Platz und legte ihre Hand auf die Stuhllehne.

Ich hätte sie anlügen können. Doch nichts lag mir in diesem Augenblick ferner.

So verrückt sie auch war, sie hatte etwas an sich, das mein Interesse weckte. Und sie war sexy in ihrem weinroten Cocktailkleid, das kaum über das Knie reichte und vom oberen Brustansatz bis zum Hals aus Spitze bestand. So richtig, richtig sexy.

A really good fuck.

Jos Worte kamen mir in den Sinn. Die Vorstellung, etwas zu tun, was ich mir jahrelang nicht gestattet und sogar aus meinen Gedanken verbannt hatte, nahm Gestalt an.

Und sie wollte es doch. Das hatte sie an den Klippen durchklingen lassen, oder etwa nicht?

Ich schenkte ihr mein bisher offenherzigstes Lächeln und eine einladende Geste.

»Bitte. Setzen Sie sich doch. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisten

Sie nahm Platz. Im selben Augenblick kam auch schon der Kellner.

»Einen Hamburger ohne Zwiebel, eine Flasche Wasser und eine Flasche Bermejo Tinto Barrica«, orderte ich. Jetzt, da ich in Gesellschaft war, erwies sich die Wahl des Weines als relativ einfach.

»Für mich dasselbe«, bat sie, korrigierte sich aber sogleich, als sie die Irritation im Gesicht des Kellners bemerkte: »Den Ham­burger ohne Zwiebel, meine ich. Das mit dem Getränk dürfte sich ja schon erledigt haben

Ich nickte lächelnd. Auf einmal kam sie mir sehr jung vor, wie sie nun da saß, die Hände ineinander verschränkt. Jung und etwas nervös, denn noch ehe sie etwas sagte, sah sie zweimal über ihre Schulter zum Ausgang.

»Warten Sie auf jemanden?«, erkundigte ich mich. Am Tisch neben der Tür saß ein Paar mittleren Alters beim Bier, er mit Schnurr­bart, zwischen ihnen ein aufgeschlagener Reiseführer und eine Spiegelreflexkamera. »Kennen Sie die beiden?«, schob ich nach.

»NeinDie Antwort kam schnell, fast zu schnell. »Sie sind mir nur wegen ihrer Outfits aufgefallenwie zwei Wanderer, die sich durch Zufall in diese Hotelbar verirrt haben

Eine treffende Beschreibung.

Sie öffnete ihre Handtasche und legte ihr Handy auf den Tisch.

»Entschuldigen Sie. Meine ältere Schwester liegt in den Wehen, mein Schwager hat sie vor rund zwei Stunden ins Krankenhaus gefahren. Und ich will nicht verpassen, dass ich Tante werde

Die erste private Information. Das gab mir ein gutes Gefühl. Sie wirkte plötzlich so mädchenhaft, nicht mehr wie die durchtriebene Femme fatale. Wie alt mochte sie sein? – Nicht älter als fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Jahre, schloss ich aus ihrem faltenfreien, aber erwachsenen Gesicht.

»Ein Silvesterbaby«, stellte ich fest. »Das erste Kind Ihrer Schwester

»Ja

»Dann wird es vielleicht doch eher ein NeujahrsbabyAls ich ihren überraschten Blick bemerkte, fügte ich erklärend hinzu: »Beim ersten dauert es meistens länger

»Oh. Haben Sie da etwa Erfahrung

Sie wirkte leicht geschockt. Ich lachte.

»Nur indirekt. Ich habe auch eine Schwester, und die hat bereits vier Kinder

»Oh mein GottSie schlug sich die Hand vor den Mund. »Was für ein Alptraum

»Sie sagen es. – Übrigens, ich bin Lena. Wenn wir schon den Silvesterabend miteinander verbringen, sollten wir doch unsere Vornamen kennen und uns duzen

»Selina

Der Kellner kam und ließ mich den Wein kosten, dann füllte er die Gläser.

Selina und ich stießen an. In das leise Klirren der Gläser misch­ten sich die ersten Takte des neuen Stücks, das der Klavierspieler im selben Augenblick anstimmte.

»KöstlichSelina warf einen Blick auf das Etikett der Flasche, die der Kellner dezent platziert hatte. »Ich glaube nicht, dass ich schon jemals einen Wein von Lanzarote getrunken ha­be

»Ich auch nicht«, gab ich zu. »Daher war ich neugierig

Neugierig war ich auch in anderer Hinsicht.

»Was machst du hier eigentlich so alleine? Urlaub auf einer ruhigen Insel, um dem Silvesterkrach in Deutschland zu entkommen? Die karge Flora und Fauna bewundern? Oder suchst du nach irgendwelchen Sehenswürdigkeiten, die einen über vierstündigen Flug rechtfertigen

Sie lachte leise.

»Nichts von alldem«, antwortete sie dann ernst. »Ich bin aus beruflichen Gründen hier. Ich habe mich mit einem wichtigen Geschäftspartner getroffen

»Hier? Ach

Einen Moment lang war ich perplex. Dass ausgerechnet die nördlichste Ecke dieser ruhigen Kanareninsel ein Ort für Geschäftstreffen war, erstaunte mich nun doch.

Dann ging mir ein Licht auf. Wie blind war ich eigentlich gewesen! – Die figurbetonte Kleidung, das sorgfältige Make-up, ihre gesamte AttitüdeIch war doch schon des Öfteren dieser Art von Frauen begegnet, die sich in Hotelbars an finanzstark wirkende Männer heranmachten und ihnen von irgendeinem Business erzählten, das sie hergeführt hätte. Dass sich eine wie sie an eine Frau ranmachte, war allerdings ungewöhnlich.

»Ich arbeite für eine NGO, die sich mit Umweltagenden, Naturschutz und den negativen Folgen der Globalisierung auseinandersetztErstmals lag in ihrer Stimme eine scharfe Note, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Unsere Geschäftspartner und Informanten legen teilweise großen Wert auf Diskretion

Ich war dankbar um das Dämmerlicht, das im hinteren Teil der Bar herrschte. Die Röte war mir in den Kopf gestiegen.

»Und du? Was hat dich und deine Freundin nach Fuerteventura verschlagen

Nun klang sie wieder wie das nette, interessierte Mädchen von nebenan.

»Die angenehmen Temperaturen und die Tatsache, dass ein vier bis fünf Stunden dauernder Flug für eine Woche Urlaub gerade noch erträglich istGetrieben von dem Bedürfnis, etwas klarzustellen, das für den weiteren Verlauf des Abends nicht ganz unerheblich war, fügte ich hinzu: »Im Übrigen ist sie eine Freundin, nicht meine Freundin

»Gut zu wissen

Selina lachte und entblößte dabei eine Reihe blitzweißer Zähne, deren Farbton gewiss nicht den Launen der Natur, sondern einem Bleaching geschuldet war.

Der Kellner brachte das Essen. Der Hamburger sah frisch und appetitlich aus, die Steak Frites, die in einem kleinen Blecheimer serviert wurden, waren allem Anschein nach selbstgemacht. Eine Weile aßen wir schweigend, während die Klaviermusik angenehm den Raum erfüllte.

»Deinen Geschäftstermin hast du also schon hinter dir, und trotzdem bist du geblieben«, griff ich den Faden schließlich wieder auf. »Du wolltest Silvester also nicht zu Hause verbringen

»Eigentlich schon. Aber es scheiterte an den Flügen. Unsere Geschäftspartner vereinbaren diese Termine in der Regel sehr kurzfristig; wir müssen uns nach ihnen richten. Nicht immer ist dann ein passender Rückflug buchbar. Manchmal dauert es Tage. Morgen Nachmittag gehts für mich zurück nach Berlin

Wie ideal, schoss es mir durch den Kopf. Berlin lag zwar nicht am anderen Ende der Welt, aber immerhin weit genug weg von Wien, als dass sich unsere Wege nochmals kreuzen würden. Und am nächsten Tag würde sie abreisen, was etwaige Gefühlsduseleien quasi unmöglich machte.

»Und so musstest du auf Kosten deines Arbeitgebers ein paar qualvolle Nächte in einem Fünf-Sterne-Hotel verbringen«, erwiderte ich ironisch. »WelchOpfer

»Ja, in der Tat. Ich war schon kurz davor zu verzweifeln. Aber dann kamst du und hast mich aus meiner Einsamkeit gerettet. Und davor, ausgeraubt zu werden

Wieder lächelte sie mich an, und ich wunderte mich im Stillen, wie leicht sie den Vorfall vom Nachmittag weggesteckt hatte.

»Warst du eigentlich bei der Polizei und hast Anzeige erstattet

»WeswegenSie blinzelte verwirrt. »Ach, du meinst wegen dieses Vorfalls? – Nein. Das bringt doch nichts. Außerdem könnte ich den Mann nicht gut beschreiben; ich war so damit beschäftigt, meine Tasche zu retten, dass ich ihm nicht wirklich ins Gesicht geschaut habe

»Ich könnte ihn beschreiben

»Nein, neinSie schüttelte den Kopf. »Lass nur. Keine Polizei

Ich runzelte die Stirn. Die Art, wie sie es sagte, ließ für mich nur einen Schluss zu.

»Du möchtest nicht, dass dein Name irgendwo auftaucht

»ExaktSie sah mich ernst an. »Es ist wegen meines Jobs. Wie ich schon sagte, Diskretion ist da alles. Offiziell bin ich nie hier gewesen

»Klingt nach James Bond, Agent 007«, bemerkte ich trocken. Ich gewann den Eindruck, dass sie etwas übertrieb. Eine NGO, die sich mit Umweltprojekten beschäftigte, war schließlich kein Geheimdienst. Aber sie war jung und fühlte sich gewiss sehr wichtig, weil ihr Arbeitgeber sie ans Ende von Europa geschickt hatte, um einen Geschäftstermin wahrzunehmen, den aufgrund der Feiertage vermutlich sonst niemand hatte übernehmen wollen.

»Nun, die Lizenz zu töten habe ich nicht

»Wie beruhigend

Um das Thema zu wechseln, kam ich auf Berlin zu sprechen. Ich kannte die Stadt, schließlich hatte ich mich an der Humboldt-Universität durch fünf Semester Anglistik gekämpft und kannte noch diverse Bars, Clubs und andere Orte, an denen ich mich damals gerne aufgehalten hatte. Wir stellten fest, dass wirzeitversetztdieselben Lokale besucht hatten, plauderten über Szeneviertel und wie sie sich verändert hatten, entdeckten Gemeinsamkeiten. Sie liebte gutes Essen und wusste überraschend viel über Weine; sie reiste gern in ferne Länder und beschritt dabei Pfade, die abseits der typischen Touristenrouten lagen, hatte ein Faible für das Theater und liebte lateinamerikanische Tänze. Ihre Mutter war Deutsche, ihr Vater aus Venezuela; sie war in Köln geboren und aufgewachsen, vor ein paar Jahren dann nach Berlin gezogen.

Selinas erfrischende Offenheit dämpfte mein generelles Misstrauen im Umgang mit neuen Bekanntschaften. Dass ich wenig von mir preisgab, schien ihr nicht aufzufallen. Andererseits war ich freilich auch von Jugend an in oberflächlichem Smalltalk geübt.

Doch trotz allem, was ich von ihr erfuhr, wurde sie mir im Laufe des Abends immer rätselhafter. Einerseits geizte sie nicht mit ihren sexuellen Reizen und wollte mir offensichtlich gefallen, andererseits aber wirkte sie so natürlich und unschuldig, dass ich mich zeitweise fragte, ob ich nicht etwa zu viel in die Situation hineininterpretierte. Dann aber flirtete sie wieder mit mir, machte zweideutige Bemerkungen und lächelte mich auf eine Art und Weise an, die mein Verlangen schürte, sie auf ihre schönen, vollen Lippen zu küssen. Jos Missgeschick mit den Garnelen schien mir mittlerweile wie ein Zeichen des Himmels. Nach meinen wilden Jahren in Berlin, in denen ich einfach alles hatte vergessen und hinter mir lassen wollen, war ich Alexander immer treu gewesen. Mein Bedürfnis, mit jemand anderem zu schlafen, verkümmerte Jahr um Jahrbis ich gar keinen Sex mehr wollte. Irgendwann kam ich zum Schluss, im Grunde wohl asexuell zu sein, denn es fehlte mir in meinem selbsterwählten Nonnenleben an nichts.

Jo hatte mit ihren Ausführungen zum Vögeln und dem good fuck meine Libido wohl sanft aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt. Dass zeitgleich eine attraktive, willige Frau wie Selina meinen Weg kreuzte, sah ich nun als wunderbaren Zufallauch wenn Jo garantiert nicht an eine Bettgenossin gedacht hatte.

Ich hatte mich meiner Bisexualität nie geschämt. Vor mir selbst jedenfalls nicht. Gleichzeitig wollte ich dieses Thema nicht diskutieren, weder öffentlich noch im Freundeskreis. Nur Claudio wusste davon, und selbst das war mir bereits zuwider. Nicht, weil ich es vor ihm verbergen wollte, sondern weil er überzeugt, ja geradezu besessen von dem Gedanken war, ich wäre in einer Beziehung mit einer Frau besser aufgehoben als in den Armen eines Mannes.

Der erste Partner, mit dem ich mich offiziell gezeigt hatte, war Alexander. Alles davor lief diskret ab, unabhängig davon, ob ich mit Mann oder Frau zusammen gewesen war. Selten hatte es sich um mehr gehandelt als um einen One-Night-Stand, und gerade die Frauen, mit denen ich geschlafen hatte, waren wenig interessiert, ihre Neigung publik zu machen. Keine davon würde ich als Lesbe bezeichnen. Die meisten waren einfach nur experimentierfreudig.

Ich hatte Claudio oft genug in Bars und auf Feste begleitet, bei denen sich die LGBTQ-Szene einfand, und ich hatte einen gewissen Radar für lesbische Frauen entwickelt, ohne mich dabei an Klischees orientieren zu müssen. Aus Selina aber wurde ich nicht recht schlau. Einerseits schien sie nur Augen für mich zu haben und sich der Blicke, die ihr manche Männer hier zuwarfen, gar nicht bewusst zu sein. Andererseits fehlte ihr diese selbstbewusste, unabhängige Ausstrahlung, die ich an lesbisch lebenden Frauen insgeheim bewunderte.

Als sich unsere Flasche Wein gegen halb elf Uhr neigte, sie aber nichts weiter unternommen hatte, als mich auf stille oder verbale Weise anzuflirten, begriff ich, dass es wohl an mir lag, den ersten Schritt zu tun. Ich bestellte das Mousse au Chocolat, das auf der Tafel über der Bar als Tagesempfehlung angepriesen wurde, und verlangte einen zweiten Löffel.

»Eigentlich bin ich noch vom Hamburger und den Pommes satt«, gestand Selina, als uns der Kellner den Rücken gekehrt hatte.

Ich stützte das Kinn auf meine ineinander gefalteten Hände, lehnte mich leicht nach vorne und lächelte sie an. Ein paar Sekunden hielt sie meinem Blick stand, dann blinzelte sie irritiert. Auf ihrer Stirn machte sich eine kleine, steile Falte breit. Ihre Unentschlossenheit reizte mich umso mehr. War sie nun Femme fatale oder braves Mädchen?

»Das Dessert wäre ein guter Grund, dich neben mich auf die Bank zu setzen«, schlug ich mit gesenkter Stimme vor, obgleich ich mir ziemlich sicher war, dass das Spanisch sprechende Paar am Nebentisch sowieso kein Wort verstand.

»Oh« Sie schaute mich aus großen Augen an. Dann endlich erhob sie sich, und obgleich von unserem Mousse au Chocolat noch jede Spur fehlte, glitt sie neben mich auf die schmale Bank. Der leichte, florale Duft ihres Parfums stieg mir in die Nase. Unsere Schenkel und Schultern berührten sich, nur getrennt von zartem Kleiderstoff und dem Bolero-Jäckchen, das ich umgehängt trug.

»Was für ein hübscher Ring

Ich ließ meine Finger über ihren Handrücken wandern. Ihre Haut war weich und gepflegt, ihre Finger lang und feingliederig. Das Schmuckstück war ein schmaler Silberring mit einem blauen Opal. Ein schönes Stück, allerdings nicht von allzu hoher Qualität.

»Der ist von meiner Großmutter aus Venezuela. Ein Schmied aus dem Dorf hat ihn angefertigt

Ich strich weiter über Selinas Handrücken und schob mein linkes Bein enger an das ihre. Sie erwiderte den Druck, dann lachte sie plötzlich auf, ohne nachvollziehbaren Grund. Im selben Augenblick brachte der Kellner das Dessert.

»Willst du

Ich deutete auf die Himbeere, die prall und pink auf dem Mousse saß. Fast schon gehorsam öffnete Selina den Mund. Als ich ihr die Himbeere sanft auf die Zunge legte, schlossen sich ihre Lippen kurz um meine beiden Fingerspitzen. Ihr Blick hatte jetzt jede Unschuld verloren. Eine Woge heißen Verlangens durchflutete meinen Körper. Ich trennte mich von dem Jäckchen. Nun berührten sich auch unsere nackten Schultern. Ein Kribbeln fuhr über meine Haut. Ich spürte die Hitze, die von ihr ausging.

Schweigend löffelten wir die Nachspeise. Als der Klavierspieler eine Pause einlegte, ertönte draußen ein unverkennbares Zischen und Knallen. Selina warf einen Blick auf ihr Handy.

»Es ist kurz nach elf und die ballern schon rum

»Das ist das Feuerwerk für die Deutschen«, informierte ich sie über die absurden Auswüchse des Tourismus, die ich der Teilnehmerkarte zum Galaabend entnommen hatte. »In Deutschland ist gerade Mitternacht. Daher schießen sie jetzt das erste Feuerwerk ab und eine Stunde später das zweite

»Nicht ernsthaft

Selinas Gesichtszüge verrieten deutlich, was sie davon hielt.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Schau dich um. Es gibt hier durchaus Landsleute, die mit dem Prost Neujahr nicht noch eine Stunde warten wollen

Tatsächlich wurde an drei, vier Tischen schon mit Sekt angestoßen. Das Ehepaar mit den Wanderklamotten saß immer noch am Ausgang. Ich hielt sie dem Aussehen nach für Deutsche, doch hatten sie sich keinen Sekt kommen lassen. Die Kamera lag noch immer auf dem Tisch. Als hätten sie meinen Blick bemerkt, sahen sie kurz herüber, widmeten sich aber gleich wieder dem Reiseführer, den sie mittlerweile auswendig kennen mussten.

Ich fühlte mich in der Bar plötzlich unwohl. Gleichzeitig schalt ich mich selbst wegen meiner ewigen Paranoia. Wir waren hier nicht auf Schloss Nippe oder bei einer verdeckten Operation.

Entschlossen berührte ich Selina sanft am Arm.

»Lass uns gehen«, schlug ich leichthin vor. »Von meinem Balkon aus hat man einen wunderbaren Blick auf das Feuerwerk

»Tatsächlich

Ich spürte ihre Hand auf meinem Oberschenkel. Auch durch den Stoff hindurch konnte ich die Wärme fühlen, die von ihr ausging.

»Lass mich das übernehmen«, sagte sie hastig, als der Kellner mit der Rechnung kam. »Ich deklariere es als Geschäftsessen; dann zahlt das die Firma

Dann trug sie dem Kellner noch eine Flasche Moët & Chandon Rosé Imperial mit zwei Gläsern aufden hatte ich immer bestellt, als ich mit Claudio früher in Berlin durch die Bars gezogen war. Auch wenn ihre Firma zahlte, fühlte ich mich etwas unbehaglich. Das Kleid, der Schmuck und was ich bisher über Selina erfahren hatte, identifizierten sie als eine Frau, die sich ihren Lebensunterhalt erarbeiten musste. Meine monatliche Apanage aus der Familienstiftung war gewiss höher als ihr Einkommen. Betreten sah ich zu, wie sie ihre Zimmernummer und Unterschrift unter die Rechnung setzte.

Augenblicke später bestiegen wir den Lift nach oben. Die Türen hatten sich kaum hinter uns geschlossen, als Selina auf mich zutrat. Sie umarmte mich nicht, da sie die Flasche in der einen, die Gläser in der anderen Hand hielt, doch sie schob ihre Lippen sanft auf die meinen. Sie waren so weich, wie ich sie mir vorgestellt hatte, und sie schmeckten nach einem Hauch Schokolade und Rotwein. Ich wollte den Kuss gerade vertiefen, als die Türen des Lifts nochmals aufschwangen. Wir fuhren auseinander.

Ein älteres Ehepaar stieg zu; Engländer, die sichwelch ein Klischee! – über das viel zu scharf gewürzte Dinner echauffierten. Die Frau klagte über Sodbrennen und wollte nur noch ins Bett. Selina verdrehte hinter ihrem Rücken die Augen.

Im zweiten Stock stiegen wir aus. Ich legte meine Hand zwischen Selinas Schulterblätter und lotste sie wortlos zu meinem Zimmer.

Drinnen stellte sie eilends Flasche und Gläser auf den einzigen kleinen Tisch im Raum, warf ihre Tasche auf den Boden und streifte ihre High Heels ab, während ich die Vorhänge zuzog und das Licht dimmte. Dann fielen wir uns auch schon in die Arme und versanken in einem schier endlosen Kuss. Ihre Lippen, ihre Zunge, die an meine drängte, ihre Brüste, die sich gegen meinen Oberkörper schobenall das entfachte in mir eine Leidenschaft, die ich lange Jahre nicht mehr gespürt hatte. Brennend vor Lust zog ich ihr das Cocktailkleid aus. Meine Hände zitterten leicht, als ich die kleinen Häkchen löste, die es am Rücken zusammenhielten. Ich wusste selbst nicht, woher meine Nervosität rührte. Weil es schon viel zu lange her war? Weil sie die mit Abstand schönste Frau war, mit der ich eine so intime Situation erlebte? Oder weil etwas daran schmerzliche Erinnerungen in mir wachrüttelte?

Ich stieg aus meinem Kleid, zog sie erneut in die Arme. Meine Hände wanderten über ihren nun nahezu nackten Rücken, verharrten am BH, lösten den Verschluss. Sie atmete tief ein, und als sie wieder ausatmete, brannte ihr heißer Atem in meiner Halsbeuge.

Küssend ließen wir uns auf das Bett fallen. In meinem Unterleib zog es vor Verlangen. Ich streichelte über Selinas makellosen, jungen Körper, ihren flachen Bauch, küsste ihre Lippen, ihren Hals, ihr Dekolleté, ihre Brüste. Ich genoss ihre sanften Berührungen, ihre zärtlichen Küsse. Sie hatte die Augen geschlossen, als wollte sie sich nur darauf konzentrieren, mich zu fühlen, zu schmecken und zu riechen.

Die Gier zwischen meinen Beinen duldete keinen Aufschub mehr. Mein schnelles, lautes Atmen mischte sich mit lustvollem, gierigem Stöhnen. Ich presste mich an sie und begann, mich an ihr zu reiben. Auch sie atmete nun schneller.

Plötzlich flogen ihre Augenlider auf. Sie schob mich mit sanfter Gewalt von sich, sprang vom Bett und hastete zu ihrer Tasche.

»Mein Handy«, erklärte sie schnell, als sie meine Verwirrung bemerkte. Schon hatte sie das Smartphone in den Händen.

Ich hatte kein Klingeln gehört und wunderte mich. Ging es etwa immer noch um den Anruf des Schwagers?

»Neues von der Babyfront

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich schalte es ausIch sah, wie das Display schwarz wurde. Sie ließ es wieder in ihrer Tasche verschwinden und kam zurück zum Bett, ein kokettes Lächeln auf den Lippen.

»Ich will in den nächsten Stunden nicht gestört werden

»Ah ja? – Da hast du dir ja ganz schön etwas vorgenommen«, scherzte ich, erleichtert, dass mir kein Neugeborenes einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Sie ließ sich neben mich auf das Laken gleiten, und wir fuhren da fort, wo wir aufgehört hatten. Meine Finger umklammerten ihr Gesäß, als ich wenig später mit einem heiseren Keuchen kam. Ich ließ den Kopf aufs Kissen sinken und wartete, dass mein bebender Körper zur Ruhe kam. Sie lag still neben mir, eine Hand auf meinem Rücken, und sah mich aus ihren dunklen Augen einfach nur an.

Ein verschwommenes Bild tauchte vor mir auf: die dunklen Augen einer anderen Frau, aber mit demselben ruhigen, tiefsinnigen Ausdruck. Ich schüttelte das Bild ab. Die Frau neben mir hieß Selina.

»Tut mir leid«, sagte ich leise und strich ihr über die Wange. »Normalerweise bin ich nicht so egoistisch. Es ist lange her

»Wie lange

»Sehr lange

Mehr brauchte sie nicht zu wissen.

»Du bist wunderschön, wenn du kommst«, flüsterte sie und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.

»Du gewiss auch«, erwiderte ich, eine leichte Verlegenheit überspielend. »Und davon werde ich mich jetzt überzeugen

Ich begann, ihre Brustwarzen mit der Zunge zu liebkosen, während meine Hand über ihren flachen Bauch streichelte, den Weg zwischen ihre Schenkel fand und schließlich unter ihr Höschen glitt. Die Feuchte, die mich empfing, erweckte auch bei mir neue Begierde.

Ich ließ meine Hand vor- und zurückgleiten, umspielte ihre Perle, spürte, wie sie sich unter meiner Berührung verhärtete. Selina drängte sich seufzend an mich und umfasste meine Schultern. Ich küsste sie, während ich schneller, fordernder wurde, den Druck auf ihre empfindlichste Stelle erhöhte. Ihr Stöhnen füllte den Raum und vermischte sich mit meinem eigenen.

Mein Körper war in einem Rauschzustand. Ich wollte sie erobern, sie besitzen, in sie eindringen. Als ich genau das tat, bog sie sich mir willig entgegen. Gleichzeitig drehte sie sich leicht zur Seite und legte ihren rechten Oberschenkel über meinen. Ich konnte fühlen, wie das Blut in ihren Adern pulsierte.

Meine Finger erspürten die feuchte Hitze in ihrem Inneren. Ich bewegte mich auf ihr und in ihr. Ihr Keuchen, durchbrochen von heiseren, kehligen Lauten, brachte mich schier um den Verstand. Ich hatte kein Empfinden mehr dafür, wo mein Leib begann und ihrer aufhörte; es war, als wären wir ein einziges großes Ganzes, das brannte und verschmolzund schließlich explodierte in einem Funkenschlag orangefarbener Feuertropfen, die brennende Stellen auf unserer Haut hinterließen, ehe sie am Boden verglühten.

Eine ganze Weile hielt ich sie still in den Armen. Ich fühlte ihren rasenden Herzschlag an meiner Brust. Mein eigenes Herz galoppierte ebenfalls. Als ich schließlich ein Bein zur Seite schob, bemerkte ich, wie nass das Leintuch war, und spürte ihre Verlegenheit.

»Ich bin äußerst überrascht«, flüsterte ich und grinste.

Sie lachte leise, war aber immer noch verlegen.

»Ich auch. Das war das erste Mal. Ich wusste nicht, dass ich dazu in der Lage bin

»Du verstehst dich wirklich darauf, mir zu schmeicheln. Ich fühle mich wie die Sexgöttin in Person

»Das bist duSie lachte wieder, diesmal schon etwas gelöster. »Das war der beste Sex meines Lebens

Nun lachte auch ich.

»Das kannst du so nicht sagen. Du hast noch viele Jahrzehnte vor dir. Da kann noch viel passieren

»Es kann nicht noch besser werdenSie wirkte völlig überzeugt. »Das war vollkommen

»HmmIch musterte sie amüsiert. »Willst du auf dem Status quo beharren, oder soll ich dich vom Gegenteil überzeugen

»Vom Gegenteil

»Davon, dass doch noch eine Steigerung möglich ist

»Oh

Ich wusste jetzt schon, dass ich dieses kleine, erstaunte Oh, das einen fixen Platz in ihrem Vokabular zu haben schien, lange nicht vergessen würde.

»Ein Versuch kann ja nicht schaden«, setzte sie nun spitzbübisch hinzu und schob ihre Beine zwischen meine geöffneten Schenkel.

Mehrere Höhepunkte später, als draußen längst die letzte Silvesterrakete am Himmel unbeachtet verpufft war, tranken wir einen Schluck Champagner. Er hatte inzwischen Zimmertemperatur und schmeckte fad.

Einen Augenblick dachte ich an Jo und fragte mich, ob es ihr wohl besser ging. Sollte ich anrufen oder zumindest eine Happy New Year-SMS schreiben? – Ich verwarf den Gedanken, weil ich zu träge war, um aus dem Bett zu steigen und mein Handy aus der Tasche zu kramen. Ich dachte auch an Claudio. Gewöhnlich riefen wir uns zum Jahreswechsel kurz an. Wie viel Uhr war es in Miami? Hatte er auf der Yacht überhaupt Empfang? Wohl nicht, denn auch mein Mobiltelefon hatte nicht geläutet. Oder er hatte ebenso wenig versucht, mich zu erreichen. Ich konnte es in ein paar Stunden immer noch nachholen. Im Augenblick war es schöner, meine Nase in Selinas kräftigem Haar zu vergraben und den Duft ihres Shampoos zu inhalieren. Es roch nach Frühling.

Ihre Hand lag auf meinem Schenkel.

»Du reitest, oder?«, fragte sie unvermittelt, als mich die Stille, die jetzt den Raum füllte, beinahe schon schläfrig gemacht hatte.

»Ja«, antwortete ich überrascht. »Wie kommst du darauf

»Deine Beine. Sie sind sehr muskulös

»Du hast ein gutes Auge dafür

»Das muss ich. Ich bin ausgebildete Physiotherapeutin. Ich weiß, wie sich Muskulatur bildet und durch welche Sportarten

»Ich dachte, du arbeitest für diese hochgeheime NGO …«, erwiderte ich belustigt und überrascht zugleich.

»Nach der Schule wollten meine Eltern, dass ich etwas Solides lerne«, erklärte sie bereitwillig. »Sie entschieden, dass Physiotherapeutin ein Beruf mit Zukunft ist. Ich hatte keine Wahl, als mich in mein Schicksal zu fügenSie seufzte. »Lange habe ich das nicht ausgehalten. Alten Männern die Gliedmaßen einzurenken und ihren behaarten Rücken zu massieren ist nichts für mich. Einige wollten sich dauernd mit mir verabreden und haben mich dann beim Chef mit irgendwelchen erfundenen Beschuldigungen angeschwärztbehaupteten, ich hätte sie unhöflich behandelt, wäre grob gewesen und so. Es war wirklich demütigend

Während ich mir an diesem Abend manches Mal nicht sicher gewesen war, ob Selina wirklich die Wahrheit erzähltediese persönliche Geschichte glaubte ich ihr ohne jeden Zweifel.

Es war schmeichelhaft, dass sie so viel Vertrauen zu mir hat­te, aber gleichzeitig weckte es auch eine leise Angst in mir. Beim One-Night-Stand sollte man möglichst wenig voneinander wissen. Abgesehen von der Erwähnung meiner gebärfreudigen Schwester hatte ich mich mit Informationen über mein Leben absichtlich sehr zurückgehalten.

»Irgendwann ist es eskaliert«, fuhr sie fort. »Einer dieser Typener war fast achtzig und hatte erst einen Schlaganfall hinter sichfasste mir zwischen die Beine und versuchte mich zu küssen. Als ich mich weigerte, ihn weiterhin zu behandeln, hat er meinem Chef erzählt, ich hätte ihm Geld aus der Jackentasche gestohlen und wolle ihm nun etwas anhängen, damit er von einer Anzeige absah. Mein Chef hat ihm tatsächlich geglaubt und schmiss mich raus

»Hast du keine bessere Stelle als Physiotherapeutin gefunden? Das ist doch ein weites Feld. Es gibt sicher auch Jobs, in denen du nur weibliche Spitzensportler betreustIch schmunzelte. »Beispielsweise die Damen des nationalen Springkaders

»Oh, wenn ich dich auf der Liege gehabt hätte, wäre das ja was gewesenSie zeichnete mit dem Finger zärtlich meine Lippen nach. »Du reitest Springen

»Ja. Aber nicht im Springkader. So gut war ich nie. Außerdem hatte ich Ende Mai einen Turnierunfall, seither ist meine Karrierenun, sagen wir: auf Eis gelegt

Kaum ausgesprochen, bereute ich meine Worte. Springreiterin. Turnier. Unfall im Mai. Zu viel Information. Aus den drei Komponenten ließ sich mit etwas Spürsinn meine Identität rekonstruieren. Über den Unfall, bei dem sogar ein Rettungshubschrauber zum Einsatz gekommen war, hatten nicht nur Reiterfachzeitschriften, sondern auch die lokale Presse berichtet.

»Deshalb also diese OP-NarbeSie fuhr mit dem Finger langsam die kleine Spur entlang, die mir am Oberbauch als Erinnerung an den Unfall geblieben war. »Das tut mir leid für dich. Ich weiß, wie das ist, wenn man seine Perspektive verliertSie schluckte. »Ich wollte immer Fußballerin werden

Ich staunte. Mit diesem Körper hatte ich sie eher Schwanensee tanzen als einem Ball hinterherrennen sehen.

Sie musste mir meine Irritation angesehen haben, denn sie beteuerte sogleich: »Ich war wirklich gut. Flink und wendig! – Bis ich mir mit vierzehn bei einem Radunfall das Bein brach. Dann war es vorbei mit dem Traum vom Fußballprofi

Das erklärte die lange, blasse Narbe an ihrem Oberschenkel.

»Meine Eltern verbrachten viel Zeit mit mir bei der Physiotherapie«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich dachten sie deshalb, das sei ein toller Job. Und so schließt sich der Kreis

»Aber jetzt bist du ja Agentin 007«, scherzte ich, erleichtert darüber, dass sie lieber über sich sprach, als weiter Fragen zu stellen. »Ende gut, alles gut

»Ja«, sagte sie, klang aber wenig überzeugt.

Dann kam von ihr nichts mehr. Sie hatte mir den Rücken zugewandt, lag jedoch noch dicht angeschmiegt mit dem Kopf auf meinem rechten Arm. Ihr Haar kitzelte auf meiner Haut. Ich spürte, wie sich ihr Körper ruhig und gleichmäßig hob und senkte.

Ein Bild schob sich vor mein inneres Auge: Farah, wie sie so bei mir gelegen hatte, damals in dieser Nacht in Berlin, zusammengerollt wie ein verwundetes Tier und voller Angst. Gemeinsam hatten wir in die Dunkelheit gelauscht und gehofft, dass er endlich käme. Ich hatte beruhigend auf sie eingeredet, aber beinahe genauso viel Furcht empfunden wie sie. Keinen Moment hatte ich daran gezweifelt, dass er kommen würde. Doch mit jeder Minute, mit der diese schier endlose Nacht sich noch länger dahinzog, stieg meine Panik. Panik, dass sie uns vor ihm finden würden. Und auch wenn ich mehr Angst um Farahs Leben hatte, so fürchtete ich doch auch um das meine. Sie würden es wie einen Unfall aussehen lassen, und Farah wäre nicht mehr in der Lage, das Gegenteil zu bezeugen.

Schlagartig wurde mir Selinas Nähe zu viel.

Wir hatten einen netten Abend verbracht, tollen Sex gehabt. Nun war es Zeit, dass sich unsere Wege trennten, ganz so, wie ich es in meinen wilden Jahren immer gehandhabt hatte.

Trotzdem wollte ich nicht grob sein. Sie war offen und ehrlich gewesen, wirkte so unbedarft und ohne Vorbehalte. Ich wusste von ihr mehr als von so manch anderer Liebhaberin. In meinen Jahren in Berlin hatte ich von vielen Frauen nicht einmal den Namen erfahrenund mich auch nicht dafür interessiert.

Vorsichtig zog ich meinen Arm hervor. Selinas Kopf sackte auf das Kissen. Auf meinem Weg ins Badezimmer blieb ich stehen und betrachtete sie ein paar Sekunden lang.

Wie außergewöhnlich hübsch sie war! Hübsch, zart, schlank, dazu dieses dunkle Haar und der olivbraune Teint. Ihre Mundwinkel zuckten leicht, während sie schlief.

Ich zog ihr die Bettdecke über die Schultern, beinahe wie bei einem Kind, das sich nicht erkälten sollte, und wunderte mich, warum ich sie nicht einfach weckte und fortschickte.

Im Badezimmer entfernte ich die Reste meines Make-ups und legte das Silbercollier ab, das ich noch immer um den Hals trug. Die Frau, die mir aus dem Badezimmerspiegel entgegenblickte, kam mir fremd vorso kühl, so distanziert, so unwirklich, als zeige sie sich nur mit einer Maske vor dem Gesicht. War das wirklich ich?

Mein Spiegelbild begann zu verschwimmen. Als ich mir die Tränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte, zuckte ich zurück. Denn die Frau, die mich jetzt ansah, war Farah. Sie wickelte eine Strähne ihres langen, dunklen Haares um die Finger und lächelte ihr melancholisches, verhaltenes Lächeln.

Auch dieses Bild verschwamm. Als es wieder klar wurde, war da immer noch Farah. Jetzt hielt sie den Blick gesenkt. Und dann floss Blut aus ihrer Nase, ihren Ohren und überall dort, wo die Steine sie getroffen hatten.

Schluss! Weg! Aus!

Ich presste meine schweißnasse Handfläche gegen das Glas, als könnte ich die Erinnerung einfach wegdrücken. Als ich die Hand wieder wegnahm, sah ich nur mich selbst, blass und ungeschminkt.

In meinem langen Schlaf-Shirt ging ich zurück ins Zimmer.

Selina schlief noch immer. Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante und berührte ihre nackte Schulter in der Hoffnung, dass sie davon aufwachte und ich sie aus meinem Zimmer und meinem Leben verabschieden konnte. Doch sie zuckte nicht einmal, selbst als ich ihr über die Wange strich.

Ich wollte nicht nachdrücklicher werden. Das hatte sie nicht verdient. Also kroch ich resigniert zu ihr ins Bett. Unter der gemeinsamen Decke war es unmöglich, sich nicht zu berühren. So spürte ich Selinas warmen Körper dicht an meinem, während mich die Erinnerungen an Farah überrollten: Wie wir im Park ge­sessen und uns die Köpfe zerbrochen hatten über das Leben, das sie nach dem Schulabschluss erwartete, aber auf keinen Fall führen wollteüber das, was wir füreinander empfanden und wie unser Traum von einer gemeinsamen Zukunft doch noch wahr werden könnte.

Farah träumte davon, eine internationale Menschenrechtsanwältin zu werden und sich speziell für die Rechte von Frauen einzusetzen. Dann würde sie in einem Penthouse in Manhattan wohnen und die Wochenenden in ihrem Haus in Long Island verbringen. Sie wusste sogar schon genau, wie es aussehen sollte: modern, mit einer riesigen Glasfront, durch die man vom großen, weißen Sofa aus einen direkten Blick aufs Meer hatte.

Mein Traum war die Pferdezucht und eine olympische Goldmedaille im Springreiten. Doch das behielt ich für mich und fügte mich stattdessen in Farahs Träume, weil ich sie liebte und für mich nichts schlimmer war als die Vorstellung, sie zu verlieren. Vielleicht ahnte ich aber auch damals schon, dass ich es reiterlich nie ins Spitzenfeld schaffen würde. Farahs Traum schien dagegen vergleichsweise realistisch, wären da nicht ihre besonderen Umstände gewesen

Als ich aus wirren Träumen erwachte und die Augen öffnete, dämmerte es bereits. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, warum ich nicht alleine im Bett lag und wer diese nackte Frau war, die sich jetzt räkelte, gähnte, die Lider aufschlug und mich anlächelte.

»Guten Morgen. Gut geschlafen

Sie war eindeutig kein Morgenmuffel. Ich auch nicht, aber die morgendliche Anwesenheit eines anderen Menschen in meinem Bett irritierte mich dermaßen, dass ich nur ein unverständliches Brummen von mir gab. Selbst Alexander und ich hattenabgesehen von gemeinsamen Hotelaufenthaltengetrennt geschlafen.

Selina schien sich an meiner Wortkargheit nicht zu stören. Sie rutschte dichter an mich heran, legte ihren Arm um meinen Nacken und küsste mich. Der Wunsch, sie loszuwerden, wurde von wiedererwachender Leidenschaft überlagert. Mehr als nur bereitwillig ließ ich zu, dass sie sich meinen Hals entlangküsste hinab zu den Brüsten, ihre Hand auf meiner feuchten Mitte. Wie geschickt und zugleich sanft sie sein konnte, hatte sie mir schon bei unserer ersten heißen Runde bewiesen. Nun drang sie in mich ein, ohne sich lange mit Zärtlichkeiten aufzuhalten. Der ungewohnt feste Druck ihrer Finger ließ mich nach Luft schnappen.

Sofort hielt sie inne, doch ich zog sie an mich, küsste sie und öffnete meine Schenkel, um ihr noch tieferen Zugang zu gewähren. Ihre Finger fanden schnell einen Rhythmus, bei dem ich mich fallen lassen konnte. Die Augen geschlossen, überließ ich mich völlig ihren Berührungen, die in mir ein neues Feuer entfachten. Zu der Gewissheit, dass sie mich mühelos abheben ließe, gesellte sich ein anderes, überraschendes Verlangen: Ich wollte nicht alleine zu den Sternen fliegen. Ich wollte es mit ihr erleben, wollte, dass sie dasselbe empfand wie ich, wollte mit ihr verschmelzen und eins werden, genauso wie beim ersten Mal, als wir es miteinander getan hatten.

Ich wendete mich zu ihr, fand ihre Mitte und drang ebenfalls in sie ein. Sie war nass und weich und empfing mich mit einer Bereitschaft, die meine Lust weiter in die Höhe trieb. Sie stöhnte in mein Ohr und meinen Mund, als ich mich in ihr zu bewegen begann.

Mit Mühe zögerte ich meinen Höhepunkt hinaus. Dann, als ich an ihrem heftigen Atem und der Anspannung ihres Körpers spürte, dass auch sie soweit war, stieß ich ein letztes Mal in sie.

Wir verloren uns gleichzeitig in diesem Rausch aus ungezügelter Begierde und Erleichterung, aus Leidenschaft und Hingabe.

Ihr Atem hatte sich noch nicht beruhigt, als sie feucht von Schweiß und Lust auf mich sank.

»Halte mich ganz fest«, flüsterte sie und wollte mich auf die Lippen küssen. Doch ich drehte schlagartig den Kopf zur Seite, denn plötzlich war da Farah, die mich küssen wollte.

Da verlor ich die Kontrolle. Tränen liefen über meine Wangen. Haltlos schluchzte ich ins Kissen und weinte, weil alles in mir erstarrt war vor Fassungslosigkeit und Verzweiflung.

»Lena! Lena, was ist denn

Eine fremde Stimme riss mich gewaltsam zurück in die Gegenwart. Ich lag nicht mehr mit Farah in dieser drittklassigen Absteige in Berlin, sondern in meinem Hotelbett auf Fuerteventura, und die Frau, die sich jetzt aufgesetzt hatte, war Selina.

»Geh!«, herrschte ich sie unter Tränen an. »Geh einfach

»Nein, ich …«, begann sie zu protestieren, aber ich blieb unerbittlich.

»Geh mir aus den Augen

Sie musste verschwinden, niemand sollte mich so sehen, am allerwenigsten eine Fremde, die mich anstarrte wie ein verstörtes Kind. Ich wollte sie von mir wegschieben, doch sie sperrte sich.

»Lena, was ist in dich gefahren? Lass uns doch reden …«

Es war genug. Mein Widerwille und die Scham, dass sie mich so aufgelöst erlebte, waren stärker als alles andere.

»Lass mich allein und hau ab

Ich versetzte ihr einen groben Schubs. Sie verlor das Gleichgewicht und rutschte von der Bettkante. Dumpf prallte ihr Körper auf dem Parkettboden auf, begleitet von einem überraschten Schrei.

»Du bist doch irre!«, hörte ich sie rufen.

Aber immerhin zog sie sich jetzt an. In Windeseile sammelte sie ihre Klamotten zusammen. Sie sah mich dabei nicht an. Ich saß reglos und starrte vor mich hin, aber innerlich bebte ich noch immer.

Erst als die Tür hinter ihr zufiel und ich allein war, begann ich mich zu beruhigen.