Ithaca Best hatte eine Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen, mit der Bitte sie zurückzurufen, während Kelly bei Clive Branson war.
„Ithaca?“ fragte Kelly, als die Verbindung hergestellt war.
„Hey, Mike. Gestern habe ich doch an unserem Mädchen noch eine Untersuchung bezüglich einer potenziellen Vergewaltigung durchgeführt. Ich habe die vorläufigen Ergebnisse zurück.“
„Irgendetwas?“
„Treffer. Anscheinend passte eines der vier männlichen Exemplare, deren Spuren bei dem Mädchen gefunden wurden, zu einem früheren Täter.“
„Entschuldigung, sagten Sie vier männliche Exemplare?“
„Nicht ungewöhnlich bei Prostituierten.“
Kelly versuchte, sich das nicht bildlich vorzustellen. „Aber sie war dreizehn.“
„Ich habe Ihnen den Treffer per E-Mail zugeschickt. Er geht zurück auf einen Phillip Smalls, zweiundvierzig Jahre alt. Seine DNA wurde bei einem Vergewaltigungsfall von vor vier Jahren entnommen.“
„Ich werde sehen, was bei mir ankommt.“
„Ich habe auch das Drogen-Screening zurückbekommen.“
„Irgendetwas Ungewöhnliches?“
„Das Mädchen wurde mit Drogen vollgepumpt. Heroin war jedoch der Spitzenreiter. Sieht aus, als hätte sie es geschnupft. Bei der Autopsie haben wir keine Spuren an ihren Armen oder Füßen gesehen.“
„Danke. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie dies als Priorität behandelt haben. Ich weiß, wie lange es normalerweise dauern kann. Ich hoffe, ich kann mich irgendwann revanchieren.“
„Davon gehe ich aus.“
Kelly legte auf und schaute Barnes an. Es war schon eine Weile her, dass jemand mit ihm geflirtet hatte. Er war sich nicht einmal sicher, was gerade passiert war.
„Irgendetwas Gutes?“
„Gut nicht, aber wir haben definitiv jemanden, den wir uns anschauen sollten. Faith wurde von einem Mann vergewaltigt, der in unserer Datenbank ist. Phillip Smalls.“
„Nicht dieser Idiot! Er kann unmöglich schon draußen sein“, schimpfte Barnes. „Ich habe ihn vor ein paar Jahren verhaftet. Eigentlich war es mein erster Fall, als ich in die SAU kam.“
„War wohl nicht lange drin.“
„Das Opfer war eine Prostituierte. Die Anklage war nicht übermäßig mitfühlend mit ihr. Sie scherzten, es sei ein Diebstahl von Dienstleistungen.“ Barnes verdrehte die Augen. „Ich habe viel Zeit mit Mädchen auf der Straße verbracht. Genug, um zu wissen, dass ihr Leben kein Zuckerschlecken ist. Es gehört einiges dazu, wenn sich eine bei uns meldet.“
„Erinnerst du dich an irgendwas, was uns helfen könnte?“
„Ich erinnere mich, dass er obdachlos war. Es hat mich Monate gekostet, ihn das letzte Mal aufzuspüren. Von einer Obdachlosenunterkunft kam er in ein besetztes Haus und von da auf die Straße. Es war fast unmöglich, ihn zu finden.“
„Großartig.“ Kelly seufzte. „Wir haben vielleicht einen anderen Weg. Es ist weit hergeholt, aber es könnte einen Versuch wert sein.“
„Was denn?“
„Faith Wilson hatte Heroin im Körper. Ich habe bei der Autopsie nichts gesehen. Hätte mal besser aufpassen müssen.“
„Ziemlich häufig heutzutage, besonders unter den Opfern von Menschenhandel. Ihre Betreuer wollen nicht, dass die Mädchen Einstichwunden haben. Die Freier sehen sie als beschädigte Ware an. Wenn sie sie unter Drogen setzen, lassen sie sie schnupfen.“
„Macht auf eine kranke Art und Weise Sinn.“ Kelly notierte die Zeit und neuen Informationen in seinen Notizblock. „Ich kenne jemanden, der vielleicht etwas Licht in die Sache bringen kann.“
„Bevor wir das tun, sollten wir uns die Adresse ansehen, die Branson uns gegeben hat.“
„Er sagte, die Party läuft Tag und Nacht. Die größeren Partys finden nachts statt, aber wer weiß, vielleicht haben wir Glück.“
Barnes lachte.
„Was ist so lustig?“
„Glück? Nette Wortwahl, Mikey.“
Das graue, dreistöckige Haus war ruhig. Es war kurz nach 13.00 Uhr. Die Detectives saßen im Auto davor. Sie hatten beschlossen, Barnes' Caprice zu nehmen, da die hohen Tiere sie anscheinend lieber mochten und ihr einen Wagen gaben, der in den letzten zehn Jahren gebaut worden war. Beide hatte eine Tasse Dunkin'-Kaffee in der Hand, um die kühlen Nachmittagstemperaturen abzuwehren und ihnen gleichzeitig den dringend benötigten Koffeinschub zu verabreichen.
„Heute passiert hier nicht viel.“ Kelly nahm den Deckel von seinem Becher ab. Er hasste es, durch die kleine Öffnung zu trinken. „Vielleicht sollten wir heute Abend wiederkommen?“
„Hab Geduld. Die Freier kommen nach dem Mittagessen, um Dampf abzulassen, bevor sie zurück in ihr Büro müssen.“
„Du hast das echt lange gemacht, oder?“
„Verbringt man genug Zeit damit, sich mit Sexualverbrechen zu befassen, beginnt man, die Schattenseiten der Gesellschaft zu sehen.“ Barnes nippte an ihrem Kaffee. „Ehrlich gesagt, wünschte ich, ich könnte die Hälfte des Mists, den ich jetzt weiß, aus meinem Gedächtnis löschen. Man kann nirgendwo mehr hingehen, ohne an Verbrechen zu denken.“
„Wenn normale Menschen eine Ahnung davon hätten, was zu jedem beliebigen Zeitpunkt um sie herumwirbelt, würden sie sich wahrscheinlich in ihren Häusern einschließen und nie wieder herauskommen.“
Ein hellblauer Wagen fuhr auf dem Bordstein vor ihrem Ziel vor. Der Fahrer blieb im Fahrzeug.
„Sieht aus, als hätten die Informationen unseres idiotischen Teenagers vielleicht doch gestimmt.“ Barnes streckte ihr Kinn in Richtung des neu angekommenen Autos.
„Hoffen wir es.“
Kelly sah zu, wie ein Mann mittleren Alters ausstieg. Er war groß und dünn. Sein dunkles Haar war nach hinten geklatscht, und der Mann trug eine Windjacke über einem Hemd. Er trug eine ordentlich gebügelte Hose und glänzende braune Schuhe. Er sah eher wie ein Banker oder Buchhalter aus, und vielleicht war er das auch, aber diese spezielle Gegend im Westen von Dorchester war nicht als Businessgegend bekannt, es sei denn, man war zufällig im Drogenhandel tätig.
„Für jemanden, der etwas außerhalb seiner Komfortzone zu sein scheint, sieht er nicht allzu nervös aus“, sagte Barnes. „Wahrscheinlich bedeutet das, dass er hier schon einmal vorbeigekommen ist. Vielleicht täglich.“
Der Mann scannte beiläufig seine Umgebung und ging dann die baufälligen Holzstufen hinauf, die zur Veranda im ersten Stock führten. Er öffnete die Tür und verschwand im Inneren.
„Wie lautet die Ansage?“ fragte Barnes.
„Wir könnten warten, bis er herauskommt. Oder wir könnten vorbeischauen und ihm einen Besuch abstatten.“
„Mir gefällt Option B.“
„Das dachte ich mir.“
„Notfall?“
Kelly lächelte. Es war, als würde sie seine Gedanken lesen. „Ich bin ziemlich sicher, dass ich gerade jemanden schreien hörte. Lass es uns melden.“
Barnes schaltete ihr Radio ein. „Die Detectives Barnes und Kelly an der Ecke Millet und Wheatland überprüfen einen Fall von Ruhestörung.“
Kelly und Barnes stiegen aus ihrem Fahrzeug aus und begannen leicht zu joggen, als sie über die Straße zum Haus trabten. Im Tandem bewegten sich die beiden schnell die klapprige Treppe hinauf. Das verzogene Holz knarrte laut.
In der oberen rechten Ecke der überdachten Veranda befand sich eine Sicherheitskamera. Das blinkende rote Licht war ein Indikator dafür, dass, wenn jemand sie überwachte, ihr Überraschungsmoment nun beeinträchtigt war. Kelly blickte zu Barnes, als er seine Dienstwaffe zog. Er ergriff den Türknauf. Barnes presste ihren Körper eng an seinen und nickte.
„Es ist offen“, flüsterte er.
„Jetzt oder nie.“
Kelly drehte den Knauf und schleuderte sich gegen die Tür, wobei er seine Waffe nach unten hielt, als er eintrat. Die Tür öffnete sich zu seiner Linken zu einem Treppenhaus und zu seiner Rechten zu einem schmalen Flur.
Kelly kündigte ihre Anwesenheit an. „Boston PD!“
Ein großer Mann in einem grauen Trainingsanzug trat aus einer Tür vor ihnen heraus. „Was zum Teufel ist das?“ Seine Stimme hatte einen starken osteuropäischen Akzent.
„Hände hoch!“ Barnes bellte.
Der Veloursgorilla hob langsam die Hände, als ob jeder Zentimeter seinem Ego einen großen Tribut abverlangte.
„Runter auf die Knie!“ Kelly schloss zu ihm auf, steckte seine Pistole ins Holster und tauschte seine Glock gegen Handschellen. Er zwang die Hände des großen Mannes auf den Rücken, während Barnes ihm Deckung gab. Als der Mann in einer sitzenden Position vor der Tür gesichert war, zog er seine Pistole wieder und überprüfte den Raum, aus dem der Mann gekommen war. Er war leer. Im Hintergrund lief ein kleiner Fernseher und an der Spüle brannte eine Zigarette in einem Aschenbecher. „Wo sind die Mädchen?“
Der Mann sagte nichts. Er spuckte auf den Holzboden neben Kellys Fuß. Kelly wehrte sich gegen den Drang, ihn mit der Pistole zu schlagen. Dann hörte er das Geräusch einer sich öffnenden und schließenden Tür im zweiten Stock.
Barnes stieg die Treppe hinauf, während Kelly sich zum unteren Ende der Treppe bewegte und seinen Partner überwachte, während er den Mann in Handschellen im Auge behielt.
„Runter auf den Boden!“ schrie Barnes. Ihre Stimme war laut, aber kontrolliert. Sie war ein Profi und konnte mit Situationen wie diesen umgehen, was sie schon in ihren frühen Jahren auf diesen Straßen bewiesen hatte.
„Wen hast du da?“ rief Kelly, als er das vertraute Klicken ihrer Handschellen hörte, die einrasteten.
„Einen Mann. Ich schicke ihn runter.“
Kelly hörte die Befehle, die dem Mann oben gegeben wurden. Er ging die klapprige Treppe mit den Händen auf dem Rücken hinunter. Der Mann schwankte; Fesseln stören das Gleichgewicht. Als er unten angekommen war, wies Kelly ihn an, sich neben dem Mann im Overall auf den Boden zu setzen.
Der Geschäftsmann hörte zu, doch als er vorbeikam, murmelte er: „Sie machen einen großen Fehler. Sie wissen nicht, mit wem Sie sich anlegen.“
„Ich bin sicher, dass wir uns bald gut genug kennenlernen werden. Warum setzen Sie sich nicht erst einmal hin und halten den Mund?“
Barnes erschien am oberen Ende des Treppenhauses mit drei Mädchen im Schlepptau. Eine, ein jünger aussehendes Mädchen, war ungepflegter als die anderen und arbeitete daran, ihr Hemd zu glätten, während sie die Treppe hinunterstieg.
„Ich habe die übrigen Räume gecheckt. Dies waren die einzigen, die ich fand.“ Barnes zuckte die Achseln. „Mittags war doch nicht so viel los, wie ich dachte. Vielleicht hätten wir auf heute Abend warten sollen.“
„Sehen wir erst einmal, was die beiden zu sagen haben.“
Kelly forderte Unterstützung an. In den fünfzehn Minuten, die es dauerte, bis zwei Streifenwagen ankamen, hatten sie Gelegenheit gehabt, die drei Mädchen zu identifizieren. Keine von ihnen war minderjährig. Das jüngste Mädchen war achtzehn Jahre alt.
Der Geschäftsmann wurde als George Puzzo, ein Angestellter des Bürgermeisters, identifiziert. Der Mann begann zu weinen, als ihm klar wurde, dass es Kelly egal war, zu wem er politische Verbindungen hatte. Der kurze Machismo, den er zu Beginn an den Tag legte, war nun vollkommen weggewaschen. Kelly konnte nicht sagen, ob der Mann sich mehr Sorgen machte, seinen Job oder seine Frau zu verlieren, wenn die Verhaftung ans Licht käme.
Der Bodyguard im Trainingsanzug, Aleksander Kowalski, sprach überhaupt nicht. Er zeigte keine Spur von Emotionen, weder Angst noch sonst etwas, als er von dem seinem Transport zugeteilten Streifenpolizisten weggeführt wurde.
Eine kleine Menschenmenge hatte sich auf den benachbarten Veranden versammelt, um die kostenlose Episode von Cops
live in ihrer Straße zu sehen.
Puzzo setzte sein ständiges Schluchzen fort, als er zum
Heck des wartenden Streifenwagens eskortiert wurde. Er blickte zurück über die Schulter zu Kelly und Barnes. „Können wir uns nicht irgendwie einigen?“
„Kommt darauf an, was Sie uns sagen wollen.“
„Alles, was Sie wissen wollen. Sagen Sie es nur nicht meiner Frau.“ Ein Polizist drückte Puzzos Kopf nach unten und drückte ihn auf den Rücksitz.
„Bringen Sie ihn zur Mordkommission, nachdem er eingebuchtet worden ist“, sagte Kelly zu dem jungen Streifenpolizisten.
Der Mann nickte. „Was ist der Verhaftungsgrund?“
„Zunächst einmal Sittenwidrigkeit. Wir werden sehen, wie es dann weitergeht.“
„Wird innerhalb der nächsten Stunde erledigt.“
„Danke.“ Kelly pochte auf das Autodach und salutierte spöttisch dem Mann auf dem Rücksitz.
„Vielleicht weiß er mehr, als es scheint“, sagte Barnes.
„Einen Versuch wert.“
„Wir haben ein bisschen Zeit. Ich möchte die Sache noch aus einem anderen Blickwinkel betrachten.“