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Eigentlich wollte ich ja nie Polizist werden.

Dicke weiße Flocken trudeln aus einem tief hängenden grauen Himmel herab, lasten schwer auf den durchhängenden Buchenzweigen, drücken die Ginstersträucher gnadenlos zu Boden.

Ein Bächlein gluckert irgendwo hinter dem Stacheldrahtverhau eines undurchdringlichen Brombeergestrüpps.

Eine weiße Decke verhüllt die Waldlichtung, der Schnee löscht alle Formen und Farben aus und hinterlässt nur die erstarrten Geister dessen, was darunter vergraben ist.

Ich wollte Astronaut werden oder Fußballspieler oder Rockstar …

Alles ist ruhig und still und unberührt, bis auf eine Reihe tiefer Fußstapfen und eine Narbe mit glatten Rändern, wo etwas Schweres durch die Schneewehen geschleift wurde.

Und dann durchbricht etwas die Stille: das Ping und Klonk der Spitzhacke, die den gefrorenen Boden bearbeitet – ein regelmäßiges, methodisches Geräusch, ein industrielles Metronom, das die Stunde des Todes markiert. Jeder Schlag von einem angestrengten Ächzen begleitet.

Mein großer Bruder Dave war derjenige, der die Familientradition hochhalten und zur Polizei gehen sollte, aber dann ist ein Besoffener mit Vollgas über die Holburn-Kreuzung gerast, und damit war das Thema erledigt.

Die Frau, die die Spitzhacke schwingt, ist groß, breitschultrig, kräftig. Die Haare aus dem geröteten Gesicht zurückgebunden. Mitte vierzig.

Ihre gefütterte Warnjacke hängt am Ast einer knorrigen Kiefer, wie eine abgezogene Haut – ein Ärmel schwarz von Blut, weitere Flecken auf der Vorderseite. Eine zweite Jacke, dunkel wie Kohle, und eine petrolblaue Bluse sind über einen anderen Ast drapiert.

Dampf steigt von den Schultern ihres burgunderroten T-Shirts auf. Man sollte meinen, dass sie ein bisschen … na ja, Death-Metal -mäßiger gekleidet wäre. Also irgendwas mit einem Totenschädel oder einer Schlange mit einem Messer zwischen den Zähnen oder so ähnlich. Aber auf ihrem T-Shirt prangt eine Zeichnung einer schwarzen Katze mit Schleife um den Hals und Augenklappe, die mit einer Pistole posiert, wie auf einem James-Bond-Filmplakat.

Das Loch ist bereits hüfttief, daneben liegt ein Haufen dunkler Erde. Der Holzstiel einer Schaufel ragt aus dem Haufen wie ein kahler Flaggenmast.

Dave tauschte seine Träume von einer Polizeikarriere gegen einen Rollstuhl, und ich tauschte meine gegen einen Dienstausweis. Denn so macht man das, wenn der Vater Polizist ist, so wie sein Vater vor ihm und dessen Vater vor ihm.

Eine reglose Gestalt liegt ein Stück abseits, halb verdeckt von einem blutigen Laken, an die hungrigen Wurzeln der Kiefer geschmiegt.

Die Warnjacke des Mannes sieht genauso aus wie die am Ast, nur mit viel mehr Blut. Der neongelbe Rücken ist von dunkelroten Flecken überzogen, auch der schmutzig graue Anzug darunter ist damit getränkt. Der Besitzer der Jacke sieht keinen Tag älter als vierundzwanzig aus, aber er sieht auch sehr, sehr tot aus. Seine Haut hat diesen wächsernen, durchscheinenden Leichenhallen-Teint, jedenfalls an den Stellen, die nicht dunkelrot verschmiert sind. Auch auf seinem Hemd ist Blut und auf den Wangen in seinem scharf geschnittenen Gesicht. Dunkle Ringe unter den geschlossenen Augen. Kurze braune Haare und ebensolcher Knebelbart …

Schon komisch, wie es manchmal läuft, nicht wahr?

Die muskulöse Frau mit dem Comic-Katzen-T-Shirt hält im Hacken inne und steht eine Weile so da, den Kopf in den Nacken gelegt. Atemwolken steigen auf, während der Schnee fällt. Ihr Gesicht glänzt rosig.

Entschuldigung – wo bleiben meine Manieren? Bei der Dame mit der Spitzhacke handelt es sich um eine gewisse Detective Inspector Victoria Elizabeth Montgomery-Porter, North-East Division.

Manche nennen sie »Bigtoria«, aber nur hinter ihrem Rücken.

Sie wirft die Spitzhacke aus der Grube und packt stattdessen die Schaufel. Die Muskeln in ihren massigen Armen treten hervor und wölben sich, während sie gräbt, das Schaufelblatt in die gelockerte Erde rammt und sie mit Schwung auf den Haufen wirft.

Ich habe schon schlechtere Chefs gehabt als sie. Und ja, nach dem, was passiert ist, fällt es schwer, das zu glauben. Manchmal entgleiten einem die Ereignisse einfach, und ehe man sich’s versieht, findet man sich in einem abgelegenen, verschneiten Glen wieder und muss eine Leiche verscharren.

Die Schaufel knirscht, als Bigtoria sie in den steinigen Boden bohrt. Steine und Erde verströmen einen Geruch nach schimmligem Brot, der sich mit dem pfeffrigen Ozonhauch des Schnees vermischt.

Ich selbst bin übrigens Detective Constable Edward Reekie. Und man könnte wohl sagen, dass ich einen sehr schlechten Tag habe.

Eine letzte Schaufel Erde landet auf dem Haufen, dann klettert Bigtoria aus der Grube, stapft hinüber zu der Leiche, fasst sie unter den Achseln und schleift sie zurück zu dem Loch.

Es ist merkwürdig. Ich weiß, eigentlich müsste ich wütend sein deswegen – stinkwütend sogar –, weil ich ja schließlich die Leiche bin, verstehen Sie? Aber hauptsächlich ist mir nur kalt.

Bigtoria rollt Edward in die Grube. Steht einen Moment lang da und starrt auf ihn hinunter, den Kopf zur Seite geneigt, auf die Schaufel gestützt wie ein Henker auf seine Axt. Dann brummt sie etwas und schnappt sich ihre Jacke von dem Ast.

Sollte meinen, dass sie es fertigbringt, ein paar Worte zu sagen, oder? Zu sagen, dass es ihr leidtut. Mich um Vergebung zu bitten vielleicht? Eine verdammte Entschuldigung könnte auch nicht schaden.

Aber Bigtoria sagt kein Wort. Stattdessen fischt sie ein Handy und ein Spielzeug-Walkie-Talkie aus ihren Jackentaschen. Das Walkie-Talkie ist geformt wie der Kopf eines Clowns, mit einer lustigen roten Nase und breitem Grinsemund, und es verschwindet fast in ihrer Pranke.

Ist nicht ganz die Beerdigung, die mir vorgeschwebt hätte, das muss ich schon zugeben. Hätte irgendwie gehofft, dass mehr Trauergäste kommen würden, dass vielleicht ein paar Tränen fließen. Bewegende Reden darüber, was für ein feiner Kerl ich doch war. Verzweifelte Witwe, zwei Komma vier untröstliche Kinder und ein todunglücklicher Golden Retriever.

Nachdem sie die Taschen geleert hat, wirft Bigtoria ihre Jacke in die Grube. Sie landet auf Edward, verdeckt sein blutiges, dreckverschmiertes Gesicht. Das fleckige Laken, in das er gehüllt war, fliegt hinterher.

Und ich hätte ja kein protziges Mausoleum gewollt – ein schöner Grabstein hätte es auch getan.

Eine Schaufel Erde landet prasselnd auf der Jacke. Dann noch eine. Und noch eine.

Schließlich war das alles nicht meine Schuld.

Irgendwo in der Nähe setzt ein elektronisches Gedudel ein. Es ist eine billige, einstimmige Version dieser altmodischen Zirkus-Melodie: Dam-dam dadda-dadda dam-dam daaaaa-da.

Eine Pause, ein paar Flüche, dann ein Piepsen, als Bigtoria auf die Nase des Clowns drückt. Sie blafft hinein, ihr Ton hart und scharf wie die Klinge der Spitzhacke. »Was?«

Eine verzerrte Stimme tönt aus dem Walkie-Talkie. Es ist ein alter Mann, und er klingt genauso kalt und scharf wie Bigtoria, aber im Gegensatz zu ihrem vornehmen Tochter-aus-gutem-Hause-Schottisch ist seine Reibeisenstimme reinstes Glasgow und klingt nach Sozialsiedlungen, Whisky und Stiefeltritten. »Ist es erledigt?«

»Herrgott noch mal. Ich wäre schneller fertig« – sie wird mit jedem Wort lauter –, »wenn du mich nicht jede verdammte Minute« – jetzt brüllt sie regelrecht – » MIT DEINEN KONTROLLANRUFEN NERVEN WÜRDEST

Schweigen senkt sich mit den Schneeflocken herab, legt sich über die Landschaft. Jetzt sind die einzigen Geräusche der murmelnde Bach, das raue Krächzen einer Krähe in der Ferne und Bigtorias Atem. Ein und aus, wie ein wütender Blasebalg.

Die Stimme des Mannes ertönt wieder. »Bring’s einfach hinter dich.«

Ein wütendes Fauchen. Ein Seufzer. Und dann klatscht eine weitere Schaufel voll Erde auf Edwards Leiche.

Bigtoria füllt die Grube nach und nach auf. »Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen.«

Als ob sie es wäre, die da in der Grube liegt.

Wieder und wieder prasselt die Erde herab, bis nichts mehr übrig ist als dumpfer Tod.

Aber ich greife vor. Am besten fangen wir ganz am Anfang an …