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Edward zog den Reißverschluss seiner nagelneuen, glänzenden Warnjacke hoch, während er die Straße überquerte und durch den Schnee zu ihrem scheußlichen, versifften, rostfleckigen Vauxhall stapfte. Die Jacke leuchtete nukleargelb, als diese LED -Straßenlaternen sie erfassten, wie die identische Jacke, die Bigtoria trug, als sie sich auf den Beifahrersitz zwängte.

Sie waren vielleicht eine Stunde im Revier gewesen, aber der Poolwagen war schon mit einer zwei Finger dicken Schicht Neuschnee überzogen. Edward wischte rasch die Frontscheibe frei, dann warf er sich hinters Steuer und kurbelte den Motor an.

»Sind Sie sicher, dass wir uns nicht den Großen Wagen ausleihen können, Chefin? Mit der Karre hier ist es, als ob man mit einem Teetablett auf einer Schlittschuhbahn rumfährt.«

»Würden Sie lieber bei zweihundert Gangstern und Sexualverbrechern nach dem Rechten sehen? Sergeant Farrow braucht ihn dringender als wir.«

»Mag sein.« Aber blöd war es trotzdem.

Er fuhr vom Bordstein weg und weiter über den Marktplatz, immer schön langsam, mit maximal fünfzehn Stundenkilometern, und gab sich Mühe, den besonders rutschigen Stellen auszuweichen.

Bigtoria streckte ihm die Hand hin. »Die Ausdrucke.«

»Liegen hinten.«

»Herrgott noch mal …«

Weil er ja im Moment nichts Wichtiges zu tun hatte, nicht wahr? War ja nicht so, als ob er gerade ein Auto durch eine winterliche Horrorshow steuern müsste, nicht wahr?

Sie schuckelte auf ihrem Sitz herum und reckte und streckte sich, um unter allerhand Grummeln und Ächzen nach den Papieren zu tasten. Dann setzte sie sich wieder gerade hin, in der Hand die Dokumentenmappe, die sie von Sergeant Farrow bekommen hatten. »Wissen Sie, was mir Kummer macht?«

»M-hm.« Edward drehte das Gebläse voll auf, um gegen das Beschlagen der Frontscheibe anzukämpfen. »Geoff Newman wurde gefoltert, nicht wahr? Und das tut man nur, wenn jemand ein Geheimnis hat, das man erfahren will. Und man selbst muss wissen, dass derjenige etwas weiß, wofür es sich lohnt, ihn zu foltern.« Rechts ab in die Thistle Lane, vorbei an Gärten und einer alten Waldkiefer, die sich schon unter der Last der Schneemassen bog. »Und die Information müsste wertvoll genug sein, um das Risiko einzugehen, ihn an einem Ort zu foltern, der mit Überwachungskameras gespickt ist und wo die Bewegungen von fast allen Bewohnern permanent aufgezeichnet werden.«

Sie machte den Mund auf. Dann machte sie ihn wieder zu und runzelte die Stirn. »Eigentlich wollte ich sagen, dass wir die Zentralheizung in Newmans Haus hätten ausschalten sollen – das ist bestimmt nicht gut für die Leiche. Aber das ist sehr gut beobachtet.«

»Wir könnten doch PC Harlaw oder Samson fragen, ob sie die Heizung abstellen können?«

Bigtoria schnaubte. »Und darauf vertrauen, dass sie nicht wieder durch den Tatort trampeln wie eine Herde betrunkener Gnus?« Sie zog eine Handvoll Ausdrucke aus der Mappe, die dank der grellen Straßenlaternen mühelos lesbar waren. »Wir machen es selbst, gleich nachdem wir mit dieser Agatha Reynolds gesprochen haben.« Ein boshaftes Lächeln schlich sich in ihre Züge. »Die zwei können derweil in den Wald gehen und rausfinden, was Geoff Newman dort zwei Stunden lang getrieben hat.«

»Sie meinen, außer seiner ›Vergnügungssucht‹ zu frönen?«

Sie erwiderte Edwards Grinsen nicht.

»Aber Chefin, finden Sie nicht, dass das ein bisschen gemein ist? Ich meine, schon klar, sie haben Mist gebaut und so, aber es ist dunkel, es schneit, und da draußen hat es bestimmt weit unter null.«

»Das hätten sie sich überlegen müssen, bevor sie meinen Tatort kontaminiert haben.«

Doch der schrecklichste der Schrecken ist die DI in ihrem Wahn.

Aber das Gute daran war: Wenn Harlaw und Samson dazu verdonnert wurden, musste Edward es nicht machen. War doch eine erfreuliche Abwechslung, dass jemand anderes den Scheißjob aufs Auge gedrückt bekam.

Am Ende der Thistle Lane bog er links ab und …

Das Heck des Wagens brach aus, die Reifen schlitterten und rutschten über Schnee und Eis, und sie begannen sich in einer Art Zeitlupen-Pirouette zu drehen.

»Aaaaaaaah …« Er kurbelte am Lenkrad, versuchte gegenzusteuern, wie er es in der Fahrschule gelernt hatte, aber ohne den geringsten Erfolg, und dann zeigte die Schnauze plötzlich in die andere Richtung, und sie drehten sich immer noch weiter, und o Gott , da kam ein Laternenpfahl frontal auf sie zugerast!

Aber anscheinend waren die Vorderräder an den vom Schnee verdeckten Bordstein gestoßen, denn der Vauxhall blieb mit einem Ruck stehen, nur wenige Zentimeter von dem Pfosten entfernt.

Edward nahm die Hände vom Lenkrad und sackte in seinem Sitz zusammen, schwer atmend, den Kopf in den Nacken gelegt. Gott sei Dank waren hier keine anderen Autos unterwegs. Wäre das Ganze in Aberdeen passiert, dann hätte er jetzt mindestens ein halbes Dutzend SUV mit Wunschkennzeichen zu Schrott gefahren.

Stattdessen waren sie hier allein, mit einer Reihe von drei Häusern zur Linken, in deren Fenstern Licht brannte, einem verschneiten Abhang, der weiter unten von der Dunkelheit verschluckt wurde, und zwei Cottages, die aussahen, als ob sie irgendwann im letzten Jahrhundert den Geist aufgegeben hätten. Windschiefe Dächer, mit Brettern vernagelte Fenster und Türen, abbröckelnde Schornsteine und zugewucherte Gärten. Alles kurz davor, von den Schneemassen verschlungen zu werden.

Bigtoria blickte nicht einmal von ihren Unterlagen auf. »Können Sie vielleicht mal fahren wie ein normaler Mensch?«

Wie ein …?

Tief durchatmen. »Ich tu mein Bestes.« Er setzte zurück – gaaanz, ganz vorsichtig –, bis der Wagen wieder richtig herum in der South Street stand. »Wir brauchen Schneeketten oder so was in der Art. Oder den Großen Wagen.«

»Hmmpf.« Sie blätterte um. »Hier steht, dass Newman sieben Jahre als Sergeant bei der Metropolitan Police gearbeitet hat, bevor sie ihm auf die Schliche gekommen sind.«

»O Schreck, o Graus. PC Samson hat erzählt, dass …«

»Ich frage mich, ob er früher schon mal mit einem der Bewohner hier zu tun hatte? Sei es in seiner offiziellen Funktion oder im Zusammenhang mit seinen zwielichtigen Nebentätigkeiten.«

»Vielleicht könnten wir die Met bitten, uns seine Akte zu schicken? Wer weiß, vielleicht haben sie hier ja sogar eine Kopie, wenn sie über ihre Bewohner ordentlich Buch führen.«

Sie zog eine Schulter hoch. »Einen Versuch ist’s wert. Also, können wir jetzt vielleicht mal weiterfahren? Da wären wir ja zu Fuß noch schneller gewesen.«

Edward gab sich wirklich große Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. »Ja, Chefin.«

Aber er fuhr trotzdem nicht schneller als Schritttempo.

Das Sanctuary House war ein weitläufiger Komplex von miteinander verbundenen Bungalows, mit einer Art Hof in der Mitte, nicht weit außerhalb von Glenfarach und vom Dorf abgeschirmt durch eine Palisade aus Geißblatt und Douglasien.

Edward hielt kurz vor dem Parkplatz an, weil der Schnee dort mindestens fünfzehn Zentimeter hoch lag. Und er kein Idiot war. Fünf Kleinwagen waren auf ihren Stellplätzen eingeschneit, und sie würden so bald nicht von dort wegkommen, es sei denn, jemand grub sie aus.

Bigtoria stampfte auf den Empfangsbereich zu, der mit den Gittern vor den Fenstern und der Eingangstür nicht gerade einladend wirkte. Edward schloss den Wagen ab und schlurfte hinter ihr her, wobei er vorsichtshalber in ihre Fußstapfen trat, denn er war wie gesagt kein Idiot.

Es war eher noch kälter geworden. Die Luft war wie ein brennendes Gewicht auf seiner Haut, sie drückte von oben auf seinen Kopf und ließ seinen Atem im harten Licht der LED -Lampen beinahe zu Eis gefrieren.

An der Sprechanlage neben der Eingangstür standen keine einzelnen Namen, es gab nur den einen Knopf mit der Aufschrift »NUR FÜR NOTFÄLLE !«.

Er drückte mit dem Daumen darauf. »Ob das als Notfall zählt?« Er stampfte mit den Füßen und hauchte sich in die hohlen Hände, während sie warteten.

»Sobald wir zurück auf dem Revier sind, möchte ich, dass Sie bei den Anwohnerbefragungen helfen. Ich traue diesem Trottel Harlaw nicht weiter, als ich ihn werfen kann.«

Puh.

»Chefin.« Er klang ungefähr so begeistert, wie er sich fühlte.

»Und wenn Sie schon dabei sind – wir brauchen auch eine Mordtafel und eine Einsatzzentrale. Wir müssen voll einsatzbereit sein, sobald die Verstärkung …«

Eine Luke in der Tür wurde aufgeschoben, und ein misstrauisches Augenpaar spähte durch das verstärkte Sicherheitsglas. Ein verzerrtes Piepsen drang aus einem verborgenen Lautsprecher irgendwo über ihren Köpfen, gefolgt von einer Stimme. Weiblich, irgendwo in den Vierzigern und sehr, sehr müde. »Hallo? Wir haben schon Ausgangssperre, Sie dürften gar nicht …«

Bigtoria knallte ihren Dienstausweis an die Scheibe des Gucklochs. »DI Montgomery-Porter und DC Reekie. Wir möchten mit Agatha Reynolds sprechen.«

Schweigen.

»Haben Sie mich gehört? Polizei, Sie müssen bitte aufmachen.«

Ein zischender, elektronischer Seufzer. »Augenblick.« Dann ein gedämpftes Klackern und Rasseln, und endlich ging die Tür auf, auf der eine kleine Schneewehe – wie eine gefrorene Welle – zurückblieb, die nur darauf wartete, auf den Fliesenboden zu klatschen.

Eine kleine, mollige Frau sah sie fragend an – dicke Tränensäcke unter den Augen und eine braune Bobfrisur, unter der drei Zentimeter graue Ansätze zu sehen waren. Große runde Brillengläser. »Aggie geht es nicht so gut. Der Doktor hat ihr Tabletten gegeben für die Nerven.«

Bigtoria trat über die Schwelle und zwang die Türwächterin, ihr auszuweichen. »Es wird nicht lange dauern.«

Edward folgte ihr ins Haus. »Hallo. Entschuldigen Sie bitte.«

Es gab keinen Empfangstresen oder so etwas Ähnliches, nur einen großen Flur, von dem eine Reihe von Türen abgingen: » TEAMLEITUNG «, » GRUPPENRAUM 1«, » GRUPPENRAUM UND » ARBEITSMEDIZIN « . Eine weitere Tür am Ende des Flurs, die zu den miteinander verbundenen Bungalows führte, war mit einem Zahlencode gesichert. Nicht gerade heimelig, aber irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, das Ganze mit Topfpflanzen und Gemälden an den mattweißen Wänden etwas aufzuhübschen.

Bigtoria zeigte mit dem Finger auf die Frau. »Name?«

Die Frau blinzelte. »Was?«

»Ihr Name. Wie heißen Sie?«

»Oh …« Ihre Wangen färbten sich rot. Dann reckte sie in einem Anflug von Trotz das Kinn. »Helen Sneddon. Teamleitung. Ich bin hier verantwortlich.«

»Tatsächlich.« Bigtoria klang nicht im Geringsten beeindruckt. »Wo ist Agatha Reynolds?«

Ms Sneddon öffnete die Tür eines Gruppenraums und führte sie in ein fensterloses Zimmer mit einem runden grauen Tisch in der Mitte. Dazu vier ebenso graue Plastikstühle und ein graues Sideboard mit Schreibblöcken und einer Dose mit angekauten Stiften. Der einzige Farbtupfer im Raum war ein gerahmter Druck von van Goghs Sonnenblumen. »Warten Sie hier.«

Bigtoria trat näher und baute sich vor ihr auf. »Es ist sehr wichtig, dass wir uns mit Ms Reynolds unterhalten.«

»Also … warten Sie hier, okay?«

Sie ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Man hörte noch ein wenig gedämpftes Grummeln, und dann war sie weg.

Bigtoria drehte noch eine Runde durchs Zimmer und sah auf ihre Uhr. »Wie lange kann es denn dauern, eine einzige verdammte Sozialarbeiterin zu holen?«

Edward schlug die nächste Seite der Dokumentenmappe auf – ein Polizeifoto von Geoff Newman. »Es sind doch erst fünfzehn Minuten, Chefin. Geben Sie ihnen eine Chance.«

Nach dem Datum zu urteilen war es wahrscheinlich an dem Tag aufgenommen worden, als sie Newman wegen seiner kriminellen Aktivitäten verhaftet hatten. Er starrte in die Kamera, seine Miene schwankend zwischen Angst und Trotz. Er sah jünger aus und bei Weitem nicht so tot. Ein großgewachsener Mann mit markanter Nase und fliehendem Kinn. Mehr Stirn als Haare. Seine Augen waren blutunterlaufen und blau, aber wenigstens waren sie noch in seinem Kopf …

Auf dem nächsten Foto war er wesentlich älter, mit tief eingegrabenen Krähenfüßen, deutlichen Marionettenfalten in den Mundwinkeln und runzligen Schläfen. Ein grau melierter Bart verbarg sein fliehendes Kinn.

Bigtoria drehte noch eine Runde. »Wir vergeuden hier unsere Zeit. Wir haben schließlich einen Mörder zu fangen.«

Nach den Fotos kam eine Art alljährliche Beurteilung, durchgeführt vom Sozialarbeiterteam.

»Hier steht, dass er in der Schreinerwerkstatt mitgearbeitet hat, und er hatte angefangen, Malstunden in der Bücherei zu nehmen.« Was die selbst gebastelten Schränke und die amateurhaften Landschaftsbilder in seiner Küche erklärte. »Sollten wir uns vielleicht die anderen Malschüler und die Kollegen aus der Schreinerei vornehmen? Und sie über Newmans Vergangenheit ausquetschen – vielleicht weiß ja jemand, ob er ein Geheimnis hatte?«

Sie ließ ihre Knöchel knacken. »So, das reicht. Ich habe die Schnauze voll von …«

Es klopfte an der Tür, und Helen Sneddon steckte den Kopf herein. Die Miene ernst und streng. »Okay, sie ist bereit, mit Ihnen zu reden, aber Sie müssen versprechen, dass Sie sie nicht zu sehr aufregen. Okay?« Sie nickte, wie um sich selbst zuzustimmen. »Okay.«

Dann ging die Tür ganz auf, und herein kam die Sozialarbeiterin aus dem Überwachungsvideo. Auch ohne die Daunenjacke war Agatha Reynolds füllig. Eine grobschlächtige Frau in einem formlosen weißen Smock-Top, Jeans, einer zweckmäßigen Brille und einem Umhängeband. Die Tränensäcke unter ihren Augen waren noch tiefer und dunkler als die von Ms Smeddon. Sie war sichtlich fix und fertig und – nach den großen Pupillen zu schließen – möglicherweise ein wenig bekifft.

Sie schlurfte herein und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. Ms Sneddon nahm neben ihr Platz und überließ Bigtoria die letzte verbleibende Sitzgelegenheit. Der DI schien es gar nicht zu behagen, dass noch eine zusätzliche Person im Raum war.

Ms Sneddon lehnte sich entspannt zurück. »Entweder ich stehe meiner Kollegin zur Seite, oder ich begleite sie zurück in ihre Wohnung. Ihre Entscheidung.«

Eisiges Schweigen, dann in bisschen empörtes Schnauben und Augenrollen. Und dann: »Na schön. Sie können bleiben.« Bigtoria riss Edward die Ausdrucke aus der Hand, blätterte sie durch und klatschte das Foto von Geoff Newman vor Agatha Reynolds auf den Tisch. »Ich will alles über diesen Mann wissen.«

Edward zog Stift und Notizbuch hervor und machte sich bereit mitzuschreiben.

Ms Reynolds schmatzte ein paarmal mit den Lippen, und die Falten zwischen ihren Augenbrauen wurden tiefer, als ob sie Mühe hätte, das Foto zu fixieren. »O Gott, es war einfach … entsetzlich. Das ganze Blut und … und … es … Er hat ihm die Augen ausgestochen! Die Augen! Wer tut denn so was?«

»Ist Ihnen Newman irgendwie verändert vorgekommen, als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«

»Verändert?« Ms Reynolds schien eine Weile zu brauchen, um zu begreifen, dass Bigtoria das letzte Mal meinte, dass sie ihn lebend gesehen hatte. »Er war … Geoff hat sich über irgendetwas aufgeregt, aber er wollte nicht darüber reden.« Sie malte mit einer zittrigen Hand einen Kreis in die Luft. »Manchmal wird er ein bisschen … depressiv. Aber das war jetzt eher so was wie … Paranoia? Vielleicht? Er … er hat die ganze Zeit vor sich hingemurmelt, dass irgendwer hinter ihm her sei.« Eine kleine Pause, während ihr anscheinend klar wurde, was das bedeutete, und dann brach Ms Reynolds in haltloses Schluchzen aus. »O Gott, er hatte recht. «

Ms Sneddon legte ihr den Arm um die bebenden Schultern. »Schhh … Schhhh …«

Edward ließ den Stift sinken und sagte im sanftesten Ton, zu dem er fähig war: »Es ist schon in Ordnung. Lassen Sie sich Zeit.«

Sie brauchte eine Minute oder zwei, um sich zu fassen, doch endlich schniefte sie, wischte sich die Augen und nickte. »Ich glaube, er hatte … getrunken. Er soll nicht trinken, weil das … sexuelle Fantasien bei ihm auslöst. Pädophile Fantasien.«

Bigtoria schürzte die Oberlippe. »Hat er gesagt, wer ›hinter ihm her‹ war?«

»Alle. Die Polizei, das Zivilpersonal, die Nachbarn, sogar Doc Griffiths.«

Edward schrieb sie alle auf. »Was den Kreis der Verdächtigen nicht gerade eingrenzt.«

»Nein, Sie …« Noch ein ausgiebiges, feuchtes Schniefen. »Sie müssen verstehen. Geoff Newman war quasi die Verkörperung von allem, was falsch ist.«

Ms Sneddon tippte mit einem abgekauten Fingernagel auf die Tischplatte. »Die organisierten Kriminellen sehen auf die Sexualstraftäter herab. Die Sexualstraftäter sehen auf die Pädophilen herab. Und sie alle hassen korrupte Bullen.«

Was man ihnen nicht unbedingt verdenken konnte.

»Und Geoff erfüllte alle drei Kriterien: ein Ex-Bulle, der zum Gangster und Kinderschänder wurde.«

Bigtoria startete noch einen Versuch. »Aber gab es da nicht jemand Bestimmtes? Jemanden, über den er sich ganz besonders aufgeregt hat?« Als die einzige Reaktion ein Schulterzucken war, änderte sie die Fragerichtung. »Hat er gesagt, was er gestern im Wald gemacht hat?«

Ms Reynolds lehnte sich zurück, die Augen zusammengekniffen. »Im Wald?«

»Constable.« Bigtoria schnippte mit den Fingern – denn warum höflich bitten wie ein zivilisierter Mensch, wenn man sich auch wie ein Arschloch benehmen konnte?

»Also …« Edward konsultierte seine Notizen. »Elf Uhr sechsundfünfzig: Mr Newman verlässt sein Haus mit einer roten Sporttasche und verschwindet im Wald am Ende der Gallows Row. Um zehn nach vier taucht er wieder auf, und zwar aus der entgegengesetzten Richtung.«

Ms Reynolds’ Stirnfalten wurden tiefer. »Davon hat er mir kein Wort gesagt. Sind Sie sicher?«

»Es ist auf dem Video zu sehen.«

»Im Wald? Warum sollte er in den …«

Die Tür des Gruppenraums wurde aufgerissen, und herein stürzte ein junger Mann mit wilder Frisur, der sich gerade eine Daunenjacke über sein langärmeliges T-Shirt und seine Regenbogen-Hosenträger zog, die mit kleinen Metallplaketten gespickt waren. Es fehlte nur noch, dass er mit amerikanischem Akzent gerufen hätte: »MORK AN ORSON , BITTE MELDEN , ORSON !« Stattdessen klang sein Akzent nach vornehmer Edinburgher Privatschule. »Hels, Aggie – entschuldigt die Störung.« Er sah Helen an und schnitt eine Grimasse. »Hast du Caroline gesehen, Hels? Sie ist nicht in ihrer Wohnung, und ich muss dringend weg.«

»Ich weiß nicht …«

»Wenn du sie findest, sag ihr, sie soll schauen, dass sie sich schnellstmöglich zum Feuerwehrhaus beamt, okay? Sergeant Farrow hat mich angeklingelt.« Er zog seinen Reißverschluss hoch und nickte Bigtoria zu. »Sie sind von der Polizei, nicht wahr?« Er klopfte sich auf die Brust. »Ian Casey. Sergeant Farrow sagt, es ist dringend – jemand hat Shammy Samson eins über die Rübe gezogen und Geoff Newmans Haus angezündet.«

Eine Pause, während alle ihn anstarrten.

Dann wuchtete Bigtoria sich aus ihrem Stuhl hoch. »Constable, Bewegung!« Und weg war sie.

Edward raffte die Ausdrucke und sein Notizbuch zusammen. Er warf Helen und Agatha ein flüchtiges Lächeln zu. »Danke. Entschuldigen Sie.« Dann rannte er hinaus und ihr nach.

Ian Casey folgte ihnen.

Bigtoria steuerte auf den Ausgang zu. »Ist schon gut, Sir, wir finden selbst raus.«

»Ich bin Leiter der hiesigen freiwilligen Feuerwehr. Ich muss das Löschfahrzeug anwerfen. Außerdem brauchen Sie jemanden, der Ihnen die Haustür aufsperrt.« Er tippte den Code in das Tastenfeld und riss die Tür auf, dann trat er zurück, und sie stolperten hinaus in das Winter-Wunderland.

Das Schneetreiben war noch heftiger geworden, doch der Himmel war jetzt von einem grellorangefarbenen Schein erfüllt. Als ob sich die Tore der Hölle weit geöffnet hätten.

Ian zog die Tür hinter ihnen zu, dann blieb er stehen und starrte mit großen Augen auf den eingeschneiten Parkplatz. »Verdammte Flitzkacke. « Er schenkte Bigtoria ein gequältes Lächeln. »Kann ich vielleicht bei Ihnen mitfahren?«

Sie wies mit dem Daumen auf den Poolwagen. »Rein mit Ihnen.«

Sie setzten ihn an einer Garage aus rotem Backstein ab, nicht weit von der einzigen Straße, die aus Glenfarach hinausführte, dann wendete Edward den Vauxhall und fuhr zurück zur Gallows Row – oder besser gesagt, er manövrierte die Karre supervorsichtig über die spiegelglatten Straßen und umklammerte an jeder Ecke krampfhaft das Lenkrad, um nicht noch einmal eine Dreihundertsechzig-Grad-Pirouette hinzulegen.

Je näher sie kamen, desto heller wurde der höllische Feuerschein.

Edward bog von der West Main Street ab – schön langsam, um nicht die Kontrolle über das Auto zu verlieren. »Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?«

»Natürlich, ich bin ja nicht blöd.«

Noch eine letzte rutschige Kreuzung, und sie waren in der Gallows Row.

»Heilige Scheiße …«

Lodernde orangerote und gelbe Flammen schlugen prasselnd aus Newman Cottage und ließen den dichten Schleier aus waberndem schwarzem Rauch aufleuchten, während der beißende Gestank nach verbranntem Plastik und Holzrauch aus den Lüftungsschlitzen des Autos strömte.

Jemand hatte den Streifenwagen aus der Gefahrenzone gebracht und zwei Häuser weiter geparkt, gleich dahinter stand Sergeant Farrows Großer Wagen. Bei beiden Autos war das Blaulicht eingeschaltet, das zwischen den wirbelnden Schneeflocken aufblitzte.

Drei Gestalten in Warnjacken standen dicht zusammen an der offenen Heckklappe des Land Rovers.

Edward hielt am Bordstein, mit gehörigem Abstand nach dem Beinahe-Desaster vom letzten Mal, und stieg aus. Einen Moment lang stand er nur da, während die schiere Wucht der Feuersbrunst in heißen, prasselnden Wellen über ihn hinwegzog, begleitet vom Knacken und Krachen von Dingen, die irgendwo tief in dem Inferno explodierten. Das Feuer brüllte wie eine wütende Bestie, Schatten tanzten auf dem frischen weißen Schnee in Blut- und Goldtönen.

Bigtoria stapfte auf den Land Rover zu und hob die Stimme, um das Getöse zu übertönen. »WAS IST DENN HIER PASSIERT

PC Samson hockte auf der Ladefläche des Land Rovers, die Beine über die Kante baumelnd, und hielt sich mit einer Hand ein Mullkissen an den Hinterkopf. Er zitterte, und selbst im Geflacker der Flammen war zu sehen, dass er kreidebleich im Gesicht war.

Sergeant Farrow blickte von dem Erste-Hilfe-Kasten auf, in dem sie gekramt hatte. »JEMAND HAT VERSUCHT , IHM DEN SCHÄDEL EINZUSCHLAGEN

Samson hob kraftlos die Hand und reckte den Daumen in die Höhe.

»ES IST EINFACH …« PC Harlaw schüttelte sich. »ICH MEINEICH HABE JANE MILLER VERNOMMEN , BIN ZUR TÜR RAUS , UND DA LAG SHAMMY SCHON AUF DER STRASSE

Bigtoria ließ sich vor Samson in die Hocke fallen. »HABEN SIE GESEHEN , WER SIE GESCHLAGEN HAT

Die Antwort war ein kaum verständliches Murmeln. »Hinter mir …«

Edward trat einen Schritt zurück, weg von der Hitze, während leuchtend orangefarbene Funken wirbelnd und kreisend in den Himmel aufstiegen wie ein Schwarm Stare. »UND WIR HABEN UNS NOCH GEDANKEN WEGEN DER HEIZUNG GEMACHT

Bigtoria richtete sich auf. Zitternd, die Fäuste geballt, holte sie tief Luft und brüllte aus voller Lunge: »AAAAAAAAAAAAHHH !« Sie holte mit einem Fuß aus und trat in den Schnee, der aufstob und im Feuerschein blutrot aufleuchtete. »WIE SOLL ICH EINEN MÖRDER FANGEN OHNE TATORT UND OHNE EINEN EINZIGEN GOTTVERDAMMTEN SACHBEWEIS

Harlaw reckte die Nase in die Luft. »ICH HAB DOCH GESAGT , WIR HÄTTEN DEN GARTEN DURCHSUCHEN SOLLEN

Autsch … Das war gar nicht gut.

Bigtoria fauchte und fletschte die Zähne, worauf Harlaw mit einem panischen Quiekser hinter Sergeant Farrow in Deckung ging.

Sergeant Farrow boxte ihn. »HAST DU SIE NOCH ALLE

Aus der Ferne kam das klagende Heulen einer Sirene. Das war dann wohl das Löschfahrzeug.

Okay, vielleicht war es ja doch nicht ganz so schlimm, wie es aussah.

Edward schlug den beruhigenden Ton an, in dem man sprach, wenn es um ein vermisstes Kind ging. Den Ton, in dem man den Eltern einzureden versuchte, dass der kleine Jack oder die kleine Lucy nicht längst tot in einem Straßengraben lag. »ALSODIE WERDEN ES SCHON LÖSCHEN , NICHT WAHR ? DIE FREIWILLIGE FEUERWEHR WIRD DAS FEUER LÖSCHEN , UND WIR WERDEN IMMER NOCH ETWAS RETTEN KÖNNEN , DAS WIR VERWENDEN KÖNNEN , UM …«

Ein Teil des Dachs brach mit einem Ächzen und einem dumpfen Knall ein – Flammen schlugen aus den Fenstern, begleitet von einem glitzernden Hagel aus Glasscherben. Alle duckten sich, hielten sich die Arme über den Kopf und gingen hinter dem Land Rover in Deckung, während Trümmerteile prasselnd und scheppernd auf das Autodach herabregneten.

Und als sie sich aufrichteten, brüllte das Feuer wie ein verletztes Raubtier, noch heller und heißer als zuvor.

»Ah …« Den Brand würde so bald niemand löschen, so viel war klar. Edward leckte sich die Lippen, der beruhigende Ton wie weggeätzt von der lodernden Glut. »WIR SIND GELIEFERT , NICHT WAHR

Bigtoria starrte nur vor sich hin. »Verdammt …«