9

Es klopfte an der Tür, und PC Harlaw platzte herein. »Sarge? Jenna Kirkdale wär jetzt da.« Er wies mit einem Kopfnicken zum Gang. »Soll ich …«

Sergeant Farrow probierte es mit einem anderen Telefon. »Wir kriegen keine Verbindung nach draußen.«

»Was denn – schon wieder?«

Edward kroch unter einen der Schreibtische. »Vielleicht hilft’s, wenn wir sie einmal ausstöpseln und wieder einstöpseln?« Er verfolgte die Kabel bis zu einer kleinen Klappe in den Teppichfliesen.

Oben in der wirklichen Welt setzte Sergeant Farrow zu einer Schimpftirade an. »Seht ihr? Ich hab doch gesagt, dass die Telefonanlage dringend instandgesetzt gehört. ›Es ist eine besch…eidene Katastrophe mit Ansage‹, hab ich gesagt. Aber das ist ja, als ob man gegen den Wind pisst.«

Edward klappte die Luke auf. Darunter befanden sich zwei Steckdosen mit Steckern drin, eine Telefonbuchse und ein Netzwerkanschluss. Er zog alles heraus.

»Verdammte Sch…« Man konnte beinahe hören, wie Bigtoria mit den Zähnen knirschte. »Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen!«

»O Gott, ich wünschte, es wäre so, Ma’am, aber im Moment bliebe uns nichts anderes übrig, als acht Meilen weit durch den Schnee zu stapfen, über den Pass hinaus und weiter, bis wir ein Mobilfunksignal haben.«

Edward zählte bis zehn und steckte alles wieder ein.

Oben piepste etwas.

»Dieses Kaff ist ein einziger Albtraum!«

»Willkommen in unserer Welt.«

Er klappte die Luke zu, kroch unter dem Schreibtisch hervor und lugte über die Kante. »Versuchen Sie’s jetzt mal.«

Aber niemand beachtete ihn, weil alle zusahen, wie Harlaw eine kleine Frau ins Zimmer führte. Sie war wirklich sehr klein – maximal eins vierzig. Breit in den Hüften, aber nicht dick. Kleine Stupsnase, sommersprossige Wangen und ein strahlendes Lächeln. Leuchtend orangefarbene Jacke, die angegrauten schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, der unter einer gepunkteten Beanie-Mütze hervorschaute.

Sie schleppte einen großen Werkzeugkasten aus Metall und Plastik, so schwer, dass sie mit Schlagseite ging. Ihr Akzent klang nach oberer Mittelschicht, Londoner Speckgürtel und Mädcheninternat, als sie in voller Lautstärke schmetterte: »Morgen, Lulu, was machen die Knutschflecken auf deinem Hintern? Hab gehört, eure Airwaves haben mal wieder die Grätsche gemacht.«

Sergeant Farrow hielt einen Hörer hoch. »Und das Festnetz ist auch ausgefallen.«

»Was, schon wieder? Habt ihr vielleicht …« Sie starrte Edward an, der sich gerade aufrichtete und sich den Staub von den Hosenbeinen klopfte. Sogleich stellte sie ihren Werkzeugkasten ab und steuerte mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Morgen, mein Hübscher. Jenna Kirkdale, zu Ihren Diensten.« Als er ihre Hand nicht ergriff, zwinkerte sie verschmitzt. »Keine Sorge, ich bin keine von den Pädos.«

»Äh …« Ihm wurde plötzlich ganz warm in seinem nach Rauch stinkenden Hemd. Komm jetzt, benimm dich wie ein Profi. Er begrüßte sie mit einem festen Händedruck. »Detective Constable Edward Reekie.«

Sergeant Farrow deutete auf den Friedhof der toten Telefone. »Jenna, es ist wirklich wichtig, dass die so schnell wie möglich wieder funktionieren.«

Ms Kirkdale ließ Edwards Hand nicht los. Sie trat näher heran und blickte zu ihm auf. »Ist schon okay, Lulu, ich mach mich bloß gerade mit Eddie bekannt. Habt ihr mal das lokale Netzwerk ausprobiert? Könnte ein Problem mit der externen Leitung sein.«

»Sie sind alle tot.«

Edward räusperte sich und deutete mit dem Kopf auf das Telefon auf dem Schreibtisch, unter den er gekrochen war. »Ich hab’s ausgesteckt und wieder eingesteckt.«

»Ah, der beste Freund jedes IT lers, das gute alte ›Power-Cycling‹ – Kompliment, junger Mann.« Wieder ein Zwinkern. »Wusste ich’s doch, dass Sie nicht bloß ein hübsches Gesicht mit nichts dahinter sind.«

Es wurde eindeutig wärmer hier drin.

Ms Kirkdale ließ seine Hand los, nahm den Hörer von der Gabel und drückte neun, eins, zwei und drei. Sie lauschte eine Weile und legte schließlich auf. »Okay, also kein Amtsanschluss. Versuchen wir’s mal im Sanctuary House …« Sie tippte eine Nummer ein. »Schon besser – wenigstens läutet es jetzt.«

Sergeant Farrow ging auf sie zu und nahm ihr den Hörer ab. »Na, das ist ja immerhin etwas. Wir – Helen? … Hels, Louise hier, wie geht es Aggie? … M-hm … M-hm … Nein, das war bestimmt ein ziemlicher Schock … Sag ihr, dass wir nach ihr gefragt haben, okay? … Du, sag mal, funktionieren eure Telefone heute? … M-hm … Nein, bei uns ist es das Gleiche …« Und dann erstarrte sie. »Was?« Irgendetwas war mit ihrer Stimme – sie klang plötzlich so verändert, dass alle sich zu ihr umblickten. »Bist du sicher, Hels? Hast du nachgeschaut, ob … Okay … Okay. Nein, ich verstehe. Wir kommen sofort … Okay, danke, Hels. Bye. Bye.« Sie legte den Hörer auf die Gabel, stand da und fixierte das Telefon mit abwesendem Blick.

Ms Kirkdale schloss die Lücke, bis ihre Brust Edwards Bauch berührte, und blickte mit Rehaugen zu ihm auf. Es fehlte nur noch, dass sie mit den Wimpern klimperte. »Ich liebe Männer mit geschickten Händen.«

Sergeant Farrow räusperte sich vernehmlich. »So ungern ich Ihr Liebesleben störe, Jenna, aber wir brauchen hier dringend funktionierende Telefone.«

Das strahlende Lächeln wurde noch strahlender. »Ich wette, der Schnee hat die Leitung irgendwo gekappt, aber ich kann mal schauen, was sich hier machen lässt, wenn du möchtest? Und vielleicht könnt ihr mir im Gegenzug einen klitzekleinen Gefallen tun?« Sie zwinkerte Edward vielsagend zu. Dann wandte sie sich Sergeant Farrow zu. »Meine liebe alte Oma wird nächste Woche in Edinburgh beerdigt, und da sollte ich wahrscheinlich dabei sein. Allein schon Mutter zuliebe. Sie soll doch nicht denken, dass ich ein totales Monster bin.«

Sergeant Farrows Miene sprühte nicht gerade vor Begeisterung.

»Bitte , Lulu – ich versprech auch hoch und heilig, dass ich brav sein werde. Brauchst keine Angst haben, dass ich tagelang abtauche oder irgendwie auf den Putz haue. Nee, ich fahr hin, wir begraben die Oma, dann noch auf ein Sandwich in Omas Häuschen, und zum Abendessen bin ich wieder da. Großes Ehrenwort.«

»Vielleicht.« Sergeant Farrow starrte wieder das Telefon an. »Wir reden später darüber. Wenn Sie die Airwaves reparieren.«

»Alles klaro! Mach mich gleich an die Arbeit.« Sie warf Edward noch einen Zwinkerblick zu. »Bis später, mein Hübscher.« Und damit packte sie ihren schweren Werkzeugkasten und watschelte schwankend zur Tür hinaus.

Irgendwie … interessant , die Frau.

Bigtoria setzte sich an einen nicht ganz so verstaubten Computer. »Kann ich wenigstens eine E-Mail verschicken?« Sie lockerte ihre Finger.

Edward schüttelte den Kopf. »Wenn die Telefone im Eimer sind? Wohl kaum.«

Sie stöhnte, dann reckte sie entschlossen das Kinn. »Das ändert nichts. Wir machen weiter, bis die Kavallerie eintrifft.« Sie stand auf. »Ich will wissen, wo Geoff Newman am Tag seines Todes hingegangen ist. Wir müssen seine Aktivitäten rekonstruieren. Wer war die letzte Person, die ihn lebend gesehen hat? Wo war …« Bigtoria klopfte mit den Knöcheln auf den Schreibtisch. »Hören Sie mir eigentlich zu, Sergeant?«

Offenbar nicht, denn Sergeant Farrow kehrte erst jetzt mit einem kleinen Ruck auf die Erde zurück. Sie blinzelte Edward und Bigtoria an. »Hels … Ich meine, Helen Sneddon – sie sagt, eine Mitarbeiterin des Sozialarbeitsteams ist verschwunden: Caroline Manson. Ihr Bett ist unberührt …«

»Na toll.« Edward ließ sich mit dem Hintern an eine staubige Fensterbank sinken. »Wir haben also eine vermisste Sozialarbeiterin, die keine elektronische Fußfessel trägt, und einen toten Ex-Polizisten und Sexualstraftäter, der von jemandem ermordet wurde, der keine elektronische Fußfessel trug. Ganz zu schweigen von einem Polizeibeamten, der niedergeschlagen wurde, und einem abgefackelten Tatort.« Er verzog das Gesicht. »Findet hier irgendjemand, dass das nach einem Zufall klingt?«

Sergeant Farrow machte einen Umweg vorbei an einem Schreibtisch in der hinteren Ecke, wo sie einen in eine Mülltüte gehüllten Gegenstand aufhob – ungefähr so groß wie ein Kricketschläger, aber rechteckig – und damit zur Tür hinausmarschierte. »Ich hole den Großen Wagen.«

Als Helen Sneddon die Tür des Sanctuary House öffnete, umwaberte sie eine Wolke von Rachenputzer-Gin, und sie schwankte leicht, als sie zur Seite trat, um Bigtoria, Sergeant Farrow und Edward einzulassen.

Alle drei stampften sich auf der Fußmatte den Schnee von den Schuhen und schüttelten ihre identischen Warnjacken aus.

Ms Sneddon machte die Tür wieder zu, dann schob sie die Hände in die Taschen ihrer ausgeleierten pastellblauen Strickjacke. »Sie ist noch nie … Ich meine, niemand ist jemals … Ich mache mir Sorgen, dass etwas passiert sein könnte.«

Sergeant Farrow tätschelte ihr die Schulter. »Es ist okay, Hels, ich bin sicher, dass sie wohlauf ist. Caroline ist ja nicht dumm, oder?«

»Zu ihrer Wohnung geht’s da lang.«

Sie folgten ihr durch die innere Zahlencode-Tür in einen kreisförmigen Korridor mit bodentiefen Fenstern, der einen großen Innenhof umschloss. Eine dicke Schneedecke verhüllte Gartenmöbel, Bäume, Bänke und einen gemauerten Grillplatz, und nur hier und da schaute etwas unter dem Leichentuch hervor wie ein Scheintoter, der nach Luft ringt.

Die Türen, die vom Korridor abgingen, waren mit » KÜCHE «, » FITNESSRAUM «, » GEMEINSCHAFTSRAUM « und » THE GLENFARACH ARMS « beschriftet. An der Wand neben der Letzteren hing ein Anmeldebogen: » FREITAG KARAOKE - ABEND

Helen wandte sich nach links und wankte weiter, wobei sie sich mit einer Hand am Glas abstützte.

Bigtoria folgte ihr. »Wer war die letzte Person, die Caroline Manson gesehen hat?«

»Das wissen wir nicht.«

»Was?« Bigtoria packte ihren Arm und zog sie hoch. »Wie kann es sein, dass Sie das nicht wissen?«

»Weil ich mich nicht erinnern kann.« Ihre Unterlippe zitterte, und ihre Augen glänzten feucht, als die Tränen zu fließen begannen. »Jeden Tag ist es das Gleiche, okay? Du gehst raus und besuchst deine vierundzwanzig Sexualstraftäter, zwölf Gewaltverbrecher, einen korrupten Bullen und noch drei gemischte Dreckskerle, dann kommst du zurück, versuchst dir den Dreck abzuduschen und verbringst den Rest des Abends drüben im Glenny, wo du dich nach Kräften bemühst, alles in billigem Gin und Supermarkt-Tonicwater zu ertränken.«

Edward öffnete die Tür mit der Aufschrift » THE GLENFARACH ARMS « einen Spaltbreit und spähte in einen schäbigen, mittelgroßen Raum, der wie ein traditionelles schottisches Pub eingerichtet war, samt einem Tresen mit einer Batterie von Spirituosen und einer Zapfanlage sowie Sitzmöbeln mit rotem Kunstlederbezug. Eine Discokugel hing über einer handtuchgroßen Tanzfläche und strahlte ungefähr so viel Lebensfreude und Charme aus wie ein paillettenbesetzter Tumor.

Er ließ die Tür wieder ins Schloss fallen.

Helen wandte den Blick ab und deutete mit erhobener Hand auf die Welt draußen. »Man kämpft sich durch diesen … Horror, man versucht, sie wie normale Menschen zu behandeln, obwohl man genau weiß, was für üble Dinge sie getan haben. Obwohl man die Fotos gesehen und die Berichte und die Aussagen der überlebenden Opfer gelesen hat.« Sie wischte sich die Tränen von den feuchten Wangen. »An manchen Tagen ist es … Ich bin nicht religiös, wirklich nicht, aber an manchen Tagen ist es, als ob wir alle gestorben wären und das hier die Hölle wäre.«

»Hey, alles gut.« Sergeant Farrow streichelte Helen den Rücken. »Es wird schon wieder.«

Bigtoria schnippte mit den Fingern. »Gibt’s hier Videoüberwachung?«

Sergeant Farrow zögerte einen Moment, als ob sie eine nicht ganz so freundliche Erwiderung hinunterschlucken müsste, dann sagte sie: »Am Haupteingang.«

»Überprüfen Sie das.« Die DI ließ nun auch Helen ihren geballten Mangel an Sozialkompetenz spüren. »Ich muss mit allen im Team sprechen. Und ich will Caroline Mansons Personalakte. Jetzt. «

Wer brauchte da noch Fliegen, Honig oder Scheiße?

Der Gruppenraum 1 sah genauso aus wie Gruppenraum 2, nur mit einem anderen gerahmten Druck an der Wand.

Bigtoria und Edward saßen an dem runden grauen Tisch gegenüber von Ian Casey, der schlaff über einem Becher mit Kaffee hing. Er hatte sein Mork-vom-Ork- Outfit gegen Jeans und ein »Timmy and the Timeonauts«-T-Shirt getauscht und blinzelte sie aus trüben Augen an. Sein Kinn war von einem bläulichen Bartschatten überzogen, und er strömte einen bitteren Rauchgeruch aus, der an eine schwärende Wunde erinnerte.

Er unterdrückte wieder ein Gähnen und kniff die Augen zusammen. »Entschuldigung – ob ich glaube, dass Caroline einen Menschen töten könnte?«

Bigtoria richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf. Selbst im Sitzen schaffte sie es, bedrohlich zu wirken. »Eine ganz einfache Frage, Mr Casey. Ist sie fähig, jemanden zu töten?«

»Caroline?« Er rieb sich die Augen. »Caroline ist verschwunden. Sollten Sie nicht lieber versuchen, sie zu finden? Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist?«

Edward legte seinen Stift hin. »Ich weiß, es klingt ein bisschen hart, aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, Mr Casey. Hat Ms Manson je über Geoff Newman gesprochen? Hatte sie irgendwann im Rahmen ihrer Arbeit mit ihm zu tun?«

»Wahrscheinlich.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Es ist eine Art ungeschriebenes Gesetz bei uns: Wenn jemand zum Beispiel die Scheißerei hat oder einen freien Tag, dann springen alle anderen ein und teilen sein oder ihr Arbeitspensum unter sich auf. Wir sind hier ein eingespieltes Team.«

Bigtoria beugte sich vor und fixierte ihn mit stählernem Blick. »Sie hat also nie erwähnt, dass sie irgendwelche Probleme mit Geoff Newman hatte? Angesichts dessen, was er getan hat? Wofür er gesessen hat?«

»Nee, wirklich nicht. So was kann man nicht abends mit nach Hause nehmen, glauben Sie mir. Wir haben zweihundert Bewohner, und die sind alle hier, weil sie irgendeinen richtig üblen Mist gebaut haben. Wenn man das persönlich nehmen würde, würde man durchdrehen.«

Das war ja genau die Sorge.

Agatha Reynolds wirkte nicht mehr ganz so fertig wie gestern – auch nicht gerade putzmunter, aber wenigstens sahen ihre Augen nicht mehr aus wie riesige schwarze Knöpfe. Heute trug sie ein Smock-Top in leuchtendem Blau mit Gänseblümchenmuster, ihre Haare waren ordentlich frisiert, und ihr Mitarbeiterausweis baumelte schief an seinem Band. Der Gruppenraum war vom widerlich süßen, erstickenden Geruch nach Patschuli-Öl erfüllt.

Sie beäugte Bigtoria über den Rand ihrer Brille hinweg. »Ja, doch, ich schätze mal, dass Caroline gelegentlich gern einen über den Durst getrunken hat. Was hat das denn damit zu tun?«

»Hatte sie gestern Abend getrunken?«

»Woher soll ich das wissen? Ich war doch mit Glückspillen zugedröhnt, wenn Sie sich erinnern. Nach dem, was passiert war mit …« Sie schüttelte sich. »Haben Sie keine Sorge, dass derjenige, der Geoff Newman das angetan hat, das Gleiche mit Caroline gemacht haben könnte? Was, wenn sie tot irgendwo in einer Schneewehe liegt? Oder … oder wenn sie sich im Wald verirrt hat? Oder vielleicht hat einer der Bewohner sie … keine Ahnung, im Keller eingesperrt?«

Edward packte seine beruhigende Stimme aus – wieder mal, da Detective Inspector Victoria Montgomery-Porter ja offenbar über keine verfügte. »Es ist schon in Ordnung, Ms Reynolds. Wir versuchen nur herauszufinden, wie das alles zusammenpasst.«

Damit erntete er einen empörten Blick. »Ich verbitte mir die Unterstellung, dass Caroline verdient hätte, was immer ihr zugestoßen sein mag, nur weil sie betrunken war. Sie sitzen hier und betreiben Täter-Opfer-Umkehr, dabei ist sie vielleicht verletzt oder liegt gerade im Sterben!«

Bei einem Namen wie Clive Fox-Johnson sah man einen rotgesichtigen Typen mittleren Alters in Tweedanzug und auf Hochglanz polierten Brogues vor sich. Fassonschnitt, ein Labradoodle und eine verbitterte Ehefrau. Und Kinder mit Namen wie »Zeus« oder »Monty« oder »Ophelia«.

Stattdessen verbarg sich dahinter ein Sozialarbeiter mit langen, angegrauten blonden Haaren, die er hinter die Ohren gesteckt hatte, sodass die mindestens drei Piercings auf jeder Seite gut zu sehen waren. Nickelbrille, Wildlederweste, Jeanshemd. Ein Akzent, der sich beim besten Willen nicht einordnen ließ, als ob er eigentlich von nirgendwo käme. An seinen gelben Fingerspitzen hätte man schon erkennen können, dass er Kettenraucher war, selbst wenn sämtliche zehn Finger nicht permanent damit beschäftigt gewesen wären, eine endlose Serie von Selbstgedrehten zu fabrizieren. Nach und nach landeten sie alle in einer kleinen Metalldose, wie kleine dünne Leichen, in Leintücher gehüllt und in ein Massengrab gelegt.

Mr Fox-Johnsons Zunge glitt über den Rand eines Papierchens. »Sie stellen vielleicht Fragen.« Er rollte das Papier und den Tabak zu einem perfekten filterlosen Zylinder zusammen. »Ich glaube, Caroline hatte schon länger Probleme, wissen Sie? Ich meine, das hier ist schon zu den besten Zeiten kein einfacher Arbeitsplatz, aber die letzten dreizehn, vierzehn Monate? Ein Albtraum.«

Edward notierte das. »Inwiefern, Mr Fox-Johnson?«

»Sagen Sie Clive zu mir, Edward. Ist viel leichter, eine persönliche Beziehung aufzubauen, wenn man sich mit Vornamen anredet. Nachnamen werden nur hervorgeholt, wenn es irgendeinen Ärger gibt.«

Bigtoria neigte den Kopf zur Seite und fixierte ihn. »Sie haben die Frage nicht beantwortet.«

»Sehr gut beobachtet.« Die geschickten Finger zupften ein weiteres Blättchen aus der Packung. »Es war in letzter Zeit ganz schön …« Seine freie Hand machte eine Schaukelbewegung. »Ich meine die Bewohner. Nicht alle natürlich, aber einige schon. Man spürt regelrecht, wie die Spannung sich aufbaut. Als ob eine Abrechnung ansteht.«

Sie schniefte. »Eine ›Abrechnung‹?«

»Sexualstraftäter und Mobster. Mods und Rocker. Die Sharks und die Jets. Fisch und Chips.«

»Und Ms Manson war auf der Seite der Mobster?«

Er streute eine schnurgerade Bahn Tabak in die Mitte des Papiers. »Nein. Caroline hat es zu sehr an sich rangelassen. Sie hat zugelassen, dass der Stress sie von innen auffrisst.« Ein merkwürdiges windschiefes Lächeln. »Wie eine schwärende Wunde.«

»So sehr, dass sie durchdrehen und Geoff Newman ermorden würde?«

Mr Fox-Johnson zog eine Schulter hoch, während seine Zunge das nächste Papier anleckte. Seine Finger rollten die Zigarette in Form, und sie wanderte zu ihren toten Schwestern in die Dose. »Wissen Sie was, Sie sollten mal mit Dr. Singh reden. Er war forensischer Psychologe, bis zu dem … Vorfall, und er ist einer von Carolines Klienten. Würde mich nicht überraschen, wenn der gute Doktor eine Idee hätte, wozu sie fähig ist und wohin sie verschwunden sein könnte.«

Die Discokugel drehte sich langsam und ließ ihre kalten weißen Lichtpunkte durch das Glenfarach Arms gleiten. Sie blitzten auf Gläsern und Flaschen, wurden vom Messing der Zapfhähne und der Haltestange reflektiert und funkelten im Spiegel über der Bar – wie die Augen kleiner Kreaturen, die sie aus dem Halbdunkel anstarrten. Auf der Anlage in der Ecke lief eine Adele-CD und trug zur allgemeinen Atmosphäre von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bei.

Helen Sneddon saß am Tresen, mit gebeugtem Rücken, die Ellbogen gespreizt, und hing mit dem Kopf über einem großen Wasserglas, das Gin Tonic zu enthalten schien.

Sie blickte nicht auf, als Bigtoria über die winzige Tanzfläche marschierte. »Wir haben mit allen gesprochen.«

Die einzige Reaktion war ein Brummen.

»Ist es nicht ein bisschen früh, um sich die Kante zu geben?«

»Ist mein freier Tag heute.« Die Worte, obwohl betont sorgfältig ausgesprochen, waren an den Rändern aufgeweicht. »Mein einziger freier Tag in der Woche. Ich kann trinken, so viel ich will.«

»Ms Sneddon, wir …«

»Versuchen Sie mal, hier zu leben. Und mit diesen … diesen Bestien fertigzuwerden!« Sie drehte ihren Barhocker zu ihnen. »Glauben Sie, ich bin froh, dass Geoff Newman ermordet wurde? Natürlich nicht.« Sie nahm einen großen Schluck. »Ich bin begeistert. «

Edward hockte sich neben sie. »Kommen Sie, Ms Sneddon, das meinen Sie doch nicht so.«

»Sechs Jahre bin ich jetzt hier. Sechs. Jahre.« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu. »Von mir aus können sie alle miteinander verbrennen.«

Du liebe Zeit, und sie war die Leiterin des Sozialarbeitsteams? Kein Wunder, dass es hier Probleme gab.

Die Tür ging auf, und Sergeant Farrow kam herein. »Ma’am? Ich hab Caroline auf Video. Sie hat gestern Morgen das Haus verlassen, ist zum Mittagessen zurückgekommen und um halb zwei wieder gegangen. Und nicht mehr zurückgekommen.«

Bigtoria nickte. »Rufen Sie auf dem Revier an – ich will, dass dieser Idiot Harlaw sämtliche verfügbaren Überwachungsvideos durchgeht. Finden Sie sie.«

»Ja, Ma’am.«

»Und was Sie betrifft …« Bigtoria baute sich vor Ms Sneddon auf. »Ich will eine Liste von Caroline Mansons Klienten. Und ich muss ihre Wohnung durchsuchen.«

Ein kleines Lachen, dann beugte sich Ms Sneddon wieder über ihren Gin. »Tun Sie sich keinen Zwang an.«

Auf dem Schild an der Tür stand »Maison du Manson«, aber drinnen erinnerte es eher an eine Hotelsuite. Keine billige Absteige, aber auch kein Boutique-Hotel. Eher ein Dreisterne-Hotel von irgendeiner Kette, die Wände in fadem Mattweiß gestrichen. Aber eines musste man Caroline Manson lassen – sie hatte sich bemüht, es mit Fotos und Gemälden und Zierrat wohnlich einzurichten. Eine nachgemachte Fender stand in der Ecke, neben einem Verstärker und einem Notenständer mit einem Exemplar von Heavy-Metal-Gitarrenriffs für Dummies.

Also vielleicht nicht gerade die ideale Nachbarin.

Drei Türen gingen von dem zentralen Wohnbereich ab.

Bigtoria begann das Sideboard zu durchwühlen, während Edward sich ein Paar Nitrilhandschuhe überstreifte und die erstbeste Tür ansteuerte.

Dahinter kam ein sauberes, ordentlich aufgeräumtes Badezimmer zum Vorschein – gerade eben groß genug, um keine Klaustrophobie auszulösen. Gut, die lachsrosa Fliesen waren scheußlich, aber immerhin waren sie sauber. Und sie passten zum Lachsrosa von Badewanne, Toilette und Waschbecken.

Ein Wäschekorb aus Weidengeflecht am Boden neben der Wanne, ein Arzneischrank über dem Waschbecken.

Edward öffnete die Spiegeltür. Ein ganzes Fach war mit Tablettenschachteln, Fläschchen und Dosen angefüllt. Er ging sie durch und hob die Stimme in der Hoffnung, dass sie bis ins Wohnzimmer zu hören war. »Schmerztabletten, Entzündungshemmer, Schlaftabletten – und ich bin mir sicher, dass drei von den Medikamenten hier für Depressionen sind.«

Bigtorias Antwort hallte durch die Wohnung. »Wundert mich nicht.«

Er schloss den Spiegelschrank, nahm den Deckel des Wäschekorbs ab und nahm sich den Inhalt vor, sah in den Taschen und Aufschlägen von allem nach, was Taschen und/oder Aufschläge hatte, und warf die durchsuchten Teile in die Badewanne, damit sie aus dem Weg waren. »Ms Sneddon ist ja schon ganz schön … ›angeheitert‹ für zehn Uhr an einem Mittwochvormittag, nicht wahr? Ich frage mich, wie hoch die Burnout-Quote bei Sozialarbeitern ist. Bestimmt enorm hoch.«

»Hier ist nichts. Bei Ihnen?«

»Auch noch nichts. Ich meine, können Sie sich vorstellen, so etwas beruflich zu machen und nur einen freien Tag in der Woche zu haben? Dieser Ian Casey hat recht, das treibt einen doch in den Wahnsinn.«

Edward warf die letzte schmutzige Unterhose ins Bad. Seine ganze Ausbeute bestand in ein paar zerknüllten Taschentüchern und zwei, drei Haargummis.

Er hob den Deckel des Spülkastens ab und spähte hinein. Keine verdächtigen Päckchen aus Mülltüten und Klebeband. Keine Schusswaffen, keine Drogen, kein Bargeld. Nur versifftes Wasser.

Na ja, den Versuch war’s wert.

Er setzte den Deckel wieder drauf und ging zurück ins Wohnzimmer.

Keine Spur von Bigtoria.

Eine der anderen Türen stand jedoch offen und gab den Blick in einen kleinen Hobbyraum mit einem Tisch, einer Stereoanlage und Malutensilien frei.

»Ich mach dann mal das Schlafzimmer, okay?«

Keine Antwort.

Warum machte er sich überhaupt die Mühe?

Edward betrat ein geräumiges Zimmer mit einem ordentlich gemachten Doppelbett mit Bettkasten und einem aufgeräumten Nachttisch. Kommode. Spiegelschränke.

Fangen wir doch mit den Klassikern an.

Er ging vor dem Nachttisch in die Hocke und arbeitete sich von oben nach unten durch die Schubladen, durchsuchte alles systematisch und legte den Inhalt auf die Tagesdecke. »Glauben Sie, dass sie dazu in der Lage wäre? Jemanden so zu foltern?«

Immer noch nichts.

»Ich meine, Geoff Newman war der allerletzte Abschaum, aber er war trotz allem ein Mensch. Ganz egal, was für üble Sachen er gemacht hat, so was hat niemand verdient.«

Vielleicht war sie eingenickt?

»Womit ich nicht sagen will, dass er nicht eine ordentliche Tracht Prügel verdient hätte.« Das war leicht gesagt, nicht wahr? Groß tönen und den harten Mann markieren. »Obwohl, ich glaube nicht, dass ich jemandem eine ordentliche Tracht Prügel verpassen könnte. Also, jemanden einfach so zusammenschlagen, nicht in Notwehr oder so. Ich meine, wozu hat man schließlich ein Strafjustizsystem, wenn man dann jeden, der etwas Verbotenes tut, gleich verprügelt?«

Er hatte alles durchsucht bis auf die unterste Schublade und nichts Aufregenderes gefunden als billigen Schmuck, Taschentücher, diversen Plunder, grauschleierige BH s und ausgeleierte Unterhosen. Die letzte Schublade enthielt ordentliche Reihen von bunten Socken.

»Chefin?«

Immer noch keine Antwort.

Da konnte man doch gleich mit sich selbst reden.

Edward arbeitete sich durch die bunten Baumwollbündel, zog jedes einzelne Paar auseinander und sah in jeder einzelnen Socke nach. Und fand nichts Spannenderes als Fusseln. Bis … »Sieh an, sieh an, was haben wir denn da?« Ganz hinten unter der letzten Sockenreihe war ein Etui aus schwarzem Kunstleder versteckt, ungefähr so groß wie ein Hardcover-Buch.

Das sah ja überhaupt nicht verdächtig aus.

»CHEFIN ? HAB WAS GEFUNDEN

Er legte das Etui aufs Bett und zog den Reißverschluss auf, während Bigtoria ins Zimmer geeilt kam.

»Was? Was haben Sie?«

»Finden wir es raus.« Er klappte den Deckel auf, und da, einzeln gebettet in schwarzen Schaumstoff, waren eine gläserne Bong, ein Feuerzeug, zwei kleine Plastiktütchen mit einem weißen Pulver, eine etwas größere Tüte mit einem Dutzend roter Pillen, eine weitere mit vielleicht zwanzig kleineren gelben Pillen sowie ein daumengroßer, in Klarsichtfolie gehüllter brauner Harzklumpen in einem verschließbaren Plastikbeutel. Jedes Teil in seine eigene Aussparung eingepasst, als ob das Ganze aus einem Präsentationskoffer stammte.

Bigtoria lächelte. »Sieht aus, als wäre unsere vermisste Sozialarbeiterin doch nicht so ein Ausbund an Tugend …«