12

Glenfarach war bei Weitem nicht groß genug für eine Bücherei von diesen Dimensionen. Das dreigeschossige Gebäude sah aus, als ob es aus der gleichen Zeit stammte wie der Anbau des Polizeireviers – ein riesiger Borg-Kubus aus Glas und Stahl, vollgepackt mit Regalen und Büchern und Leseecken.

Okay, aus der Nähe betrachtet waren die Regale ein bisschen ramponiert, der Teppich war zu einem schäbigen Braunton verblasst und löste sich an manchen Stellen vom Fußboden ab, aber immerhin gab es viele, viele, viele Bücher. Schulter an Schulter standen sie nach Sachgebieten geordnet in windschiefen Reihen, eselsohrig und abgegriffen, die Rücken der Taschenbücher zerknittert. Diese Bücher dienten nicht nur zur Dekoration – sie wurden tatsächlich gelesen.

Der Bau stand auf einer kleinen Anhöhe, durch die bodentiefen Fenster blickte man auf der einen Seite über die putzigen Häuschen und Läden von Glenfarach, auf der anderen fiel das Gelände zu einem Bachtal ab und stieg auf der anderen Seite wieder an, wo der Wald sich im Schneegestöber verlor.

Überwachungskameras starrten aus allen Ecken herab, und auch aus diesen Dingern an der Decke, die wie umgedrehte glänzende Dalek-Köpfe aussahen.

Ungefähr ein Dutzend Leute hatten sich vor dem Wetter hierher geflüchtet und bevölkerten das Erdgeschoss in klösterlicher Stille. Manche stöberten in den Regalen, andere hatten sich allein oder zu zweit in die Lesenischen zurückgezogen, wo sie in zerschlissenen Sesseln saßen, die Nase in Trollope oder King oder Dostojewski vergraben.

Kaum hatten Edward und Bigtoria die heiligen Hallen betreten, schlug das Schweigen von ehrfürchtig in feindselig um. Alle Blicke richteten sich auf sie. Und diesmal lächelte niemand.

Das heißt, bis auf Sergeant Farrow.

Sie stand in der Mitte des Saals, die Hände in die Taschen ihrer schwarzen Police-Scotland-Fleecejacke gesteckt, und nickte ihnen zu. »Inspector. Constable.«

Bigtorias Kiefermuskeln spannten sich an. »Sergeant. Sollten Sie nicht eine Suchaktion organisieren?«

»Deswegen bin ich hier, Ma’am. Ich habe bereits zwei kleine Teams zur Anwohnerbefragung losgeschickt, aber die Bücherei ist immer eine gute Anlaufstelle, wenn man Leute braucht.« Sie deutete auf die Leser. »Kann ich Ihnen behilflich sein, bevor ich anfange, sie zusammenzutrommeln?«

»Von mir aus.«

Sie ging voran über den abgetretenen Teppichboden zu einer geschwungenen Ausleihtheke, wo ein alter Mann hinter einem vorsintflutlichen beigefarbenen Computer kauerte wie eine Kröte mit Strickweste. Seine überkämmte Glatze war von geradezu trumphafter Absurdität, und eine kleine runde Brille saß auf seiner Nasenspitze. Die feuchten Lippen gespitzt, las er in einem Gedichtband.

Sergeant Farrow klopfte auf den Tresen. »Theodore.«

Er blickte nicht auf. »Sergeant.«

»Hatten Sie die ganze Woche Dienst?«

»Wo sollte ich sonst hingehen?« Theodore befeuchtete eine Fingerkuppe an seiner blassrosa Zunge und blätterte um. »Also, wollen Sie was von mir, oder kann ich mich jetzt weiter Louise Bogan widmen?«

»Geoff Newman war am Montag hier.«

Nichts. Keine Antwort, keine Reaktion.

Sie stemmte die Fäuste auf den Tresen. »Theodore, muss ich Sie daran erinnern, dass Sie bereits den zweiten Verstoß auf Ihrem Konto haben? Noch einer, dann müssen nicht nur wir uns einen neuen Chefbibliothekar suchen, sondern Sie können Ihre Sachen packen und sich eine neue Unterkunft suchen.«

Bei diesen Worten hob er endlich ruckartig den Kopf, und die Farbe wich aus seinen schlaffen Wangen.

»Also, wollen Sie jetzt Ihr Buch weglegen und kooperieren, oder soll ich schon mal die Papiere fertig machen?«

Er ließ Louise Bogan fallen, als ob sie radioaktiv wäre, setzte ein strahlendes Lächeln auf und breitete die Arme aus. »Sergeant Farrow! Welch eine Freude, Sie hier bei uns begrüßen zu können! Wie kann ich behilflich sein? Vielleicht wäre das neueste Werk von E. L. James von Interesse? Es ist angeblich furchtbar schlecht geschrieben, aber ganz schön versaut.«

Bigtoria zog ihren Dienstausweis hervor. »Haben Sie Newman bedient oder nicht?«

Er spitzte die Lippen. »Ich glaube schon.«

Die Pause dehnte sich, während sie einander anstarrten.

Drüben in der Ecke nieste jemand.

Der Schnee fiel.

Edward trat von einem Fuß auf den anderen.

Bigtoria blinzelte als Erste. »Und?«

Theodore wandte sich an Sergeant Farrow. »Muss das sein, dass Ihre ›Freundin‹ so unhöflich ist, Sergeant? Ich bemühe mich doch, zu helfen.«

»Bemühen Sie sich mehr.« Bigtoria baute sich vor ihm auf. »Was – hat – Newman – am – Montag – hier – gemacht?«

»Verstehe.« Theodore schloss die Augen, ließ sich zurücksinken und seufzte zur Decke hinauf, dann setzte er sich auf und räusperte sich. »Mr Newman kam, um einige Bücher zurückzugeben, von denen zwei überfällig waren, sodass ich ihn mit einem Bußgeld belegen musste. Er war darüber nicht glücklich, und ich musste ihm mit dem Entzug seiner Büchereiprivilegien drohen, ehe er sich beruhigte.«

Wow. Das klang nach einer gnadenlosen Konfrontation, gegen die Reservoir Dogs das reinste Sandkastenscharmützel war. Entzug der Büchereiprivilegien? Ganz schön schweres Geschütz.

Edward lehnte sich gegen ein Regal mit Paperback-Western. »Kommt mir eher milde vor.«

Ein Schniefen. »Niemand will von der Bücherei ausgeschlossen werden, Unbekannte Constable-Person. Da ist der Tod noch willkommener.«

Bigtoria gab ihre Imponierhaltung auf. »War’s das?«

»Sie müssen verstehen, Inspector Wer-immer-Sie-sind: Hier gibt es weder Sky TV noch Netflix, nichts, was auch nur annähernd als schlüpfrig oder sexuell anregend betrachtet werden könnte. Nicht einmal Teletubbies. In Glenfarach sind Bücher das Leben

»Er hat also sonst nichts gemacht? Mit niemandem gesprochen? Sich mit niemandem geschlagen oder gestritten?«

Theodore richtete sich zu voller Krötengröße auf und funkelte sie über seine Brille hinweg an. »Ganz gewiss nicht! Solch einen Unfug dulden wir nicht hier in der Bücherei. Sie befolgen die Regeln, sonst werden Sie ausgeschlossen.«

»Alles klar.« Ein eisiges Lächeln. »Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Bigtoria drehte sich um und stampfte in Richtung Ausgang davon.

Edward blieb, wo er war. »Wenn ich fragen darf … welche Bücher hat Mr Newman zurückgegeben?«

Theodore sah im Computer nach. »Zwei Bände Harry Potter und die unredigierten Adverbien der Exposition , zum x-ten Mal. Sie glauben ja nicht, wie oft diese fürchterlichen Romane hier ausgeliehen werden. Und wenn sie zurückkommen, sind die Seiten ganz verklebt …« Er schüttelte sich. »Sein Exemplar von The Scientific American Boy war überfällig, und auch das Physikbuch für die fünfte Klasse.« Theodore setzte ein herablassendes Lächeln auf. »Wie die meisten unserer Nutzer glaubt er … glaubte er, er könne durch höhere Bildung zu einem besseren Menschen werden.«

Bigtoria war schon zur Tür hinaus, aber Sergeant Farrow hatte sich zurückfallen lassen und lauschte dem Gespräch.

»Moment mal …« Edward zog das Kinn ein. »The Scientific American Boy ?«

»Oh, es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört, Namenlose Constable-Person – es ist eine Anleitung zum Bau von albernen Dingen wie Brücken und Kanus und Theodoliten aus alten Holzstücken und Fetzen von Zeltleinwand, das Ganze in Form eines fiktionalen Campingausflugs einer Gruppe von Jungen. Es ist nicht einmal ansatzweise pornografisch.«

Na, Gott sei Dank.

»Hat er auch etwas Neues ausgeliehen?«

»Um zu unterstreichen, wie wichtig es ist, dass man die ausgeliehenen Bücher rechtzeitig zurückgibt, habe ich ihn auf ein einziges Medium beschränkt. Zum Glück, muss ich sagen, da er es fertiggebracht hat, sein Haus mit diesem Buch darin niederzubrennen.«

Wow. Kalt wie eine Hundeschnauze.

»Und welches Buch war das?«

»Vladimir Nabokov. Lolita. «

Edwards Augen weiteten sich. »Lolita?« Wie zum Teufel konnte … »Wenn hier keine ›schlüpfrigen Sachen‹ im Fernsehen erlaubt sind, wie kann es dann sein, dass man schmutzige Bücher ausleihen darf?«

»Literatur ist nicht ›schmutzig‹, junger Mann!« Er reckte beide Kinne und beäugte Edward missbilligend. »Was für eine entsetzlich vulgäre Sicht auf die Welt der Bücher! Als Nächstes werden Sie sie noch auf der Straße verbrennen, wie ein Nazi.«

»Nein, aber Lolita ? Für jemanden mit Mr Newmans Strafregister?«

»Literatur ist nicht schmutzig.« Theodore griff demonstrativ nach seinem Lyrikband, den Rücken gestrafft, die Ellbogen ausgestreckt. »Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Sir.«

»Alles klar.«

Unglaublich.

Edward ging zum Ausgang.

Sergeant Farrow schloss sich ihm an. »Machen Sie sich nichts draus, Edward – Theodore ist so, seit er in Belmarsh gesessen hat.«

Sie traten hinaus in den Schutz einer betonierten Veranda mit Blick über die Straße. Der Große Wagen war das einzige Fahrzeug dort draußen. Bigtoria saß auf dem Beifahrersitz und hatte die Nase wieder in ihre Papiere gesteckt.

Der Schnee fiel immer noch, langsam und unerbittlich, und verwandelte die Welt in ein Gespenst. Lautlos wie die Schwingen einer Eule. Kalt wie ein Grab im Wald.

»Was hat Theodore gemacht?«

»Er hat früher Rezensionen für den Guardian geschrieben.« Eine Pause. Dann schnellten Sergeant Farrows Augenbrauen ihre Stirn hoch. »Ach so, Sie meinen, was er getan hat?« Sie bleckte die Zähne und wand sich. »Ist wohl besser, wenn Sie das nicht wissen, es sei denn, Sie wollen unbedingt eine schlaflose Nacht. Es ist …«

Die Hupe des Großen Wagens zerriss die fedrige Luft, und Bigtoria schickte böse Blicke durch die Windschutzscheibe.

Umgangsformen wie ein tollwütiges Wiesel.

»Tja … So ist sie nun mal.«

Sergeant Farrow klopfte ihm auf die Schulter. »Viel Glück.« Dann drehte sie sich um, ging wieder hinein und ließ Edward allein draußen stehen.

Die Hupe des Großen Wagens ertönte noch einmal.

Edward winkte und packte noch ein fröhliches Lächeln obendrauf – als ob er einer der Bewohner wäre. »KOMME SCHON !« Er senkte die Stimme, als er die Stufen hinunterging, obwohl sie ihn bei geschlossenen Fenstern unmöglich hören konnte. »Du mieses, ekelhaftes, tobsüchtiges, kackgesichtiges Miststück.«

Denn es war wichtig, die kleinen Triumphe des Lebens zu genießen.

Wilkins’ Schreinerwerkstatt war ungefähr so groß wie eine Doppelgarage und mit Spanplatten ausgekleidet. Ein tiefes Regal an einer der Wände enthielt Holzstücke in verschiedenen Größen. Werkbänke waren an die übrigen drei Wände geschoben, weitere standen auf dem Betonboden und konkurrierten um den begrenzten Platz mit diversen frei stehenden Maschinen, die wahrscheinlich interessante und wichtige Dinge mit Holz machen konnten, wenn man sich mit so etwas auskannte. Hätte alles Mögliche sein können, um ehrlich zu sein.

Über den Werkbänken waren jede Menge Werkzeuge aufgehängt, jedes von seiner eigenen, mit Filzstift gemalten Umrisslinie gerahmt.

Ein Holzofen prasselte und bullerte in der Ecke vor sich hin und füllte den Raum mit Hitze und würzigem Rauchgeruch.

Ein wenig unangenehmer war da das schrille Kreischen der Maschine, die auf vollen Touren lief und parallele Rillen in ein Brett aus hellem Kiefernholz schnitt. Die kräftige Frau in der Latzhose, die sie bediente, schien ungefähr so groß zu sein wie Bigtoria – schwer zu sagen wegen ihrer gebeugten Haltung –, aber noch muskulöser. Ihre feuerroten Locken waren mit einem blauen Kopftuch zurückgebunden. Wulstige Stirn, leicht vorstehender Unterkiefer. Breite, schwielige Hände. Sie trug Sicherheitsschuhe, Schutzbrille, Gesichtsmaske und Gehörschutz.

Edward trat vorsichtig näher, die Finger in die Ohren gesteckt. »MS WILKINS ? MS SIOBHAN WILKINS ! HALLO

Keine Reaktion.

Neuer Versuch. Er stellte sich auf die andere Seite der Holzbearbeitungsmaschine und wedelte mit den Armen.

Jetzt endlich blickte sie auf und beäugte ihn durch die Schutzbrille, dann legte sie einen Schalter um, worauf das Kreischen allmählich durch die Tonleitern und Oktaven abebbte, bis am Ende wohltuende Stille herrschte. Sie nahm ihren Gehörschutz ab, hielt aber weiter Abstand. Die Brust gewölbt, den Kopf gesenkt, die Fäuste geballt. »Wer sind Sie?«

»Detective Constable Reekie. Das ist DI Montgomery-Porter. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen zu Geoff Newman stellen.«

»Oh aye?« Sie nahm das Brett von der Maschine und trug es zu einer großen Werkbank, eingeklemmt zwischen einer Bandsäge und einer … Drechselmaschine?

Bigtoria lüftete wieder ihren Dienstausweis. »Newman war hier. Vorgestern.«

»Wenn Sie es sagen.«

»Was hat er gewollt?«

Sie funkelte Edward an. »Was kann ein Mann schon wollen?«

Bigtoria funkelte zurück. »Möchten Sie vielleicht, dass ich mit Sergeant Farrow über Ihre mangelnde Kooperation spreche? Drei Verstöße, und man fliegt raus, so ist es doch, nicht wahr? Wie viele haben Sie schon auf dem Kerbholz, Ms Wilkins?«

Wilkins seufzte. Dann entrollte sie ein Maßband und brachte mit einem flachen roten Bleistift ein halbes Dutzend Markierungen an ihrem Brett an. »Er wollte einen Rat zu so einem blöden Buch, das er gelesen hatte. Er sagte, er hätte vor, eine Brücke zu bauen oder irgend so einen Unsinn.«

»Eine Brücke ?« Bigtoria sah zu Edward, um sich zu vergewissern, dass er auch alles mitschrieb – als ob er ein Anfänger wäre.

»Man ist hier für sehr lange Zeit, da braucht man eine sinnvolle Beschäftigung. Ein Hobby. Etwas, womit man die Zeit totschlagen kann.« Sie hantierte mit einem Metallstück herum und markierte ein Rechteck zwischen den Rillen. »Er würde eine Brücke bauen, er würde einen Abschluss in Physik machen, er würde einen Krimi schreiben, er würde bla-bla-bla.«

Edward drehte mit seinem Notizbuch eine kleine Runde durch die Werkstatt. Es war ein regelrechter Hindernisparcours aus verschiedenen Holzobjekten in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung. Stühle. Ein Polsterhocker. Ein Sideboard. »Haben Sie die gemacht? Die sind wirklich gut.«

Ms Wilkins ignorierte ihn. »Ich arbeite für meinen Lebensunterhalt. Hab ich immer schon gemacht und werd’ ich auch immer machen.«

»Und hat er gesagt, wo er diese Brücke bauen wollte?«

Sie zog einen Meißel von seinem markierten Platz an der Wand. »Irgendwo draußen im Wald.«

Edward sah sich zu Bigtoria um. Sie fing seinen Blick auf und nickte. Dann war ihr das also auch aufgefallen.

Der Meißel schälte einen perfekt geformten Kiefernholzkringel aus dem Brett heraus. »Er wollte wissen, ob ich ihm eine Axt verkaufen könnte.«

»Und haben Sie es gemacht?«

»Natürlich nicht. Am Ende wäre er damit noch auf jemanden losgegangen.«

Edward schlenderte weiter und sah sich ein bisschen auf der Werkbank um, die die gegenüberliegende Wand einnahm. »Ich habe immer davon geträumt, ein Schaukelpferd zu bauen. Als Kind hatte ich ein Buch über einen kleinen Jungen mit einem Zauber-Schaukelpferd, mit dem er alle möglichen Abenteuer erlebt hat.« Er befreite eine Säge aus ihrem Umriss. »Meinen Sie, dass das sehr schwierig wäre?«

Ms Wilkins knallte ihren Meißel hin, stürmte auf ihn zu und nahm ihm die Säge aus der Hand, um sie wieder an ihren angestammten Platz zu hängen. »Nicht anfassen!« Sie ging ein paar Schritte bis zum Ende der Werkbank und lehnte sich mit dem Hintern dagegen, die Arme seitlich ausgestreckt, die Fäuste auf die Arbeitsfläche gestemmt, und rang sich ein Lächeln ab. »Die ist scharf. Sie könnten sich übel wehtun.«

Edward wich ein paar Schritte zurück und hob die Hände.

Bigtoria warf ihm einen nicht gerade begeisterten Blick zu und funkelte dann wieder Ms Wilkins an. »Also – was haben Sie Newman zu der Brücke gesagt?«

»Ich habe ihm gesagt, dass es möglich wäre. Aber er ganz allein? Keine Chance. Man muss zuerst die einzelnen Teilstücke bauen und sie an Ort und Stelle transportieren und richtig anordnen und fixieren, während man alles miteinander verbindet … Aber Sie wissen ja, wie Männer so sind.«

Wieder ein Blick zu Edward. »Das können Sie laut sagen.« Pause. »Hat Newman jemals von Caroline Manson gesprochen?«

»Sie glauben, dass sie ihn getötet und sich aus dem Staub gemacht hat?« Die Pause dehnte sich. Dann zuckte Ms Wilkins mit den Schultern. »Sergeant Farrow ist vorbeigekommen und wollte Freiwillige für die Suche rekrutieren. Mein Job ist es, Dinge zusammenzufügen.« Ihr Lächeln war so kalt und scharf wie ihre Meißel. »Eine Sozialarbeiterin ermordet einen beschissenen Ex-Bullen und Pädo? Da finden Sie hier keinen, der ihr dafür nicht den roten Teppich ausrollen würde.«

Also, das war jetzt interessant – die ganze Zeit hatte Ms Wilkins sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt. Und die Arbeit an ihrem Brett hatte sie unterbrochen.

Interessant und verdächtig.

Edward legte den Kopf schief und sah ihr beim Sich-nicht-Rühren zu.

Ms Wilkins nickte. »Die Leute werden meilenweit Schlange stehen, um auf sein Grab zu pissen, wenn das, was von ihm übrig ist, unter die Erde kommt.«

Edward trat auf die Werkbank zu, an der sie gearbeitet hatte, und hob das Kiefernholzbrett mit den merkwürdigen Rillen hoch. Dann griff er sich den Meißel und drehte die lange, dünne Klinge hin und her. »Ich konnte noch nie gut mit so was umgehen.«

Und immer noch blieb Ms Wilkins, wo sie war. »Fassen Sie das nicht an!«

»Ich haue immer gleich große Stücke aus dem Holz raus. Es ist wie …«

»Constable!« Bigtoria schlug mit der Faust auf die Werkbank. »Seien Sie jetzt bitte still!«

Er setzte eine unschuldige Miene auf. »Tut mir leid, Chefin.« Dann legte er das Brett wieder an seinen Platz und setzte den Meißel an einer der Bleistiftmarkierungen an. Schob die Zungenspitze aus dem Mundwinkel, während er einen Holzspan abschabte. »Wow, der ist aber scharf!«

»Nicht!« Ms Wilkins blieb weiter wie angewurzelt stehen, einen Arm nach ihm ausgestreckt, die Finger gespreizt. »Das ist Maßarbeit, Sie ruinieren es noch!«

»Constable, ich sag’s Ihnen nicht noch einmal.«

»Tut mir leid, Chefin.« Ein weiterer Span ringelte sich von dem Brett weg.

Und immer noch rührte sich Ms Wilkins nicht von der Stelle.

Bigtoria zeigte mit dem Finger auf ihn. »Was zum Teufel veranstalten Sie da?«

»Ich nerve ein bisschen, Chefin.« Er drehte den Meißel um und setzte ihn erneut an.

Ms Wilkins’ Augen wurden größer und größer – zusehen zu müssen, wie er an ihrem Werk herumpfuschte, bereitete ihr offensichtlich große Qualen, aber nicht einmal das konnte sie dazu bringen, ihre Position aufzugeben.

Edward nickte. »Sehen Sie, die ganze Zeit hat Ms Wilkins an diesem … was immer es ist, gearbeitet. Als ich ihre Säge angefasst habe, kam sie gleich angerannt und hat sie mir weggenommen, dann ist sie ein Stück weitergerückt und hat sich genau dort hingestellt.« Er zeigte auf sie. »Und seitdem hat sie sich nicht von der Stelle gerührt. Nicht einen Millimeter.«

Seine scharfsinnige Beobachtung wurde mit Schweigen quittiert.

Nein?

»Ist das nicht ganz offensichtlich?«

Immer noch keine Reaktion.

Na gut, dann musste er wohl ein bisschen deutlicher werden. »Was ist es, was wir nicht sehen sollen, Ms Wilkins? Was haben Sie hier versteckt?«

Bigtoria drehte sich zu Siobhan Wilkins um und starrte sie an.

Er neigte sich zur Seite und spähte zwischen Ms Wilkins’ Beinen hindurch. »Was ist in dem Karton?«

Es war ein Pappkarton, ungefähr so groß wie ein Mikrowellenherd, auf dem mit schwarzem Filzstift »GEBRAUCHTE ÖLLAPPEN « stand. Er war in einem Regal unter der Werkbank ganz nach hinten geschoben. Gut versteckt.

Ms Wilkins leckte sich die Lippen. »Nichts.«

Bigtoria sah Edward an und zog eine Braue hoch. »Vielleicht sind Sie ja doch nicht ganz so unfähig.«

»Treten Sie zur Seite, Ms Wilkins.«

Wilkins vergrub ihr Gesicht in den Händen, dann ließ sie den Kopf sinken und zog die Schultern ein. Ihre Stimme war kaum vernehmbar. »Es tut mir leid.«

Jawohl, Leute – Detective Constable Edward Reekie schlägt wieder zu.

Er trat auf sie zu, um den Karton an sich zu nehmen und …

Ms Wilkins beschleunigte von null auf Vollsprint in gerade mal zwei Schritten. Räumte Edward mit einem Bodycheck aus dem Weg und holte ihn von den Beinen, sodass er krachend auf dem Hintern landete. Feuerwerke explodierten in beiden Pobacken, als sie auf dem Beton auftrafen.

Bigtoria ging in die Knie und beugte den Oberkörper vor, die Arme ausgestreckt wie eine Torhüterin beim Elfmeter, doch Ms Wilkins schlug einen Haken nach links, griff in einen Stapel von langen Holzleisten und riss ihn um.

Die Latten prasselten auf Bigtoria herab, sie hielt sich die Arme über den Kopf, während sie polternd auf den Betonboden fielen. Und schon war Ms Wilkins an ihr vorbei und sprintete in einem Affenzahn davon.

Im nächsten Moment schoss sie zur Werkstatttür hinaus, die hinter ihr zuknallte.

Bigtoria stieß die letzten Leisten weg und rannte ihr nach. Riss die Tür auf, dass sie krachend gegen die Wand prallte. Und verschwand im Schneegestöber.

Herrgott noch mal.

Edward rappelte sich auf und hielt sich mit einer Hand den schmerzenden Hintern. Blickte nach links, nach rechts.

Sinnlos, einfach hinter Bigtoria herzurennen, sie war sowieso schneller als er mit ihren langen, muskulösen Beinen. Aber es gab doch bestimmt einen besseren Weg, diese beiden einzuholen …

Aha!

Er machte kehrt und lief in die andere Richtung los, auf die Vordertür zu.