Edward fuhr herum – gerade rechtzeitig, um im Strahl seiner Stirnlampe zu sehen, wie PC Harlaw sich über eine Chaiselongue auf ihn stürzte.
Beide fielen polternd zu Boden, überschlugen sich ein paarmal und krachten in einen Mahagoni-Kleiderschrank. Der Aufprall war so heftig, dass sie sich für einen Moment voneinander lösten – es war nicht viel Platz, aber es reichte.
Edward rappelte sich auf die Knie hoch und zielte mit dem Pfefferspray, den Daumen auf dem Auslöser.
Harlaw schlug seine Hand zur Seite, der Zylinder flog davon, kullerte über den Betonboden – ping-klang-klonnnng – und rollte unter einen Unterschrank mit einem ovalen Spiegel darauf, etwa drei Meter weiter. Zu weit, um dranzukommen, es sei denn …
Die Hand schlug wieder zu und krachte in Edwards Nase. Die Luft roch plötzlich nach brennendem Pfeffer und heißem Eisen.
Du – verdammter – Hurensohn.
Er konterte mit einem Schlag, der Harlaws Ohr traf.
Eine Faust flog und erwischte Edward am Kinn. Er warf sich mit gefletschten Zähnen auf Harlaw, versuchte ihn niederzuringen, setzte zu einem Tritt an, während Harlaw seine Handgelenke packte und ihn mit einem Kopfstoß nur ganz knapp verfehlte.
Sie rumpelten in eine Kommode, die umkippte und in einem Crescendo von splitterndem Holz auf einen Couchtisch krachte.
Edward wand sich los, riss das Knie hoch und warf Harlaw mit einem Tritt in die Magengrube auf den Rücken.
Gut so.
Er drehte sich um und krabbelte hastig auf den Unterschrank zu – doch Harlaw packte ihn an den Knöcheln und zog ihm die Knie unter dem Leib weg.
Er landete mit einem Wump bäuchlings auf dem Beton, wobei sein Kinn noch heftiger durchgeschüttelt wurde als vorhin bei Harlaws Fausthieb. Aber nicht so heftig, dass es ihn daran gehindert hätte, sich nach vorne zu werfen, den rechten Arm ganz ausgestreckt, um mit den Fingern in den tanzenden Schatten unter dem Unterschrank nach der glänzenden Dose zu tasten.
Ein Gewicht drückte auf seinen Rücken, dann klatschte eine Faust in seine ungeschützten Rippen – die jetzt nur noch mit einer einfachen Schicht Warnjacken-Kapok geschützt waren. Splitter von brennendem Schotter jagten durch seine Seite.
Fast geschafft …
Ein weiterer Schlag traf dieselbe verdammte Stelle und ließ ein gutturales Ächzen aus seinem Mund hervorbrechen, das eine Staubwolke aufwirbelte und im Schein der Stirnlampe tanzen ließ.
Seine Finger streiften die glatte Metallhülse.
Komm schon, du glitschiges kleines Miststück …
Eine Hand griff in die Haare an Edwards Hinterkopf, zog ihn hoch und knallte ihn mit dem Gesicht auf den Boden.
Klonk.
Das verdammte Pfefferspray war ganz knapp außerhalb seiner Reichweite.
Herrgott noch mal, bitte …
Klonk.
Seine Stirn donnerte wieder auf den Beton, worauf eine Million altmodische Telefone zu klingeln begannen, eingehüllt in eine Woge von gleißenden schwarz-gelben Punkten.
Vergiss es, du kriegst das Ding doch nicht zu fassen. Schlag’s weg.
Er ballte die Hand zur Faust und ließ dann die Finger vorschnellen – die Spitzen schnippten die Dose weg, die gegen die Wand knallte und zurückrollte. Er hatte sie noch nicht ganz in der Hand, aber jetzt war er nahe genug dran, um …
Klonk.
Das Klingeln wurde doppelt so laut, die Punkte doppelt so grell, begleitet von einem stechenden Schmerz, der auf Schlittschuhen und geschliffenen Steigeisen durch seinen Schädel tanzte.
Aber seine Finger schlossen sich endlich um das Pfefferspray.
Er legte die andere Hand flach auf den Boden und stemmte sich hoch, half mit Knien und Füßen nach, doch Harlaws Gewicht verlagerte sich nur ein bisschen. Immerhin gelang es Edward, sich auf die Seite zu drehen und aus dem Augenwinkel zu dem Mistkerl aufzuschauen.
Edward hielt Harlaw das Pfefferspray ins Gesicht und drückte den Daumen auf den Auslöser.
Nichts passierte.
Keine große Tröpfchenwolke, kein Geschrei, keine knallroten, verquollenen Augen, aus denen Tränen strömten, wenn das teuflische Capsaicin seine verheerende, nervenzerfetzende Wirkung entfaltete.
Er drückte noch einmal auf den Auslöser.
Wieder passierte nichts.
»Tut mir leid.« Harlaw sah lächelnd auf ihn herab. »Hast du wirklich gedacht, wir würden dir ein geladenes geben? Wo doch der Plan war, dich aus dem Weg zu schaffen? Nee, Junge, du bist …«
Edward benutzte das Ding stattdessen als Totschläger und rammte seine Faust mit solcher Wucht in Harlaws selbstgefällige Visage, dass der nach hinten kippte.
Edward kämpfte sich in die Vertikale, die neue Warnjacke halb offen, blutverschmiert und zerrissen.
Scheiß drauf.
Lauf weg.
Er war gerade drei Schritte in Richtung Ausgang gerannt, als eine Hand sich um seinen Knöchel legte und ihn zu Fall brachte. Er krachte mit dem Kopf voran in einen Esszimmerstuhl, der sofort kampflos nachgab, und blieb in einem Durcheinander zersplitterter Streben liegen.
Edward rollte weg, stieß gegen den Tisch, zu dem der Stuhl gehörte, und rappelte sich auf, kurz bevor Harlaw, der Anlauf genommen hatte wie zu einem Freistoß, bei ihm ankam.
Der Fuß schwang durch die Luft, nahm Kurs auf Edwards Eier … schaffte es aber irgendwie, stattdessen von seinem Oberschenkel abzuprallen.
Edward schwang die Faust, Harlaw konterte, und dann prügelten sie aufeinander ein, krallten und grabschten – das Revers von Edwards Armani-Anzug riss in Harlaws Faust. Ein wildes Rempeln und Stoßen, mit fliegenden Fäusten und Ellbogen.
Harlaw ließ mit einer Hand los und holte zum Schlag aus, doch Edward warf sich nach vorne, eher er die Faust schwingen konnte, und schubste ihn, sodass er das Gleichgewicht verlor und rückwärtstaumelte.
Und Edward gerade genug Platz ließ, um den ovalen Spiegel vom Unterschrank zu packen und ihn Harlaw über den Schädel zu ziehen.
Der Spiegel zersprang, die Scherben blitzten kurz im Schein der Stirnlampe auf und reflektierten ihre Strahlen, ehe sie auf dem Betonboden zersplitterten.
Harlaw folgte ihnen kurz darauf. Er fiel auf die Knie und kippte dann zur Seite weg. Klonk .
Oh, dem Himmel und allen haarigen Heiligen sei Dank …
Jeder Atemzug war ein Kampf – Edward sog die Luft in seine brennende Lunge und stieß sie mit einem dumpfen Keuchen wieder aus. Das Blut hämmerte und wummerte in seinen Ohren und im ganzen Schädel, der Schweiß lief ihm über den Rücken.
Er zog seine Handschellen aus der Tasche und schloss das eine Ende um Harlaws rechtes Handgelenk, dann schleifte er ihn über den Boden zu einem schweren, schmiedeeisernen Bettgestell, steckte den Arm mit dem Metallring durch eine Lücke zwischen den Streben und ließ das andere Ende um Harlaws linkes Fußgelenk einschnappen.
Jetzt schau, wie du da wieder rauskommst, du Arsch.
Anschließend nahm er Harlaws Handschellen, Schlüssel, Schlagstock und Pfefferspray an sich.
Dann stand er da, keuchend und ächzend, und wischte sich das Blut von Oberlippe, Mund und Kinn.
»Haben Sie … haben Sie das gehört, Sarge? … Jetzt ist es einer … gegen eine.«
Von irgendwo drüben an der gegenüberliegenden Wand kam das Geräusch von scharrenden Sohlen auf Beton. Es entfernte sich allmählich und ging dann über in das Klomp-klomp-klomp von jemandem, der in Gummistiefeln zu rennen versuchte. Dann drang fahles graues Licht in den Raum, als die Tür zur Gasse aufgerissen wurde. Sergeant Farrow hatte die Flucht ergriffen.
»Mist …«
Edward setzte sich in Bewegung, steigerte sich von einem Humpeln über einen leichten Trab bis fast zu einem Sprint, als er zur Tür hinaus in den Schnee stürmte, wo er strauchelte und fast in die gegenüberliegende Hauswand donnerte.
Er richtete sich auf, blickte sich suchend um in der düsteren …
Da!
Sergeant Farrow – sie lief mit großen Storchenschritten in Richtung Polizeirevier, immer dem Strahl ihrer Stirnlampe nach. Als sie am Ende der Gasse ankam, wurde sie von einem Windstoß erfasst und fast umgeworfen. Sie wurde kurz langsamer, dann verschwand sie um die Ecke.
Los jetzt – wir sind noch nicht fertig.
Mit aller Kraft setzte er einen Fuß vor den anderen und steigerte das Tempo nach und nach, bis man fast wieder von Laufen reden konnte. Der Atem rasselte in seiner Kehle, das Herz wummerte in seiner Brust. »SIE KÖNNEN DOCH NIRGENDWOHIN , MENSCH ! WIR SIND EINGESCHNEIT !«
Er stürzte aus der Gasse hinaus in den Schneesturm und kam schlitternd zum Stehen, als der Wind ihn mit voller Wucht erwischte und von den Beinen zu holen versuchte. Seine offene Warnjacke flappte und flatterte, Schneeflocken wirbelten um ihn herum und prasselten auf seinen Rücken, als er sich vom Wind abwandte und hinter Sergeant Farrow herlief.
Sie folgte der Furche, die sie auf dem Hinweg durch den Schnee gezogen hatten, aber er lag hier immer noch viel tiefer als in der Dunbrae Lane, und der heulende Wind wehte schon wieder Nachschub in den hüfttiefen, einspurigen Canyon.
Sergeant Farrow hatte wahrscheinlich gar nicht so viel Vorsprung, aber der Schneesturm entzog sie immer wieder für mehrere Sekunden seinen Blicken, ehe sie wieder als graue, verwaschene Silhouette in der Ferne auftauchte. Sie kam deutlich schneller voran als er. Aber sie war ja auch nicht gerade eben erst drüben in der Möbeltauschbörse einem Mordanschlag entgangen.
Sie passierte den dunklen, stillen Block des Glenfarach House Hotel und watete hinaus auf den Marktplatz, die Arme angehoben, um das Gleichgewicht zu halten, wenn alle acht oder neun Schritte der Wind einen neuen Versuch unternahm, sie von den Füßen zu holen.
Und Edward hechelte hinterher. Er wurde langsamer, als der Adrenalinschub nachließ und die Schmerzen und die schiere Erschöpfung der letzten drei Tage in seine Knochen drangen. »SEIEN SIE DOCH VERNÜNFTIG , SARGE ! ES IST VORBEI !«
Sie rief ihm etwas zu, doch der Wind riss ihre Worte fort.
Das Polizeirevier ragte auf der anderen Seite des Platzes auf, aus den oberen Fenstern fiel hier und da Licht in den höllischen Nachmittag hinaus und verbrannte den Diesel des Notstromaggregats. Machte es aber auch leichter, zu sehen, wie Sergeant Farrow auf den Großen Wagen zustapfte.
Sie fischte schon die Schlüssel aus der Tasche, als Edward an dem Uhrturm-Denkmal vorbeihumpelte – kaum schneller als in normalem Gehtempo.
Sergeant Farrow kletterte auf den Fahrersitz, und gleich darauf setzte das kehlige Grollen des Motors ein. Die Scheinwerfer leuchteten auf, dann warfen auch die Dachstrahler ihre Lichtspeere durch den wirbelnden Schnee, und das blau-weiße Rundumlicht begann zu flackern.
Edward hatte fast die letzte Baumreihe erreicht, als sie Gas gab und die Räder des Großen Wagens sich auf der Stelle zu drehen begannen, während der aufgewirbelte Schnee im Schein der Rücklichter blutrot aufflammte. Dann griffen die Schneeketten, und der Land Rover machte einen Satz nach vorne.
Und beschleunigte.
Und hielt direkt auf Edward zu.
Er blieb abrupt stehen. »Du Sch…«
Der Große Wagen raste durch den Schnee auf ihn zu – er war jetzt schon schnell genug, um ernsthaften Schaden anzurichten, und wurde mit jeder Sekunde noch schneller.
Kein Zweifel – sie wollte ihn mit voller Absicht über den Haufen fahren.
Mit einem großen, dicken, fetten Land Rover.
JA , DANN STEH HALT NICHT RUM WIE EIN ÖLGÖTZE !
Er sprang zur Seite, und der Große Wagen bretterte über die Stelle, wo er noch eine Sekunde zuvor gestanden hatte.
Sergeant Farrow war offenbar nicht glücklich darüber, dass sie ihn verfehlt hatte, denn die Bremslichter leuchteten auf, und die Schnauze des Wagens senkte sich, während sie das Steuer herumriss, um es noch einmal zu versuchen. Das einzige Problem war, dass diese Schneeketten zwar für eine vernünftige Fahrweise bei winterlichen Verhältnissen taugten, nicht aber für Rallye-Manöver im Tiefschnee.
Das Heck brach aus, und der Große Wagen geriet ins Schleudern, setzte seine Fahrt in die gleiche Richtung fort und drehte mehrere Pirouetten, bis er frontal in den Uhrturm krachte und alles mit einem Schlag zum Stillstand kam.
Das Grollen des Dieselmotors verstummte, aber die Lichter blieben an.
In einem Fernsehkrimi wäre jetzt die Hupe losgegangen, aber es blieb alles still. Nur der Wind und das leise Prasseln der eisigen Flocken machte das Fehlen künstlicher Dramatik ein wenig wett.
Edward stakste schnaufend und keuchend zur Fahrerseite, öffnete die Tür und spähte hinein.
Sergeant Farrow war auf ihrem Sitz zur Seite gesackt, aus einer klaffenden Wunde auf ihrer Stirn tropfte dunkelrotes Blut auf die Polster des Land Rovers.
Das sah nicht gut aus.
Er stieg auf das Trittbrett, während der Wind an seinen Schultern schubste und zerrte und sich in den Großen Wagen zu drängen versuchte, und streckte die Hand aus, um nach einem Puls zu tasten …
Na, Gott sei Dank.
Sie war noch am Leben.
Allerdings würde sie einen gewaltigen Brummschädel haben, wenn sie wieder zu Bewusstsein kam.
Er ließ sich nach vorn fallen, die Augen geschlossen, und kam langsam wieder zu Atem, während Schnee durch die offene Tür hereinwirbelte.
»Okay.«
Edward setzte Sergeant Farrow aufrecht hin und steckte eine ihrer Hände durch das Lenkrad, ehe er die Handschellen hervorzog, die er Harlaw abgenommen hatte, und ihre Handgelenke zusammenschloss. Anschließend nahm er ihr die Schlüssel, ihre eigenen Handschellen und das Tigerkopf-Walkie-Talkie ab.
Er stieg wieder hinunter auf die verschneite Straße und schwankte, als ein neuerlicher Windstoß an seiner Warnjacke ruckelte, dann schlug er die Tür zu.
Und dann, um der guten alten Zeiten willen, zeigte er Sergeant Farrow noch durch das Fenster den Stinkefinger.
Eisige weiße Flocken peitschten vorüber, als er sich wieder in den Schneesturm drehte, eine Hand schützend vor die Augen gehoben, und in die ungefähre Richtung von Mr Bishops Haus spähte.
Wahrscheinlich hatten sie die DI schon umgebracht – zumal, wenn sie Sergeant Farrows »Ich weiß, was Sie getan haben «-Anruf auf dem Walkie-Talkie mitgehört hatten. Und da Mr Richards jetzt Edwards Teddybären hatte und jeder Anruf an alle Apparate übertragen wurde, gab es null Grund zu der Annahme, dass sie es nicht gehört hatten. Also war sie mit ziemlicher Sicherheit tot.
Tja …
Aber »mit ziemlicher Sicherheit« war nicht dasselbe wie »mit Sicherheit«, oder?
Und es bedeutete nicht, dass er nicht versuchen sollte, sie zu retten.
Edward straffte die Schultern, das Kinn erhoben, und bot dem Sturm die Stirn.
Aber andererseits …
Wie zum Teufel sollte er eine Ein-Mann-Rettungsaktion durchziehen, mit nichts als einem Teleskop-Schlagstock und einem geklauten Pfefferspray-Behälter, mitten im schlimmsten Winter seit mindestens zehn Jahren?
Was er brauchte, war irgendetwas, was ihm einen Vorteil verschaffte – eine Art Geheimwaffe, einen Trumpf, um zu verhindern, dass das Ganze zur Operation »Edward und Bigtoria lassen sich von zwei fiesen alten Verbrecherschweinen abmurksen« entartete.
Er runzelte die Stirn.
Dann drehte er sich von dem wütenden Wind und seinen Millionen gefrorener Dolche weg und blickte stattdessen die West Main Street hinunter.
Und ein Lächeln breitete sich auf seinem schmerzenden Gesicht aus.
»Na, das ist doch eine Idee.«