18. KAPITEL
A’oodhu bi kalimaat Allaah al-taammaati min sharri maa khalaq.
»In den vollkommenen Worten Allahs suche ich Zuflucht vor dem Bösen, das Er erschaffen hat.«
– Sahih Muslim, Hadith 2708
14. Tagebucheintrag (Fortsetzung)
Mostar ließ meine Wange los, nahm meine Hand und führte mich in ihre Werkstatt. Ihre Waffenschmiede. So sah sie jetzt aus. Bambusstangen an der Wand, Küchenmesser auf der Werkbank. Fehlgeschlagene Experimente, Prototypen, lagen in der hintersten Ecke. Ich sah schief abgesägte oder gesplitterte Stangen, verbogene und angeschlagene Messer. Gerissene Schnürsenkel, verschiedene Klebebandrollen und ein abgewickeltes Gewirr aus glänzend rotem Weihnachtsband.
»Stellen Sie sich hier hin.« Mostar führte mich in die Mitte des Raumes. »Rücken gerade.« Sie musterte mich eine Sekunde lang von Kopf bis Fuß und griff dann nach einer der Bambusstangen. »Halten Sie sich still.« Sie stellte die Stange an meinen Rücken. »Fast perfekt.« Dann legte Sie die Stange auf die Werkbank. »Schauen Sie zu, hören Sie zu. Prägen Sie sich jeden Schritt genau ein.«
Deshalb habe ich den nächsten Abschnitt wie eine Art Bedienungsanleitung niedergeschrieben. Ich vertraue nicht darauf, dass ich mich morgen noch an etwas erinnern werde, nachdem ich heute Abend in den Tiefschlaf falle. Außerdem komme ich mit einer Sache, die Mostar erwähnte, während wir arbeiteten, einfach nicht klar. Etwas von wegen »den Rest der Siedlung unterrichten«. Ich habe nicht gefragt, was sie damit meint. Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Sie ist direkt in die Lektion eingestiegen, und hier ist sie.
Wie man einen Speer herstellt:
Die Wahl des richtigen Bambusrohrs ist von entscheidender Bedeutung. Es darf sich nicht verjüngen. Das ruiniert die Balance. Und es muss zur eigenen Körpergröße passen. Zu lang ist zu unhandlich. Zu kurz, und man riskiert, auf die Klinge zu fallen. Die Länge muss nicht ganz genau passen, wichtiger ist, dass das obere Ende den Griff des Messers perfekt umgibt. Das Rohr muss den richtigen Umfang haben, muss dick genug sein, um die erforderliche Steifheit zu bieten, darf aber nicht so wuchtig sein, dass man es nicht fest greifen kann. (Wow, das klingt schmutzig. Entschuldigung, ich stehe gerade echt neben mir.)
Beim Ernten der Stange sägt man sie unmittelbar unter dem untersten Knoten ab, oder wie auch immer diese Ringe heißen. Das dauert eine Weile, vor allem mit einem dünnen Brotmesser. Und es gibt eine spezielle Methode. Wenn man wie bei normalem Holz von einer Seite zur anderen durchsägt und nur ein kleines Stück Verbindungsfaser übersieht, reißt diese Faser einen Streifen über die gesamte Länge heraus. Wie Mostar mich warnte: »Das verringert die Stabilität und fördert das Splittern.« Der Trick besteht darin, zuerst einmal ganz außen herum zu sägen und die harte Deckschicht zu durchtrennen, bevor man den tiefen Schnitt ausführt.
Als Nächstes sägt man sämtliche Zweige ab (die zu Pflöcken verarbeitet werden können) und schleift die scharfen Höcker mit einem Schleifklotz ab.
Diese ersten beiden Arbeitsschritte habe ich nicht selbst ausgeführt. Deshalb hatte sie mich gemessen – um mit einer bereits abgesägten Stange Zeit zu sparen. Das war der einzige Teil der Lektion, den sie übernahm. Den Rest erledigte ich eigenhändig.
Wie die Bambusstange will auch das Messer sorgfältig ausgewählt sein. Man sollte nicht einfach das mit der längsten Klinge verwenden. Diese sind in der Regel zu dünn. Die beste Option ist ein kürzeres Kochmesser mit einer etwa zwanzig Zentimeter langen Klinge, das auch die richtige Bauweise haben muss.
Bei dem verwendeten Messer muss der Stahl der Klinge bis zum Ende des Griffs durchgehen. Andernfalls kann man es nicht an der Bambusstange befestigen. Und das Befestigen ist der komplizierteste Teil. Wenn die Griffschalen des Messers von Stiften gehalten werden, hat man Glück gehabt. Stifte bedeuten Löcher im Stahl. Und diese Löcher stellen die beste Möglichkeit dar, um die Klinge festzubinden, aber diesen Teil werde ich gleich erklären.
Idealerweise bestehen die Griffschalen aus Kunstharz. In diesem Fall kann man sie mit einem Stein zertrümmern. (Ich weiß … kein einziger Hammer in der ganzen Siedlung!) Beim Zertrümmern ist Vorsicht geboten, da einen die Bruchstücke im Auge treffen können. Ich trug Mostars Zwiebelbrille und spürte, wie mir kleine Splitter ins Gesicht flogen.
Nachdem Griff und Stifte entfernt sind, ist der nächste Schritt die Anpassung. Man schiebt den Griff in das hohle obere Ende der Stange. Wenn er nicht hineinpasst (guter, stabiler Bambus hat möglicherweise nicht genügend Innenraum), sägt man mit dem Brotmesser eine kleine Nut hinein. Sobald die nackte Klinge fest sitzt, nimmt man sie zum Messen wieder heraus.
Hier kommen die Grifflöcher ins Spiel. Man legt die Löcher von außen an der Stange an, markiert sie mit einem Stift (Edding, falls vorhanden) und wiederholt den Vorgang auf der anderen Seite. Ist das verständlich? Die Löcher werden dann mit einem Gemüsemesser gebohrt. Lassen Sie sich Zeit. Überstürzen Sie nichts. Mostar zeigte mir ein paar Gemüsemesser, bei denen sie Stücke aus der Schneide herausgebrochen und sie damit für immer ruiniert hatte. Mithilfe von Licht lässt sich überprüfen, ob alle Löcher richtig angeordnet sind. Mir gelang das gleich beim ersten Mal, und Mostar war sichtlich beeindruckt. Anscheinend passieren hier am schnellsten Fehler, und die Löcher stimmen nicht überein. Je mehr man bohrt, desto mehr schwächt man den Bambus.
Als Nächstes wird das Messer befestigt, und dafür wird Draht verwendet. Mostar benutzte ein etwa einen Meter zwanzig langes Stück Stromkabel von einer Stehlampe. Nachdem man den äußeren Kabelmantel aufgeschnitten hat (eine normale Schere reicht dafür aus), zieht man die beiden Kabel auseinander (falls es sich um ein zweiadriges Kabel handelt). Eines davon wird für einen weiteren Speer beiseitegelegt, das andere fädelt man durch das obere Loch. Klingt einfach, aber meine ersten Versuche haben nur zu Frust geführt. Die Spitze blieb immer wieder hängen, weil ich einen Schritt ungeduldig übersprungen hatte. Wenn man die Isolierung des Drahtes am Ende zuspitzt wie eine Nadel, macht das einen riesigen Unterschied!
Sobald das Kabel aus dem zweiten oberen Loch austritt, zieht man es fast bis zum Ende durch und macht mit den letzten zwei bis drei Zentimetern einen sicheren Knoten. Dann wickelt man das Kabel fest um den Bambus, bis man bei den beiden unteren Löchern angelangt. Durchfädeln, knoten, fertig!
Ein echter Speer!
Mostar nahm mir die Waffe ab, hielt sie in den Händen, überprüfte die Balance, inspizierte mit einem zugekniffenen Auge den geknoteten Draht und gab sie mir zurück. »Gut gemacht, Katie.« Sie lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.
Ich war so stolz. Für eine Minute hantierte ich nur mit meiner Kreation – hielt sie vertikal, horizontal. Ich machte sogar eine kurze, beidhändige Stoßbewegung damit und rammte versehentlich das hintere Ende in das Garagentor.
»Tut mir leid.« Ich spürte, wie meine Wangen wegen der Beule erröteten.
Mostar winkte ab und sagte: »Vergessen Sie es.« Dann: »Ich wusste, dass Sie ein Naturtalent sind. Sie haben einen logischen, methodischen Verstand. Viel mehr als ich.« Sie deutete auf die nicht fertiggestellten Prototypen. »So funktioniert es. Ausprobieren, scheitern, dazulernen und bei letztendlichem Erfolg zur Verbesserung weitergeben.«
Das brachte mich auf die Idee für eine Verbesserung. »Wie wär’s, wenn man den Gummi schmelzen würde? Würde die Klinge dann nicht noch besser halten?«
»Möglicherweise«, sagte Mostar mit einem Nicken, das ein ermutigender Lehrer einem wohlmeinenden, aber völlig danebenliegenden Erstklässler gibt, »doch es würde das Kabel ruinieren, das wir vielleicht noch brauchen, um weitere Speere anzufertigen.« Sie deutete auf eine Ansammlung kürzerer, dünnerer Stangen. »Das macht mir Sorgen bei den Speeren. Jedes Mal, wenn wir einen werfen, verlieren wir ein gutes Messer. Obwohl sie wahrscheinlich einfach wieder herausrutschen werden, wenn ich keinen Weg finde, Widerhaken herzustellen.«
Eine andere Idee regte sich, aber diese war weitaus verworrener. Ich sah mir den 3D-Drucker an, war jedoch nicht zu einem zusammenhängenden Gedankengang imstande. Stattdessen gähnte ich, was mir ein solidarisches Gähnen von Mostar einbrachte.
»Sie müssen schlafen.« Sie blickte zur Wanduhr. »Ich glaube nicht, dass Reinhardt schon aufgewacht ist. Am besten ruhen Sie sich aus und essen etwas, bevor Sie auf ihn aufpassen.«
Essen.
Mir wurde plötzlich schlecht vor Hunger. Ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, den Speer anzufertigen, war so in die jeweiligen Schritte vertieft gewesen. Doch sobald ein Teil meiner Konzentration frei war …
Anscheinend hatte ich einen Blick hinüber zur Tür geworfen, zur Küche und zu Vincents Kopf im Gefrierschrank.
»Wir begraben ihn später.« Mostar, die Gedankenleserin. »Wenn wir in Sicherheit sind, wenn wir Zeit haben.«
Ich spürte, wie mein Kopf schwamm, als ich zum Tisch taumelte.
»Atmen Sie erst mal durch.« Mostar nahm meinen Speer und führte mich zu dem kleinen Hocker an der Werkbank. »Versuchen Sie, sich zu entspannen.«
Das tat ich und schloss fest die Augen. Ich fühlte, wie der Damm in meinem Gehirn brach.
Jemand anderem als Nahrung zu dienen.
Man ist ein Mensch. Man denkt, man fühlt. Und dann ist plötzlich alles vorbei, und was man früher war, ist jetzt ein matschiges Durcheinander im Magen von jemand anderem.
Gemetzel, Blut, gebleckte gelbe Fangzähne. Abgenagtes Fleisch. Abgeleckte Knochen.
»Sehen Sie mich an.«
Die Hand an meinem Kinn zwang mich, die Augen zu öffnen.
»Ich weiß.« Mostars trauriges Lächeln, der Seufzer. »Er ist ein Segen und ein Fluch, der menschliche Verstand. Wir sind die einzigen Kreaturen auf der Erde, die sich ihren eigenen Tod vorstellen können. Aber«, sie hielt meinen Speer hoch, »wir können uns auch Möglichkeiten vorstellen, um ihn zu verhindern.«
Dann klingelte es an der Tür.
Palomino stand im Eingang, eine aufgerollte Yogamatte in der Hand.
»Was machst du denn hier, kleine Puppe?« Mostar packte sie und zog sie herein. »Du weißt doch, dass du nicht allein draußen sein sollst. Wissen deine Eltern, wo du bist?«
Sie schüttelte den Kopf und deutete mit der Matte auf etwas im Freien.
Dann verstand ich. Die Matte sollte ihre Knie frei von Schmutz halten. »Hey, Pal, tut mir leid, dass ich gerade keine Zeit habe, um mit dir im Garten zu arbeiten. Ich muss rüber zu Mr Reinhardt …«
Falsch. Pal schüttelte den Kopf, dann drehte sie sich zu Mostar und deutete noch einmal auf … was?
Ich schaute nach draußen, sah aber nichts. Kein bestimmtes Haus, nicht den Vulkan und (Gott sei Dank!) keine dunklen Kreaturen, die aus dem Wald herunterstarrten.
Sie blickte nach Südosten, und meines Wissens gab es nichts in dieser Richtung. Mostar wirkte verwirrt. »Tut mir leid, ich weiß nicht …« Dann: »Oh«, gefolgt von einem kurzen Blick zurück auf ihre Wanduhr. »Ohhhh!« Ein breites Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Augenwinkel anfingen zu funkeln. »Oh, Lutko Moja, es ist lange her.« Mostar fasste sich mit Daumen und Zeigefinger an den Nasenrücken, schüttelte damit ihren Kopf und sah dann achselzuckend auf. »Los, komm, mal sehen, ob ich mich erinnere.« Mostar ignorierte meine Verwirrung, legte einen Arm um das Mädchen und fragte mich: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, nach oben zu laufen und ein sauberes Handtuch aus dem Schrank im Flur zu holen?«
Es war mein erstes Mal im Obergeschoss. Ich hatte nicht vor zu schnüffeln.
Aber ihr Haus ist ziemlich ähnlich angelegt wie unseres. Der Flurschrank befindet sich direkt neben dem Schlafzimmer. Ich habe es nicht betreten. Die Tür stand offen. Und das Bild hing über dem Bett und war so groß, dass man es von meiner Position im Flur gar nicht übersehen konnte.
Mostar sah darauf viel jünger aus, war vielleicht in den Zwanzigern oder Dreißigern. Sie war nicht dünn, aber ihr Mantel mit Gürtel betonte ihre Sanduhrfigur. Ihr rabenschwarzes Haar glänzte unter einer gestrickten Wollmütze. Der Mann, der den Arm um sie legte, sah ungefähr gleich alt aus. Spitzbart. Brille. Die Art von europäischem Intellektuellen, wie man ihn immer in Filmen sieht, die Art von Typ, von dem ich dachte, ich würde ihn heiraten, als ich in der Highschool war. Sie hatten beide ihre Arme um die Kinder gelegt, die vor ihnen standen.
Junge und Mädchen. Der Junge war ungefähr zwölf, das Mädchen vielleicht zehn. Breites Grinsen, echt bei dem Jungen, eine alberne Grimasse bei dem Mädchen.
Sie standen am felsigen Ufer eines zugefrorenen Flusses. Hinter ihnen ragte eine Brücke auf. Schmal, keine Autos. Ein alter Bogen aus Stein, der zwei Hälften einer ebenso alten Stadt aus Stein miteinander verband. Zunächst erkannte ich die Brücke nicht, doch dann fiel mir auf, dass ich die echte Version ihrer Glasskulptur vor Augen hatte!
Ich konnte nicht sagen, wo. Vielleicht Russland. Den Roten Platz kenne ich nur von Fotos. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es nicht Nordwesteuropa war. Die Gebäude und die Kleidung kamen mir zu trist vor, wenn das der richtige Begriff ist. Osteuropa? Polen? Tschechische Republik – oder, wenn ich mich an den Geschichtsunterricht in der Highschool erinnere, wäre es damals die Tschechoslowakei gewesen? Wie heißt der Südosten? Der Teil, bevor man in die Türkei kommt. Klingt so ähnlich wie Baltikum. Balkan.
Jugoslawien, ein anderes Land, über das ich in der Schule gelesen habe. Ein Krieg in den 90er-Jahren? Ich war damals ungefähr im Alter dieser Kinder. Ich habe die aktuellen Ereignisse damals nicht wirklich verfolgt. Die 90er-Jahre waren O.J. Simpson und Britney Spears.
Selbst an der Penn State University habe ich nur ein Einführungsseminar in Politikwissenschaft belegt, und das Einzige, woran ich mich erinnere, ist der Begriff »ethnische Säuberung«. Und an Professor Tongun aus dem Sudan: »Wie ein Baum im Wald hört Amerika kein fremdes Leiden.«
Bombardierung. Scharfschützen. Belagerungspommes. Mostar.
»Katie!«, von unten. »Wir warten.«
Ich schnappte mir das größte Badetuch, das sie hatte, rannte die Treppe hinunter und fand sie in der Küche. Mostar blickte mich grinsend an. Ihr muss bewusst gewesen sein, dass ich das Bild gesehen hatte.
Sie sagte nur: »Perfektes Timing.«
Anscheinend hatten sich die beiden gerade die Hände gewaschen und vermutlich auch die Füße. Ich sah Feuchtigkeit zwischen ihren Zehen glänzen. Ich dachte, sie würde das Handtuch benutzen, um sie abzutrocknen, aber als sie es mir abnahm, gingen die beiden ins Wohnzimmer.
»Sie können zuschauen«, sagte sie über die Schulter zu mir, »ich glaube nicht, dass es ihm etwas ausmacht. Oder ihr. Was weiß ich denn schon?« Sie zuckte leicht mit den Schultern, kicherte, dann breitete sie das Handtuch neben Pals Yogamatte auf dem Boden aus. Sie befanden sich in einem Winkel zum Wohnzimmerfenster und blickten in die Richtung, in die Pal zuvor gedeutet hatte.
Beide standen stocksteif da und hielten die Hände mit den Handflächen nach außen ein Stück hinter ihre Schultern, während Mostar »Allahu akbar« sang.
Ich werde nicht versuchen, im Detail zu beschreiben, was ich sah. Ich weiß, ich würde es nur vermasseln. Ich möchte respektvoll sein, obwohl ich mir sicher bin, dass weder Mostar noch Pal etwas dagegen hätten. Die Schönheit ihres Gebets, die fließenden Ballettbewegungen. Arme erhoben, Köpfe gedreht. Knie gebeugt und wieder durchgestreckt zu Mostars gesungenen Worten. Und dann, mit brüchiger Stimme, der Name:
»Vincent Earnest Boothe.«