19.
KAPITEL
Aus der Klasse der Bauern kommen die tapfersten Männer und die standhaftesten Soldaten …
– Marcus Porcius Cato
14. Tagebucheintrag (Fortsetzung)
Als ich Mostars Haus verließ, ging ich nach rechts statt nach links. Ich hatte noch ein paar Minuten, bis ich bei Reinhardt sein musste, und wollte diese Zeit im Garten verbringen. Nicht, dass es viel zu tun gegeben hätte. Ich dachte, ich würde die Tröpfchenbewässerung einschalten und vielleicht duschen und mich umziehen, während sie lief.
Ich öffnete die Haustür, dann das Garagentor und schnappte nach Luft.
Sprossen!
In der Nähe meiner Füße ragte ein winziger grüner Bogen hervor, die Erde darum herum kraftvoll hochgeschoben, genau an der Stelle, an der ich die erste große weiße Bohne gepflanzt hatte!
»Pal!«, rief ich, dann streckte ich den Kopf zur Haustür hinaus und schrie: »Palomino! Der Garten sprießt!«
Ich bückte mich, um das kleine, umgekehrte U
zu begutachten. Es war weißlich, einen Zentimeter hoch, und als ich näher hinsah,
erkannte ich unter einem Ende die Spitze der Bohne.
Die Stelle neben diesem Bogen sah aus, als würde sie sich ein wenig wölben, also sprenkelte ich mit Bobbis Teekanne ein paar Tropfen darauf. Zweifellos der erste Hinweis auf einen weiteren Bogen, wie sich zeigte, als die Erde abfiel. Ich versuchte es auch beim nächsten und beim übernächsten. Unzählige U
s, die sich abmühten, sich aus der Erde zu befreien.
Und sie waren nicht die Einzigen!
Der ganze Garten! Jeder Quadratzentimeter!
»Oh mein Gott!«, sagte Carmen, die gerade mit Pal hereingekommen war. »Haben Sie die alle angepflanzt?«
»Nur die hier«, entgegnete ich und verwies auf die markierten Bohnen. Ironischerweise kam dort, wo ich die Zuckererbsen und Süßkartoffeln gepflanzt hatte, nichts zum Vorschein. Oder vielleicht kamen sie einfach noch
nicht zum Vorschein! Und eigentlich war es auch egal, denn ihre Saatbeete waren von mysteriösen kleinen Trieben umgeben. Sie waren überall, diese Triebe, willkürlich über den gesamten Garten verteilt.
»Was ist das denn alles?«, fragte Carmen, als Pal die Triebe auf Händen und Knien untersuchte.
»Keine Ahnung«, entgegnete ich. »Ich weiß nicht einmal, woher sie kommen.«
»Vielleicht waren sie in der Erde, die wir hereingebracht haben?«, mutmaßte Mostar, die gerade zu uns gestoßen war.
»Vielleicht«, sagte ich ein wenig enttäuscht. Wenn sie alle nur wildes Unkraut waren …
»Kompost?« Das war Dan. Langsam kam eine echte Party in Gang. »Der Kompost, den wir daruntergemischt haben, das ältere Zeug am Boden der Behälter, das sich schon in Erde verwandelt hatte … könnten da noch alte Samen drin gewesen sein von …«
»Gurkenscheiben«, überlegte Mostar, die neben Pal in die Hocke gegangen war. Gemeinsam untersuchten sie einen kleinen wilden Spross mit rundlichen grünen Blättern. »Und Tomaten?« Sie zeigte auf eine sieben bis acht Zentimeter lange Faser mit zwei winzigen schmalen Blättern. »Das hier vielleicht. Wie oft schneidet man zerschrammte Teile ab?«
»Ich mache das ständig!«, sagte Carmen mit mehr Energie und
Enthusiasmus, als ich jemals bei ihr gesehen hatte. »Die übrig gebliebenen Scheiben von irgendwas oder herausgeschnittene Kerne. Und Salsa!« Letzteres war an Pal gerichtet. »Wenn wir Taco-Abend machen! Die Reste der selbstgemachten Salsa wandern direkt in die Tonne!«
Unsere eigenen Tomaten! Selbst jetzt denke ich noch ständig darüber nach, wie gut sie schmecken könnten.
Mostar sah Pal an, die sanft mit den Fingerspitzen über den fragilen Tomatenstängel strich. »Weißt du, wir haben noch jede Menge von dem älteren, Erde-artigen Kompost. Der enthält bestimmt noch mehr Samen.«
»Und Reis.« Ich zeigte auf die kleine, dreißig mal dreißig Zentimeter große Stelle, auf die ich Bobbis braunen Reis gestreut hatte. Jetzt befand sich dort ein fester Grasfleck.
»Reis!« Mostar strahlte mich an. Ich erklärte, woher ich ihn hatte und wie viel davon Bobbi meiner Meinung nach noch hatte. Mostars Lippen rundeten sich zu einem engen O
. »Davon können wir leben, Reis und Bohnen.« Sie sah Carmen an. »Haben Sie noch mehr von diesen Bohnensäckchen herumliegen?«
»Gut möglich.« Carmen blickte zu Pal. »Und vielleicht ein paar zusätzliche lose Bohnen, die wir nicht verwendet haben. Vielleicht in der Kunsthandwerkskiste?«
Pal nickte begeistert.
»Dann wäre es das wert …« Mostar erwiderte das Nicken. »Es wäre die Kalorien wert, weitere Gärten anzulegen.«
»Weitere Gärten!« Dan ging fast an die Decke. »Auf jeden Fall! Noch eine Garage! Vielleicht zwei, Tröpfchenbewässerung, Kompost«, er warf einen Blick auf Palomino, »mehr Würmer und den ganzen Scheiß!«
»Und den ganzen Scheiß?«, fragte Mostar mit hochgezogener Augenbraue.
Dan lachte, seine Wangen gerötet. »Ja, wirklich – die Bio-Faulbehälter!« Und zu mir, mit ausgestreckten Handflächen: »Komm schon, ich verletze mich nicht und werde nicht krank. Versprochen!«
Bevor ich antworten konnte, fragte mich Carmen: »Können wir das?«
Ich war mir nicht sicher, ob sie mich um meine Erlaubnis oder um meine Expertenmeinung bat. Dan, Carmen und Palomino sahen mich alle erwartungsvoll an. Und Mostar lehnte sich mit verschränkten
Armen zurück. Um meine Entscheidung zu beurteilen?
In Gedanken hatte ich bereits im Schnelltempo Berechnungen angestellt und versucht abzuwägen, ob sich das Ganze rechnete. Eine Tasse brauner Reis hat ungefähr zweihundert Kalorien. Eine Tasse Bohnen hat je nach Sorte gleich viel oder mehr. Und Bohnen machen dick! Die meisten enthalten Fett, etwa ein Gramm pro Tasse. Aber auf wie viele Tassen Bohnen und Reis konnten wir hoffen?
»Wir können das«, setzte ich an, streckte jedoch schnell die Hände aus, »aber erst nachdem … nachdem wir mit der Umgrenzung fertig sind. Das Wichtigste zuerst, richtig? Sicherheit, dann Essen. Sobald wir die Pflöcke aufgestellt haben, sobald wir wissen, dass sie funktionieren, widmen wir uns weiteren Gärten.«
»Ja!« Dan ballte die Faust, während Carmen ihre Tochter umarmte.
Hinter ihnen lächelte Mostar und nickte.
Ich fühlte mich drei Meter groß.
Dann machte sie eine Kopfbewegung in Richtung Tür und tippte auf ihr Handgelenk wie auf eine altmodische Armbanduhr.
Reinhardt! Meine Schicht!
Ich rannte zu Reinhardts Haus hinüber und sah durchs Fenster, dass Effie auf dem Stuhl neben seiner Couch las. Sie bemerkte mich, lächelte und stand auf, um mich im Flur zu empfangen. Ich sah, dass Reinhardt schlief, und sie sagte, er hätte den größten Teil des Vormittags geschlafen.
Ich versuchte, mich für meine Verspätung zu entschuldigen, und beschrieb, was im Garten passiert war. Ihre Miene hellte sich auf, der Grund dafür war aber nicht der, den man erwartet hätte. »Danke«, sagte sie, »danke für alles, was Sie mit Palomino machen. Sie braucht eine Aufgabe, eine Routine.« Sie schaute zu ihrem Haus hinüber, wo ihre Frau und ihre Tochter aus dem Fenster winkten. »Und jetzt«, ihre Augen suchten den Kamm ab, »muss sie sich auf etwas Positives konzentrieren. Das müssen wir alle.« Weiteres Winken von ihrer Familie und ein letztes Dankeschön, bevor sie nach Hause ging.
Mir schossen unzählige Gedanken durch den Kopf. Wie viele Gärten können wir anlegen? Und was ist mit diesem? Wie geht es weiter? Wie viel Wärme brauchen die kleinen Pflanzen? Dan hatte recht damit gehabt, das Dach zu reinigen. Wir brauchen jedes Kilowatt, um die Garage auf Sommertemperaturen zu halten. Und was ist mit
Sonnenlicht? Glückslampen? Jeder von uns besitzt eine. Genügt das? Zumindest sind die Wände weiß. Reflektierend. Aluminiumfolie? Das Hydrokulturgeschäft in Venice. Eine Pflanze in einer reflektierenden Schachtel? Und Dünger. Können wir wirklich unseren eigenen Kot benutzen? Ist das nicht gefährlich für Dan? Ist es das wert? Das Haus zu verpesten?
So viele Fragen, während ich hier sitze und alles aufschreibe. Mein Gehirn ist benebelt. Ich sollte ein Nickerchen machen. Reinhardt schläft immer noch. Aber seine Bibliothek. Unzählige Bücher. Irgendetwas Nützliches muss doch dabei sein.
Fehlanzeige. Ich habe nichts gefunden. Nicht ein praktischer Text, und glauben Sie mir, ich habe genau nachgesehen! Viele Philosophen. Descartes, Voltaire, Sartre und Regale voller Historiker wie Gibbon, Keegan und Tacitus. Auch schöne Romane, ledergebundene Erstausgaben mit goldfarben gedruckten Namen wie Proust, Zola und Molière.
Und natürlich sind auch seine
Bücher da. Halfway to Marx
, Walking with Xu Xing
und das berühmte Rousseau’s Children
in mindestens einem Dutzend Sprachen: Französisch, Italienisch, Griechisch, Chinesisch. (Oder Japanisch, ich bin mir nicht sicher. Koreanisch kann es nicht sein, weil ich keine kleinen Kreise gesehen habe.) Mir fiel auf, dass viele von Rousseaus eigenen Werken mit verschiedenen Ausgaben von Reinhardts Buch vermischt waren, als wären sie Freunde, die zur selben Zeit veröffentlicht worden waren.
Irgendwann dachte ich, ich würde fündig werden, als ich bei den größeren Bildbänden auf den Titel Vanishing Cultures of Southern Africa
stieß. Ich dachte, ich könnte zumindest den Fotos einige hilfreiche Tipps entnehmen. Ich konnte es nicht. Es stellte sich heraus, dass es sich nur um »Pornografie für Weiße« handelte. Viele üppige Frauen, die oben ohne oder völlig nackt bei verschiedenen indigenen Zeremonien tanzten. Gut, vielleicht handelt es sich um kulturell korrekte Fotos, und vielleicht projiziere ich darauf zu viele Erinnerungen an mein Seminar »Kolonialismus und männliche Sexualität« an der Penn State, aber Reinhardt ist genau im richtigen Alter, um National Geographic
so gesammelt zu haben, wie spätere Generationen wegen der »Artikel« den Playboy
»lasen«. Außerdem hätte das Bild auf dem Buchrücken über dem Titel ein Fingerzeig sein
sollen. Es zeigte einen perlenbesetzten Stringtanga zwischen den Beinen einer Frau.
In einem Abschnitt, den ich beinahe übersehen hätte, ging es allerdings um eine junge Frau, die während einer Initiationszeremonie etwas trug, das wie die Kreuzung aus einem Schwert und einem Speer aussah. Ich sage »Kreuzung«, weil der Schaft kürzer war, als ich es je bei einem Speer gesehen hatte (nicht einmal einen Meter lang), die Klinge dagegen länger (einen knappen halben Meter). Die Bildunterschrift bezeichnete die Waffe als Iklwa
, was mich veranlasste, zum Index zu blättern und nachzusehen.
Es handelt sich dabei um eine Zulu-Waffe, die von einem Mann namens Shaka erfunden wurde und »die Bantu-Kriegsführung revolutionierte«. Im Gegensatz zu früheren Wurfspeeren, die vom Gegner mit dem Schild abgewehrt werden konnten, war der Iklwa
für den Nahkampf gedacht. Der Kämpfer trat ganz nah an seinen Feind heran, schlug dessen Schild mit seinem eigenen beiseite und stach dann die lange Klinge des kurzen Speers unter die Achsel seines Gegenübers. Daher kommt der Name: von dem saugenden Geräusch, das entstand, wenn der Speer aus dem Herzen und der Lunge des Getöteten gezogen wurde. Iklwa
.
Widerlich, ja, und schrecklich, wenn man sich vorstellt, dass ganze Armeen auf diese Weise kämpfen. Aber ich konnte nicht umhin, fasziniert zu sein von dem Vergleich, den das Buch mit römischen Legionären zieht, die auf ähnliche Weise kämpften. Unterschiedliche Orte, unterschiedliche Epochen, völlig unterschiedliche Kulturen, und doch entwickelten sie ähnliche Waffen und Taktiken. Ist an der Art und Weise, wie wir ticken, womöglich etwas universell Menschliches? Das war mein letzter verschwommener Gedanke, bevor ich schließlich einnickte.
Der bequeme Stuhl, Reinhardts rhythmische Atmung.
Ich wusste nicht, was passiert war, bis sich mein Kopf ruckartig in einen dunklen Himmel erhob und Reinhardt aus dem Badezimmer im Eingangsbereich kam. Die Spülung muss mich geweckt haben. Nach ein paar verwirrten Sekunden bemerkte ich, dass Reinhardt sich an der Wand abstützte. Ich sprang auf, um ihm zu helfen, aber er winkte ab und sagte: »Mir geht’s gut, mir geht’s gut.«
Das war ganz offensichtlich nicht der Fall. Als ich ihn mit Mühe
zurück auf die Couch brachte, sah ich, wie blass seine Lippen waren. Ich fragte ihn, ob er Hunger habe, und er nickte schwach. Ich erinnere mich, dass ich dachte, das müsse ein gutes Zeichen sein. Verliert man nicht den Appetit, wenn man wirklich krank ist?
Viel war nicht da, zumindest was Tiefkühlgerichte anbelangte. Aber ich fand viele »geheime Leckereien«, kleine Päckchen Fruchtgummis und Bonbons, die er gehortet hatte. Sie mussten alle, wie auch das Eis, im Obergeschoss versteckt gewesen sein, als ich herübergekommen war, um seine Essensvorräte zu erfassen. Jetzt waren sie überall in der Küche in Schubladen und Schränken verstaut. Ich konnte tatsächlich ein bisschen mitfühlen, als ich all diese Verstecke entdeckte. Ich hatte früher mehr als nur ein paar Twix Bites vor Mom versteckt.
Schande.
Ich hatte allerdings kein allzu großes Mitleid mit ihm, als ich ihn fragte, ob es irgendetwas Bestimmtes gäbe, was er in seinem Zustand essen oder nicht essen konnte. Als Antwort bekam ich ein dürftiges: »Alles ist okay, nehme ich an.«
Nimmst du an? Solltest du nicht wissen, ob du eine Herzerkrankung hast? Seine Bibliothek ist weiß Gott keine große Hilfe.
Hey, Flaubert, was darf ein Herzinfarktopfer nicht essen?
Ich entschied mich für sein vorletztes Päckchen Instant-Waffel von der Sorte, die man aus einer Tasse isst. Einfach Wasser hinzufügen, umrühren und in die Mikrowelle stellen. Ich hielt mich davon ab, die Fenster reflexartig zu überprüfen, und bemerkte, dass nirgends Küchenmesser zu sehen waren. Der Mann hatte vermutlich noch nie in seinem Leben selbst etwas gekocht.
Erstaunlich, wie schnell sich die Wahrnehmung eines Raumes ändern kann. Wenn ich vor zwei Wochen in Reinhardts Küche eingeladen worden wäre, hätte mich wahrscheinlich nur die Ausstattung (oder der Mangel daran) interessiert. Als ich dann vor ein paar Tagen mit Dan hereingekommen war, hatte ich mein Augenmerk ausschließlich darauf gerichtet, was es zu essen gab. Jetzt war mein einziger Gedanke, was ich benutzen könnte, um mich zu verteidigen. Gleicher Raum, unterschiedliche Prioritäten.
Die Mikrowelle zwitscherte, und ich steckte einen Löffel in das aufgegangene, Muffin-artig aussehende Ding. Reinhardt hatte sich aufgesetzt und schluckte mit offensichtlicher Vorfreude. »Kein
Zucker?« Ich sagte ihm, dass es so aussah, als würde es schon genug Zucker enthalten, doch sein »Ach, kommen Sie schon«-Achselzucken ließ mich noch einmal in die Küche gehen. »Und noch etwas Salz …«, hörte ich ihn aus dem Wohnzimmer rufen (dem Klang nach mit vollem Mund). Dann, nachdem er wahrscheinlich seinen Ton bemerkt hatte, fügte er hinzu: »Bitte!«
Ich nahm den Salzstreuer von der Arbeitsplatte, holte die Schachtel mit dem weißen Zucker aus der Speisekammer und ging zurück, um festzustellen, dass er praktisch fertig war.
Der weltberühmte Wissenschaftler sah mich an wie ein zehnjähriger Junge. »Ich konnte es nicht erwarten.«
Irgendetwas rasselte. Ich sprang auf und wirbelte herum. Meine Augen wanderten zur Quelle des Geräuschs. Es war die Küchentür, in deren Rahmen die zerbrochene Glasscheibe klapperte.
Reinhardt sagte: »Das ist in letzter Zeit so. Der Wind.«
Ich entschuldigte mich, sagte ihm, dass Dan es sich gerne anschauen würde, und spürte, wie sich mein Körper entspannte. Dann rutschte mir ein Gähnen heraus, lang und laut, und ich hielt mir verlegen die Hand vor den Mund. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass Reinhardt mich mit einem Ausdruck ansah, den ich von ihm nicht kannte, mit einem freundlichen, fast väterlichen Lächeln.
Er sagte: »Mir tut es leid. Ich hätte Sie nicht hierbehalten sollen, damit Sie auf mich aufpassen. Sie sollten nach Hause und ins Bett.«
Ich sagte ihm, dass es mir gut gehe, worauf er antwortete: »Papperlapapp«, und fragte, wie viele Stunden ich in den letzten zwei Tagen geschlafen hätte.
Ich gab ein paar Nickerchen zu.
»Aha!« Ein winziges Blinzeln, ein Wackeln mit dem Finger und eine theatralische Handbewegung Richtung Tür.
»Soll ich die Alarmanlage einschalten?« Dann, als mir all die kaputten Fenster einfielen, sagte ich: »Wenigstens die Innensensoren? Vielleicht nur in der Küche?«
»Was ist, wenn ich einen Mitternachtssnack brauche?« Er tätschelte leicht seinen Bauch. »Glauben Sie, ich weiß, wie man diesen Höllenapparat entschärft?«
»Aber Sie schaffen es nicht bis in die Küche«, protestierte ich. »Wenn Ihnen schwindlig wird und Sie hinfallen und sich den Kopf anschlagen
…«
»Gehen Sie, gehen Sie. Ich denke, es war ein …« Er zögerte, bevor er sagte: »Die Nerven … Ich hatte immer … als ich jung war … solche Anfälle … Ich hätte gestern Abend offener sein sollen.« Er blickte finster auf den Fußboden. »Sie sind ein grausamer Witz, diese prägenden Jahre, in denen das Gehirn die Regeln des Universums lernt. Seine Kindheit verbringt man damit, dass man großgezogen, beschützt und bedingungslos geliebt wird, während man das Erwachsenenalter damit verbringt, vergeblich nach Ersatz zu suchen. Partner, Regierung, Gott …« Er sah mich plötzlich verlegen und wütend an. »Entschuldigung.« Er wedelte mit der Hand, als wären seine Worte ein schlechter Geruch. »Intellektueller Feigling.«
Ich hatte solches Mitleid mit ihm. Die ganze aufgeblasene Fassade war weggebröckelt, und er war nur noch ein verlegener alter Mann, der seine Schwächen eingestand.
Mir fiel nichts anderes ein, als zu sagen: »Ist doch in Ordnung, ich meine, wer möchte nicht, dass andere sich um einen kümmern, wenn man es mit der Angst zu tun bekommt?«
Er wiederholte »um einen kümmern« und kniff mit einem langen, feuchten Schniefen fest die Augen zu.
Plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich ihn fragte: »Möchten Sie bei uns übernachten, nur für den Fall, dass es keine Panikattacke ist? Wenn Sie mitten in der Nacht etwas brauchen?«
Er hielt inne, ehrlich überrascht, und sagte dann mit einem Lächeln und einer schlagenden Handbewegung: »Hauen Sie jetzt endlich ab?«
»Lassen Sie mich zuerst aufräumen«, entgegnete ich und trug seinen Becher und seinen Löffel in die Küche. Es dauerte nicht lange: Löffel in die Spülmaschine, Einwegbecher in den Müll. Aber als ich zurückkam, hatte er bereits einen Ausflug zum Bücherregal absolviert. Drei kleine, dicke rote Hardcover lagen auf seinem Schoß. Sie waren mir schon aufgefallen, doch ich hatte ihre lateinischen Titel nicht lesen können. »Freunde aus der Kindheit«, sagte er. »Cato, Varro, Columella, ihre Schriften zur Landwirtschaft.« Auf meinen fragenden Blick antwortete er: »Ich habe zugehört, als Sie Effie von den Sprossen erzählt haben. Ich habe nicht wirklich geschlafen.« Er schlug das erste Buch auf, nahm seine Brille vom Tisch und sagte: »Vielleicht finde ich hier drin etwas Nützliches.« Dann fügte er mit einem spöttischen Schnauben hinzu:
»Vielleicht kann ich mich wenigstens einmal nützlich machen.« Und mit einem wirklich bitteren Lachen murmelte er: »Arbeit macht frei.«
Wo habe ich das schon mal gehört?
Ich sagte ihm, er solle nicht zu lange wachbleiben.
Er entgegnete: »Mache ich nicht, mache ich nicht«, und scheuchte mich mit einem Lächeln und einem langen Gähnen davon.
Das war vor ungefähr einer Stunde. Ich sitze jetzt zu Hause in meiner Küche und schreibe das alles auf, bevor ich mich wieder an die Arbeit mache. Dan sitzt im Schneidersitz auf dem Fußboden inmitten eines Bambushaufens. Eigentlich sind es zwei Haufen, ein kleinerer mit fertigen Pflöcken und ein viel größerer, unordentlicherer Haufen auf seinem Schoß. Er schläft übrigens, an den Kühlschrank gelehnt, und schnarcht, halb unter seiner Bambusdecke begraben.
Ich habe überlegt, ob ich ihn wecken soll, damit er nach oben gehen kann, aber ich weiß, dass er dann einfach weiterarbeiten würde. Ich glaube, ich werde mich ein paar Stunden auf die Couch legen und meinen Handywecker auf Mitternacht stellen. Dann stehe ich auf, wecke Dan vielleicht ebenfalls, und wir können gemeinsam bis zum Morgen Pflöcke sägen. Mostar glaubt, dass wir bis morgen Abend genug davon haben werden, um die ganze Siedlung damit umgrenzen zu können.
Und danach?
Ich stehe immer wieder auf, um im Garten nachzusehen, wie es all meinen kleinen Sprossen geht. Sie sind so schön, so verletzlich. Ich muss herausfinden, wie ich sie am besten großziehen kann.
Großziehen?
Wie auch immer, ich bin hundemüde.
Morgen, oder besser gesagt übermorgen, wenn ich mich richtig ausgeschlafen habe, wenn die Umgrenzung fertig ist. Bis dahin hat Reinhardt vielleicht ein paar Tipps in seinen Büchern gefunden. Ich hoffe, es geht ihm gut. Als ich gerade gehen wollte, die Hand auf der Klinke, und ihm den Rücken zukehrte, sagte er: »Gute Nacht, Hannah.«