20. KAPITEL
Gewähre, dass wir uns in Frieden niederlegen, ewiger Gott, und erwecke uns zum Leben.
Beschütze uns mit deinem Zelt des Friedens und leite uns mit deinem guten Rat.
Beschütze uns vor Hass, Seuchen und Zerstörung.
Bewahre uns vor Krieg, Hunger und Angst.
Hilf uns, uns unserer Neigung zum Bösen zu verwehren.
Gott des Friedens, mögen wir uns immer beschützt fühlen, weil du unser Wächter und Helfer bist.
Gewähre uns Zuflucht im Schatten deiner Flügel.
Beschütze unser Hingehen und unser Eintreten und segne uns mit Leben und Frieden.
Gesegnet seiest du, ewiger Gott, dessen Obdach des Friedens über uns, über dein ganzes Volk, Israel, und über Jerusalem verteilt ist.
Haschkiwenu, der zweite Segensspruch
Aus: Goldas Tochter: Mein Leben bei den israelischen Verteidigungsstreitkräften von Lieutenant Colonel Hannah Reinhardt Roth (a. D.)
Intellekt. Nur so konnte man sie erreichen. Emotionen? Leidenschaft? Niemals. Das war Erniedrigung, die Sprache der Tiere. Ich versuchte, ruhig zu bleiben und das Gespräch so ähnlich wie eine akademische Debatte zu führen.
Ich begründete Ägyptens Ausweisung sowjetischer Berater als Strafe für Moskaus Rüstungsmoratorium. Ich beschrieb die Besonderheiten besagter Waffen, von MiG-23-Jagdbombern bis hin zu ballistischen Frog-Mittelstreckenraketen. Mit Sheehans New-York-Times -Artikel als Munition demonstrierte ich, dass sich diese Angriffswaffen nicht von den T-55-Kampfpanzer-Kolonnen unterschieden, die Nasser 1967 gegen Israel losgeschickt hatte.
Vater beharrte erneut darauf, dass Sadat nicht Nasser sei, was – wie ich behauptete – meinen Standpunkt rechtfertigte. Um zu beweisen, dass er kein Klon seines Vorgängers war, musste Sadat seinem Volk, der Arabischen Liga und der ganzen Welt beweisen, dass er erreichen konnte, was Nasser nicht gelungen war: die Juden ins Meer zu treiben. War diese Strategie, die Niederlage mit Sieg zu übermalen, nicht das Motiv für so viele vergangene Kriege? Hatte Nasser nicht versucht, Israel auszulöschen, um sein Debakel im Jemen auszulöschen?
Ich konnte nicht anders, als stolz auf meine Kampagne zu sein. Unterstützende Fakten. Unbestreitbare Logik. Ich konnte den Phantomapplaus von Clausewitz, Mahan und Jomini beinahe hören. Nur Schlieffen hielt sein Lob zurück und gluckste wegen meines entscheidenden Fehlers, einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden.
»Feindseligkeiten sind ausgeschlossen.« Alex wusste immer, wann er zuschlagen musste, genau dann, wenn Vater ihn am dringendsten brauchte. »Dafür werden die Vereinten Nationen sorgen.«
Ich antwortete mit einer Frage: »Welche ›Vereinten‹ Nationen meinst du denn? Die Briten, die immer mehr an Einfluss verlieren? Die antisemitischen Franzosen? Den kommunistischen Block, der seine Befehle vom Kreml entgegennimmt oder von den sogenannten blockfreien Staaten, die Geiseln arabischen Öls sind?«
Ich sah einen anderen Gedanken, der bereit war anzugreifen. Ich brach ihn mit einem Präventivangriff: »Dieselben Vereinten Nationen, die bereitstanden, aber auch nach vierzehn syrischen Sondierungsangriffen nichts unternahmen, und die ihre Friedenstruppen aus dem Sinai abzogen, um den Ägyptern Platz zu machen?«
Alex stotterte: »Aber Amerika …«
Ich hatte gewonnen. Ich wusste es. Amerika? Ich begrub ihn unter Gegenargumenten. Vietnam. Watergate. Die inneren Ablenkungen eines kulturellen Bürgerkriegs. Alex schnaubte und zog sich vor meinem Ansturm zurück. Wenn ich doch nur großmütig im Sieg gewesen wäre und davon Abstand genommen hätte, ihm den Rest zu geben. »Amerika kann uns nicht helfen.«
Nur drei Buchstaben. Ein Wort.
»Uns?« Die wiederauflebenden Flammen loderten in Vaters Augen. »Uns? Hannah, sind wir denn keine Amerikaner?«
»Amerikanische Juden«, konterte ich und formierte mich vor den selbstgefälligen, ruhigen Gesichtern neu. »Haben wir denn nichts aus unserer Vergangenheit gelernt?«
»Hmm.« Vater tat so, als würde er über meinen Standpunkt nachdenken. »Zu lernen ist in der Tat der Schlüssel. Zu lernen, uns selbst zu verstehen.« Seine Hand wanderte theatralisch über das Bücherregal hinter uns. »Biologie, Psychologie …«
»Volkswirtschaftslehre«, fügte Alex hinzu und gewann damit ein zustimmendes Lächeln von unserem Patriarchen.
»Ohne die Wurzeln unseres Wunsches nach Konflikten ans Licht zu bringen«, sagte Vater, »sind wir nicht besser als Ärzte vor Pasteur, die zwar die Existenz von Mikroben anerkannten, sie jedoch nicht mit Krankheit in Verbindung brachten.«
Poetisch, dramatisch und direkt den Seiten seines letzten Buches entnommen. Seine Augen hatten sich sogar von meinen auf das heilige Vorabexemplar seines neuesten Wälzers im Regal verlagert. Jungs Hiroshima: Eine Untersuchung der Psychose des Krieges .
»Es gibt nichts Edleres, als für eine friedliche Zukunft zu arbeiten«, sagte ich, da ich an seine Eitelkeit appellieren wollte, »aber es wird keine Zukunft geben, wenn wir die Gegenwart nicht sichern.« Ich öffnete das Fenster, und die Geräusche und Gerüche der Upper East Side strömten wie ein freigelassener Dschinn herein. »Und in dieser Gegenwart machen die Armeen einer ganzen Region mobil, um uns von der Landkarte zu fegen.«
Alex stieß ein leises, amüsiertes Kichern aus. »Du sagst also, wir sollten unsere Bücher verbrennen und uns einfach wie Höhlenbewohner mit Keulen durchs Leben schlagen?«
»Ich sage«, schoss ich zurück, »dass es Selbstmord ist, am Morgen nach der Kristallnacht Zeit damit zu verschwenden, den Versailler Vertrag zu dekonstruieren!«
Vater, der immer noch saß, verzog die Lippen zu einem unerträglichen Siegerlächeln. »Ah«, sagte er und fuchtelte mit seinem wütend machenden Finger Richtung Himmel. »Und jetzt kommen wir zum letzten Bergfried in deiner bröckelnden Festung. Hätten wir kämpfen sollen?«
Es war ein altes Argument, so abgenutzt und bequem wie der alte Lederthron, auf dem er saß. Hätten wir kämpfen sollen? Das erste Mal, als ich nach den schwarz-weißen Gesichtern auf unserem Kaminsims gefragt hatte, war ich sechs Jahre alt gewesen. Wer waren sie? Wo liegt Straßburg? Warum sind sie gestorben? Warum sind sie nicht mit dir weggegangen? Und mit der letzten Frage: »Warum haben sie sich nicht gewehrt?«, kam die unvermeidliche Abweisung.
»Weil es nichts geändert hätte.«
Dieselben Bilder starrten jetzt auf uns herab, die lächelnden, unschuldigen Totenmasken.
»Auge um Auge«, fuhr mein Vater fort, »und die ganze Welt wird blind.«
Ich parierte sein Gandhi-Zitat mit einem anderen Sprichwort aus Britisch-Indien: »Wenn die Inder alle gleichzeitig pissen würden, würde es die Briten ins Meer hinausspülen.«
»Lehnst du Gewaltverzicht ab?«, fragte Alex kopfschüttelnd. »Leugnest du tatsächlich die Fortschritte, die Dr. King in diesem Land herbeigeführt hat?«
»Leugnest du, dass Kings Einfluss auf der Angst vor Malcolm X beruhte?« Als ich eine Lücke erahnte, versuchte ich, die Belagerung zu durchbrechen. »Eine offene Hand funktioniert dann, wenn die Alternative eine Faust ist.«
Alex zitierte Einstein: »Der Krieg kann nur auf eine einzige Weise verhindert werden: durch die Weigerung der Menschen, in den Krieg zu gehen.«
»Sagte der Mann, der vor dem Ofen in Dachau floh.«
»So eine Fanatikerin«, stöhnte mein Vater, und die Worte trieften vor Enttäuschung. »Du behauptest, du würdest unser traditionelles Heimatland verteidigen, aber deine Verteidigungsstrategie ist genau wie die, die dieses Land überhaupt erst hat verloren gehen lassen.«
Ich spürte meine Wangen erröten, hörte meine Stimme anschwellen. »Ich sage nicht, dass Krieg gut ist! Und ich sage nicht, dass es richtig ist, um die Welt zu ziehen und Menschen anzugreifen. Ist es nicht! Es ist immer ein letzter Ausweg! Wenn es eine andere Möglichkeit gibt, Probleme zu lösen, eine Möglichkeit, Blutvergießen zu vermeiden … Aber wenn sie kommen, um dich zu holen, wenn du weißt, dass sie kommen, wenn sie nicht hören wollen und es sogar zu spät ist, um wegzurennen, musst du dich verteidigen. Du musst kämpfen!«
Ich hatte genau das getan, was ich unbedingt vermeiden wollte. Ich hatte meinem Herzen erlaubt, das Kommando zu übernehmen.
»Oh, Hannah.« Alex gluckste siegesbewusst durch die Nase, streckte mitfühlend die Hände aus. »Hannah, Hannah.«
Nur mein Bruder brachte mich dazu, den Klang meines Namens zu hassen. Hannah, du bist so ein Kind. Hannah, sei nicht so hysterisch. Hannah, wenn du dir doch nur von mir dabei helfen lassen würdest, mir ähnlicher zu werden, würde Papa dich vielleicht genauso lieben, wie er mich liebt.
»Du intellektueller Feigling!«, zischte ich. »Ihr beide! Versteckt euch hinter Büchern und Zitaten und lasst euch von anderen beschützen! Aber was werdet ihr tun, wenn der Knobelbecher der Realität eure Tür eintritt?«
Ich drohte Vater mit der Faust und dann den Geistern auf dem Kaminsims; all diese Leben sind jetzt auf Haufen von Schuhen, Brillen, Goldfüllungen und Asche reduziert.
»Was habt ihr für sie getan?«, schrie ich mein erstarrtes Publikum an. »Als keine Briefe mehr kamen, als sich eure ganze Klasse verpflichtete. Wo wart ihr da?« Ich beugte mich über meinen Vater und richtete meinen Blick auf das passive, kühle, völlig unempfängliche Gehirn. Weil er inzwischen nur noch daraus bestand; kein Herz, keine Seele, nichts als leidenschaftslose graue Zellen. »Du bist geblieben. Du hast dich versteckt. Du hast nichts geändert.« Mir war nicht bewusst, dass ich weinte, bis ich einen Tränenfleck auf seinem Hemd sah. »Du hast es nicht einmal versucht.« Mit getrübter Sicht sagte ich stotternd zu Alex: »Und du wirst es auch nicht tun. Wenn sie kommen, um dich zu holen, wirst du dich nicht wehren.« Über meine Schulter sagte ich: »Du wirst einfach daliegen und sterben.«
Als ich an der Küche vorbeikam, hörte ich, wie Mutter das Geschirr wegstellte. Ich konnte sie nicht dafür verurteilen, dass sie mir nicht zu Hilfe gekommen war. Das hatte sie nie getan. Sie wusste nicht, dass sie es konnte. Inmitten des Porzellangeklappers und des dumpfen Klopfens von Schranktüren konnte ich sie vor sich hin murmeln hören. Weich und stetig mit der sich wiederholenden Musikalität des Gebets. Als sich die Tür hinter mir schloss, schnappte ich die letzten Zeilen des Haschkiwenu auf.
15. Tagebucheintrag
13. Oktober
Ich habe gerade alle meine vorherigen Einträge durchgelesen. Ich erkenne nicht, wer sie geschrieben hat. Ein Leben, das von einer Fremden gelebt wurde. Jemand, an den ich mich kaum erinnern kann.
Wenn Zeitreisen doch so einfach wären wie Umblättern. Dann könnte ich einfach ein paar Tage zurückblättern und die Person warnen, die ich früher war.
An jenem Morgen, dem 12. Oktober, weckte mich das Handy um sieben, Stunden später als geplant. Dan sagte mir, er habe mein Telefon zurückgesetzt, nachdem er gegen Mitternacht aufgewacht war. Er hielt Schlaf für wichtiger, als dass ich ihm bei den Pflöcken half. Ich bemerkte, dass er noch ein paar fertigstellen musste, doch er lächelte nur und sagte: »Warum siehst du nicht nach dem Garten?«
Er hatte es bereits getan, hatte gesehen, was passiert war, wusste, wie glücklich es mich machen würde.
Es fühlte sich an wie Weihnachten. Noch mehr blasse Bögen ragen aus der Erde. Die stärksten Setzlinge vom Vortag hatten es geschafft, ihre gesamte Bohne in die Luft zu heben. Ich sah die Anfänge winziger grüner Blätter, die aus dem Spalt wuchsen. Noch mehr kleine Triebe, Freiwillige aus dem Kompost. Das Reisgras war um mindestens einen Zentimeter höher. Alles in einer Nacht!
»Du musst sie stützen«, rief Dan aus der Küche. »Ich meine, wenn sie größer werden. Macht man das bei Pflanzen nicht so, dass man sie an irgendwas festbindet, an Tomatenkäfige? Oder Körbe? Wie nennt man die?« Er stand jetzt hinter mir, die Hand am Türrahmen, und lächelte mich an. »Wir haben immer noch eine ganze Tonne mit kleinen, dünnen Bambuszweigen. Sobald wir Zeit haben, irgendwann mal, kann ich dir helfen, solche Käfige oder was auch immer aus ihnen zu bauen.«
Seine um mich geschlungenen Arme, sein Abschiedskuss. Auf zur Arbeit, Kokosnussstecher an der Hüfte, Speer in der einen Hand und Brotmesser in der anderen. Im Gemeinschaftshaus war fast kein Bambus mehr. Noch ungefähr ein Dutzend Stangen. Es würde nicht mehr lange dauern, und als er auf die Zufahrt trat, war vom Kamm nichts zu sehen und zu hören. Trotzdem konnte ich nicht anders, als »Sei vorsichtig« zu sagen, und bekam eine grunzende, Höhlenmenschen-Speer-an-die-Brust-Antwort. Ich erwiderte seinen Gruß mit meinem eigenen, einem erhobenen Mittelfinger und den lautlos geformten Worten: »Ich liebe dich.«
Ich blieb in der offenen Tür stehen, fröstelte in der eiskalten Luft und sah ihn an Effie und Palomino vorbeigehen, die auf dem Weg zu Reinhardt waren. Sie war an der Reihe, mich abzulösen, und trotz ihres freundlichen Winkens machte ich mir plötzlich Sorgen, dass sie womöglich dachte, ich hätte ihn sitzen lassen. Natürlich tat sie das nicht, und natürlich musste ich nicht zu ihr laufen und ihr erklären, dass er mich hinausgeworfen hatte. Aber ich tat es trotzdem und war letzten Endes dankbar für die Plauderei. Sie hatte gute Neuigkeiten. Endlich ein paar positive Nachrichten aus dem Autoradio der Boothes.
Sie sagte mir, sie hätten den verrückten Schützen auf der I-90 geschnappt. Die Straße war jetzt wieder offen, Vorräte rein, Evakuierte raus. Die Kanadier waren wie bei Katrina ebenfalls unterwegs. Der Präsident hatte endlich seinen Stolz überwunden (das dachte Carmen) und ausländische Hilfsmaßnahmen von Norden her zugelassen. Und da Seattle »gesichert« war (ich nehme an, das bedeutet, keine Unruhen mehr), konnten sich die Behörden auf die von Mount Rainier beschädigten Städte konzentrieren.
Effie sagte: »Das bedeutet, dass sie uns bald finden werden.« Sie rieb ihrer Tochter kräftig den Rücken. »Wenn sie wieder ausschwärmen, um nach Überlebenden zu suchen, müssen sie auf uns stoßen!« Ich hatte sie noch nie so lebhaft gesehen. »Vielleicht sollten wir ein ›Hilfe‹-Schild aufstellen. Wie sie es immer nach Unwettern machen, wissen Sie? Auf Dächern und so? Ich kann nicht glauben, dass uns das bis jetzt noch nicht in den Sinn gekommen ist! Vielleicht könnten wir ein Bettlaken nehmen«, sie zeigte auf den grasbewachsenen »Hubschrauberlandeplatz« vor dem Gemeinschaftshaus, »oder es einfach mit denen da schreiben.« Sie deutete mit einem Nicken auf die verstreuten Felsbrocken zu unseren Füßen.
»Gute Idee«, erwiderte ich, milderte es allerdings ab mit: »Sobald wir sicher sind, dass wir fertig sind mit …«
»Oh ja!«, fiel sie mir ins Wort. »Die ›Eingrenzung‹, natürlich! Auf jeden Fall.«
Ich sah, wie die Realität ihren Eifer langsam trübte und sie an das erinnerte, was uns noch bevorstand. »Vielleicht morgen«, sagte sie.
Ich antwortete: »Vielleicht«, dann blickte ich zu Pal hinunter und fragte sie: »Aber bist du bis dahin noch bereit, im Garten zu arbeiten?«
Sie nickte begeistert, und ihre Mutter machte sich auf den Weg zu Reinhardt.
»Es ist wunderschön«, sagte ich und führte sie hinein. »Wenn wir endlich Zeit haben, können wir anfangen, Alufolie an die Wände zu hängen.« Wieder nickte sie glücklich, während sie bei jeder kleinen Pflanze stehen blieb, um sie zu begutachten. »Und wir sollten uns überlegen, ob wir sie stützen«, fuhr ich fort. »Dan hatte eine gute Idee, wie man den übrig gebliebenen Bambus verwenden könnte, um …«
Ein gedämpfter Schrei.
Entfernt, aus Reinhardts Haus.
Wir eilten gerade rechtzeitig nach draußen, um Effie zur Haustür herausstolpern zu sehen. Ich sagte Pal, sie solle nach Hause gehen und Carmen suchen, und rannte los, um Effie aufzufangen, bevor sie zusammenbrach.
Die Augen weit aufgerissen, Stimme und Körper zitternd. Noch bevor ich bei ihr ankam, dachte ich: Noch ein Herzinfarkt. Der erste war echt gewesen, und er hatte letzte Nacht noch einen! Effie sagte nichts, sie war dazu nicht in der Lage. Sie hyperventilierte, versuchte, die Worte herauszubringen, und winkte mich verzweifelt ins Haus. Als ich an ihr vorbei ins Wohnzimmer stürmte, hatte ich mir schon vorgestellt, wie er aussehen musste, kalt und blau auf der Couch liegend. Bitte, lass seine Augen nicht offen sein.
Als Erstes bemerkte ich die Blutspuren. Zwei davon, schmal und breit, die parallel zueinander vom Loch in der Hintertür zur leeren, rot getränkten Couch führten. Ich fühlte Dans Arm um meine Schultern. Ich konnte nicht wegsehen. Ich konnte nicht aufhören, mir vorzustellen, was passiert sein musste, während ich friedlich zu Hause geschlafen hatte.
Sie waren ganz leise gewesen, hatten gegen die zerbrochene Scheibe der Küchentür gedrückt, sie getestet und auf ein Geräusch gewartet, das sie zum Weglaufen bringen würde. Geduldig, bedächtig. Sie hatten die zersplitterte Scheibe gerade weit genug aus ihrem Rahmen gedrückt, um einen langen Arm hindurchschieben zu können. Hatten am Schloss herumgefummelt und das einfache Rätsel des kleinen Metallhebels gelöst. Hatten den Rahmen aufgeschoben, die Vorhänge zurückgezogen, den Tisch weggeschoben. Hatten all das mit solcher Geschicklichkeit und Konzentration bewerkstelligt, dass er nicht aufgewacht war. Nur einer war hereingekommen, das erkannte ich an den blutigen Fußabdrücken. Einer von den Kleineren vielleicht? Prinzessin oder das jüngere, kaum geschlechtsreife Männchen? War das eine Reifeprüfung gewesen? Ein Test, ob er die Schläue, die Intelligenz und die Kraft besaß, um Reinhardt den Kopf abzureißen?
Denn genau das hatte er getan. Gedreht, gezogen. Der dunkelste, tiefste Fleck befand sich im unteren Bereich seines Kissens. Und Reinhardt hatte sich nicht gewehrt. Nichts war durcheinander. Sogar seine Bücher lagen ordentlich gestapelt auf dem Couchtisch neben seiner Brille. Wahrscheinlich hatte er eine Weile darin gelesen und dann festgestellt, dass er zu müde war, um sich zu konzentrieren. Hatte sie beiseitegelegt, die Lampe ausgeschaltet und die Decke bis zum Hals hochgezogen. Vermutlich hatte er ihn nicht gehört, bis er vor ihm stand. Ist er aufgewacht? Fell, das sein Gesicht streifte, raue Haut auf seinem Mund? Gott, ich hoffe, er ist nicht aufgewacht. Bitte, Gott, habe ihn alles verschlafen lassen.
Und doch, warum geht mir die Alternative immer wieder durch den Kopf? Die Geschichte, wie er aufwacht und sieht, dass dieser schwarze Koloss sich vor ihm auftürmt. Stechende Augen, warmer Atem, Finger, die sich um seinen Hals schließen. Warum stelle ich mir immer wieder vor, dass er sich entschied, sich nicht zu wehren? Als diese Finger seine Luftröhre zerquetschten, während eine andere Hand ihn niederdrückte. Kein Treten, kein Kratzen. Kein Versuch, sein Leben zu retten. Warum stelle ich mir vor, dass seine wenigen Sekunden Wachbewusstsein in verängstigter Resignation erstarrt waren?
Es muss an den Blutspuren liegen. An dem Raum zwischen den beiden riesigen Füßen. So knapp hintereinander. Ich habe sie laufen sehen, ihre Schrittweite hätte nur zwei Abdrücke zwischen Couch und Küche hinterlassen. Diese waren zu nah aneinander, zu zahlreich und mit viel zu viel Blut vermischt. Die parallelen Spuren, die breitere vom Körper, die schmalere vom Kopf. Reinhardts Kopf hatte an die Wände und auf den Fußboden gespritzt, als hätte der Killer, der ihn am Mund hielt, ihn hin und her schwingen lassen. Gelassen. Furchtlos.
Warum auch nicht? Warum uns fürchten, wenn man so leicht bei uns eindringen kann, wenn wir nicht einmal versuchen, uns zu wehren?