Wie fast jeden Tag kam Flottmann später ins Büro als Hilgersen.
»Mahlzeit«, empfing dieser ihn.
»Hast du schon Hunger?« Flottmann ließ seine Tasche auf den Boden fallen, setzte sich und schaltete den Computer ein.
»Ich war heute Morgen schon am Tatort.«
»Draußen im Watt?«
»Nee, am Teich.«
»An welchem Teich?«
»Na, da, wo das Wasser verschwunden ist.«
»Ach so. Und? Hast du neue Erkenntnisse?«
»Nein.«
»Dann hättest du ja auch nicht so früh aufstehen müssen.«
»Klookschieter!« Hilgersen wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.
Flottmann rief seine E-Mails ab. Diana Keller hatte die Liste mit ihren Kunden geschickt, soweit sie die aus dem Gedächtnis rekonstruieren konnte. Für etwa die Hälfte auf der Liste hatte sie nur die Vornamen angegeben. Nur zwei davon enthielten eine vollständige Adresse.
»Der Bürgermeister macht Druck«, unterbrach ihn Hilgersen.
»Wer?«
»Schröder.«
»Wer ist Schröder?«
»Na, der Bürgermeister von der Gemeinde mit dem Löschteich.«
»Wer braucht denn heutzutage noch einen Löschteich?«
»Darum geht es doch gar nicht. So ein unerklärliches Ereignis auf dem Dorf verunsichert die Bürger. Und wir sind für deren Sorgen verantwortlich.«
Flottmann schüttelte den Kopf. »Sag mal, hast du eigentlich keine anderen Probleme? Wir haben den Mordversuch an der Astrologin aufzuklären.«
»Das eine schließt das andere ja nicht aus. Ich bin es gewohnt, mehrere Fälle gleichzeitig zu bearbeiten. Multitasking nennt man das. Ich hab mich ein wenig mit Astrologie beschäftigt. Wusstest du, dass es früher gar keine Trennung zwischen Astronomie und Astrologie gab?«
»Ja, das wusste ich.«
»Die Babylonier haben die Astrologie erfunden. Sie kannten damals nur die fünf mit bloßem Auge sichtbaren Planeten.« Hilgersen schaute auf seinen Zettel. »Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Sonne und Mond kannten sie natürlich auch. In den Bewegungen der Himmelskörper sahen sie göttliche Zeichen und richteten ihre politischen Entscheidungen danach aus.«
»Manchmal kommt es mir so vor, als täten unsere Politiker das immer noch.«
»So um 500 vor Christus entstand dann die heutige Astrologie. Die Griechen haben die Methode verfeinert. Sie glaubten, dass die Götter unser Leben lenken und dass man jedes Einzelschicksal an den Sternen ablesen kann.« Hilgersen blickte erneut auf seinen Spickzettel. »Erst mit Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei und Johannes Kepler trat die Sterndeutung in den Hintergrund. Aber sie ist natürlich inzwischen wieder aktuell.«
»Mit dem Aufkommen der Esoterik und dem ganzen Schwachsinn.«
»Du solltest deine Vorurteile beiseitelegen. Die sind nicht gut für die Ermittlungen in unserem Fall.«
»Pah! Wieso ist die Keller überhaupt in die Falle getappt? Hat sie die Gefahr nicht anhand der Planetenkonstellation vorhersehen können?«
»Das ist genau das, was ich meine. Du bist befangen. Das ist ganz, ganz schlecht. Übrigens haben sich viele berühmte Leute nach den Sternen gerichtet. Der US-Präsident Ronald Reagan hat zum Beispiel keine wichtige Entscheidung getroffen, ohne vorher seine astrologische Beraterin zu fragen. Sie hat nach eigenen Angaben zur Beendigung des Kalten Kriegs beigetragen. Und der französische Präsident François Mitterrand ließ sich von der bekannten Astrologin Elizabeth Teissier beraten.«
»Okay. Das ist jetzt ein echtes Argument für die Sterndeuterei.«
Hilgersen murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Natürlich hatte er die Ironie in Flottmanns Worten verstanden.
»Erinnerst du dich an unsere Horoskope, die Maltes Lebensgefährtin für uns erstellt hat?«, fragte Flottmann.
»Ungerne.«
Es war nicht das erste Mal, dass Flottmann Hilgersens wunden Punkt ansprach. Malte Schubert, von den Kollegen auch Knoblauch-Malte genannt, hatte beiden durch seine Freundin ein persönliches Horoskop erstellen lassen. Hilgersen war begeistert gewesen. Alles hatte wunderbar gepasst, und seine Zukunftsaussichten waren rosig gewesen. Später hatte Flottmann ihm gebeichtet, dass er die Horoskope vertauscht hatte. In manchen Angelegenheiten konnte Hilgersen nachtragend sein. Die Horoskopsache war so eine.
»Okay, lassen wir das. Aber ich glaube, Malte wäre der richtige Mann, um die Kundenliste abzuarbeiten.«
Flottmann griff zum Telefon und rief den Kollegen an. Tatsächlich zeigte sich Malte begeistert, bei einem so spektakulären Fall mitmischen zu dürfen. Flottmann schickte ihm die Liste und erklärte ihm, worauf es ankam. Er sollte die Personen lediglich telefonisch befragen. Falls erforderlich, würden Hilgersen und Flottmann die Vorladungen und gegebenenfalls die Hausbesuche vornehmen.
Am Nachmittag rief Flottmann die Internetseite »fischvomkutter.de« auf. Um fünfzehn Uhr sollte es wieder frische Nordseekrabben direkt von Bord der »MARION HUS 19« geben.
»Ich bin mal kurz weg.«
»Wohin?«, fragte Hilgersen.
»Zu Marion.«
»Hast du eine neue Freundin? Was sagt Lena dazu?«
»Krabben kaufen. Ich hab Lena versprochen, dass ich Krabben mit Rührei zubereite.«
Flottmann hörte Hilgersens Erwiderung nicht mehr. Er hatte bereits das Büro verlassen und eilte die Treppenstufen hinunter. Den Fahrstuhl hatte er seit zwei Wochen nicht mehr benutzt. Auch den Weg bis zum Außenhafen wollte er zu Fuß absolvieren, für seine Fitness, die immer noch zu wünschen übrig ließ. Die kürzeste Strecke verlief entlang der Umgehungsstraße. Am Bahnübergang musste er lange warten, sodass er eine Viertelstunde benötigte. Ein paar Kunden bildeten eine Schlange vor dem Kutter. Der ältere Mann vor ihm hielt einen ausgedehnten Schnack mit dem Fischer, als er an der Reihe war. Flottmann hatte sich an so etwas gewöhnt. Es gab sogar Situationen, in denen er die Langsamkeit der Stadt zu schätzen wusste. Anfangs war es nicht so gewesen. Er hatte fast zwei Jahre benötigt, um sich der nordfriesischen Geschwindigkeit anzupassen.
Wie viele Krabben sollte er kaufen? »Pro Mund ein Pfund« hatte er mal gehört. Das wäre dann für zwei Personen ein Kilogramm. Das musste reichen. Schließlich gehörten zu dem Rezept, das er im Internet gefunden hatte, weitere sättigende Zutaten wie Vollkornbrot. Als Zubereitungszeit war maximal eine halbe Stunde angegeben, gerade richtig für seine eingeschränkten Kochkünste. Aber war in der Zeit auch das Pulen der Krabben berücksichtigt? Flottmann kratzte sich nachdenklich am Kinn. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als der Fischer ihm die Tüte mit der Ware überreichte.
Für den Rückweg brauchte er nur zehn Minuten.
»Wie viel hast du gekauft?«, fragte Hilgersen, als Flottmann zur Tür hereinkam.
»Ein Kilo. Ich denke, das reicht für zwei Personen.«
»Bestimmt. Aber vielleicht hättest du besser fertig Ausgepulte kaufen sollen.«
»Nee. Diese hier sind viel frischer.« Flottmann stellte die Plastiktüte mit dem Fang auf dem Schreibtisch ab und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Weißt du, dass jeden Tag mehrere Lkws nach Marokko unterwegs sind, damit die Schalentiere dort von billigen Arbeitskräften gepult werden? Dreitausend Kilometer hin und dreitausend Kilometer zurück. Das ist doch der helle Wahnsinn. Und wenn sie hier ankommen, sind sie über eine Woche alt. Mal ganz abgesehen von der miesen Ökobilanz.«
»Das stimmt schon. Aber weißt du denn, wie man die Porren pult?«
»Klar. Ganz einfach am Kopf festhalten und am Schwanz ziehen – hab ich gelesen.«
Hilgersen stieß einen Pfiff aus. »Na, denn man to.«
»Was?«
»Nichts. Probier es aus. Falls du Probleme hast, kann ich dir helfen.«
»Nicht nötig. Das ist ein Kinderspiel für mich.« Flottmann nahm ein Exemplar in die Hand. Aber sein erster Versuch endete nicht so, wie er gedacht hatte. Das Hinterteil riss ab, und das Fleisch blieb stecken. Mühsam gelang es ihm, den Inhalt mit den Fingernägeln freizulegen.
»Ich hab die Zeit gestoppt.« Hilgersen stand auf und kam an Flottmanns Schreibtisch. Er hielt seinen Taschenrechner in der Hand. »Du hast eine Minute und fünfundzwanzig Sekunden gebraucht. Wobei die Schwanzhälfte noch drinnen steckt. Ein Kilogramm sind so etwa fünfhundert Porren. Das macht nach Adam Riese …« Er tippte auf seinem Rechner herum. »Siebenhundertacht Minuten, also knapp zwölf Stunden. Vielleicht solltest du Lena anrufen, dass es das Krabbenbrot erst zum Frühstück gibt.«
»Deine Kommentare sind wie immer destruktiv, Gustl. Ich brauche lediglich etwas Übung. Das ist alles.« Flottmann zog ein weiteres Exemplar aus der Tüte. Das Ergebnis seiner Bemühung unterschied sich nicht wesentlich von dem aus seinem ersten Versuch.
»Knacken – ziehen – lösen«, erklärte Hilgersen und entnahm ebenfalls eine Krabbe. Er packte den Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, mit der anderen fasste er den Körper und drehte ihn. Dann zog er den hinteren Schalenteil ab, um anschließend das Fleisch vom Kopf zu lösen. Er hielt Flottmann das Ergebnis kurz vor die Nase, bevor er es im eigenen Mund verschwinden ließ. »Jetzt weißt du, wie das geht. Wie gesagt kann ich dir auch helfen, wenn du möchtest.«
»Nee. Mit dem Trick schaffe ich das spielend alleine. ›Knacken, ziehen, lösen‹, hast du gesagt? Kein Problem. Das kann ich behalten. Ich mach dann mal Feierabend.«
»Grüß Lena von mir.«
»Mach ich.« Flottmann verstaute den Einkauf in seiner Aktentasche und verließ das Büro.
Zu Hause angekommen, fütterte er wie stets zuerst Kater Bogomil. Dann nahm er eine Schüssel für die Schalen und einen Teller für das Fleisch aus dem Küchenschrank, setzte sich an den Wohnzimmertisch und begann mit der Arbeit. Es galt keine Zeit zu verlieren, denn Lena hatte sich für neunzehn Uhr angekündigt.
Bogomil kam nach einiger Zeit herein, sprang auf die Couch und schnupperte kurz. Er gab ein »Miau« von sich, rollte sich zusammen und schloss schnurrend die Augen.
»Knacken, ziehen, lösen«, hatte Hilgersen gesagt. Das mit dem Knacken funktionierte nach einigen Versuchen leidlich. Beim Ziehen riss allerdings ständig der Schwanz samt Inhalt ab. Den musste er dann aufwendig herauspulen, indem er die Segmente des Panzers einzeln ablöste. Das kostete viel Zeit. Doch nach und nach verbesserte er seine Technik. Trotzdem war das Ergebnis nach einer halben Stunde überschaubar. Langsam kamen ihm Zweifel, ob er sich nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, als er Lena großspurig versprochen hatte, für sie zu kochen. »Wattenbrot« hatte sie das Gericht genannt, das sie so gerne aß. Im Internet kursierten auch Namen wie »Halligbrot« oder einfach »Krabbenbrot«. Vollkornscheiben, belegt mit reichlich Nordseegarnelen, darüber eine Schicht Rührei, gewürzt mit Pfeffer, Salz und Schnittlauch. Das klang lecker und einfach. Wenn nur das verdammte Pulen der Viecher nicht dazugehört hätte. Kurz überlegte Flottmann, ob er nicht doch noch Hilgersen zu Hilfe ziehen sollte. Aber er gönnte dem Kollegen den Triumph nicht, und er wusste, dass Hilgersen die Geschichte später bei jeder passenden Gelegenheit genüsslich hervorzaubern würde.
Nach einer weiteren halben Stunde wurde Flottmann nervös. Die Zeit lief ihm davon. Immerhin hatte er ungefähr ein Viertel der Arbeit geschafft. Doch auf dem Teller wirkte das Häuflein ohne die Schalen ziemlich verloren. Er brauchte jetzt unbedingt ein Bier, um neue Kräfte zu sammeln. Also ging er in die Küche und holte eine Flasche Flensburger aus dem Kühlschrank. Begleitet von einem lauten »Plopp« öffnete er den Bügelverschluss und trank den halben Inhalt in einem Zug aus.
Irgendetwas irritierte ihn, als er wieder das Wohnzimmer betrat. Wie so oft eilte sein Gefühl dem Verstand voraus. Bogomil war aufgewacht und putzte sich in der Ecke der Couch. Er saß auf den Hinterbeinen, den Rücken seinem Herrchen zugewandt. Die Schwanzspitze bewegte sich rhythmisch hin und her, und die Ohren waren in Habachtstellung ausgerichtet.
Flottmanns Blick wanderte zu den Krabben, das heißt zu dem Teller, auf dem sie hätten sein sollen. Mit einer Mischung aus Unglauben und Wut trat er näher an den Tisch heran. Er stellte seine Bierflasche ab. Nur langsam gelang es ihm, den Diebstahl in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Der Täter hatte keine einzige Garnele übrig gelassen und das Porzellan fein säuberlich abgeleckt. Flottmann schüttelte den Kopf, als könne er immer noch nicht glauben, was er sah.
Ohne Zweifel hatte der Dieb dabei seine DNA hinterlassen. Als hätte es eines weiteren Beweises bedurft, ging Flottmann um den Tisch herum und beugte sich zum Verdächtigen hinunter. »Hauch mich mal an«, zischte er dem Tier entgegen.
Bogomil wich zurück. Flottmanns Stimme wurde lauter. »Du verdammtes Mistvieh!«
Der Kater zuckte ein paarmal mit dem Schwanz und bildete einen angedeuteten Buckel, zog es aber dann doch vor, eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Er sprang vom Sofa und verkroch sich in einem seiner Verstecke.
Flottmann ließ sich in einen Sessel fallen, nahm seine Bierflasche und trank sie aus. Sein Blick fiel auf die Schüssel mit den restlichen ungepulten Krabben. Nein, nicht noch einmal diese Tortur. Lieber würde er beim Türken Döner bestellen oder beim Italiener zwei Pizzen.
Kurz entschlossen griff er zum Telefon und rief Lena an.
»Hallo, Waldemar. Ich bin schon fast auf dem Weg zu dir. Du wolltest doch nicht etwa absagen, oder?«
»Nein. Jedenfalls nicht so direkt. Ich dachte, wir könnten essen gehen. Ich kenne da ein nettes Restaurant am Hafen.«
»Eigentlich hatte ich mich auf einen gemütlichen Abend bei dir eingestellt. Du wolltest doch für mich kochen.«
»Ja. Aber …« Flottmann suchte nach den richtigen Worten für eine Ausrede. Schließlich entschied er sich für die Wahrheit. »Ich hatte so meine Schwierigkeiten mit den Krabben. Und dann hat Bogomil auch noch alle ausgepulten aufgefressen.«
Aus dem Hörer drang schallendes Gelächter. Flottmann merkte, wie ihm das Blut vor Ärger in den Kopf schoss.
»Entschuldige«, beendete Lena ihren Lachanfall. »Tut mir leid.«
»Kannst du die Dinger pulen?«, fragte er nach einer Pause. »Ich hab noch eine ganze Menge mit Schale.«
»Fein. Ja, als Kind hab ich das oft gemacht. So etwas verlernt man nicht. Ich fahre sofort los. Es wird bestimmt ein toller Abend werden.«
Flottmann hörte sie erneut auflachen, bevor er auflegte.
Es wurde ein schöner Abend. Geduldig unterrichtete Lena Flottmann im Krabbenpulen, und nach einer guten Stunde hatten sie genug Material für das Wattenbrot, das sie gemeinsam zubereiteten. Anschließend genossen sie ihre Kreation bei einer Flasche Weißwein. Auch der Rest des Abends verlief nach Flottmanns Vorstellungen. Sein Groll auf Bogomil war verflogen.