Petra Hinrichsen lag an Deck, als sie aufwachte. Sofort begann sie, am ganzen Körper zu zittern. Sie ahnte, was mit ihr passieren würde. Sollte sie sterben, ohne dass sie wusste, warum? Vielleicht fiele ihr das Sterben leichter, wenn sie die Beweggründe des Mörders kannte. Die Überlegung schoss ihr durch den Kopf, obwohl sie völlig absurd war. Nichts würde sich ändern, egal, ob sie den Grund kannte oder nicht. Und reden konnte sie auch nicht mehr mit ihm. Er hatte ihr einen Knebel in den Mund gestopft, sodass sie kaum atmen konnte. Ihre Hände waren immer noch auf dem Rücken zusammengebunden. Zusätzlich waren jetzt auch noch ihre Füße gefesselt.
Es gelang ihr, den Kopf anzuheben. Sie erschrak, als sie ihn sah. Er stand an der Reling und blickte zum Himmel. Mehrfach trat er mit dem Fuß gegen die Bordwand und fluchte. Er schien sehr wütend zu sein. Petra hörte keine Motorengeräusche, aber aus der Ferne erklang dumpfes Gewittergrollen. Für eine Sekunde erhellte ein Blitz das Boot. Sie erkannte, dass der Mann immer noch eine Skimaske trug. Er trat ein weiteres Mal gegen das Holz. Dann drehte er sich um und kam auf sie zu. Sie ließ ihren Kopf zurück auf den Boden fallen. Sie musste sich ihrem Schicksal ergeben. Mit gefesselten Händen konnte sie kaum etwas gegen ihn ausrichten. Er ging in die Knie, fasste ihr unter die Oberschenkel und den Nacken. Mit letzter Kraft ließ sie ihre Knie nach oben schnellen, während er sie anhob. Sie verfehlte sein Kinn um Haaresbreite. Damit hatte sie ihre letzte Chance vertan. Jetzt wartete sie nur noch darauf, dass das kalte Wasser ihr den Atem nahm, und hoffte, dass es schnell vorbei war.
Aber die Sekunden dehnten sich zu Minuten. Seine Schritte klangen wie das Stampfen eines Monsters. Ein greller Blitz durchzuckte die Nacht. Der Donnerschlag ertönte nur wenig später. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie geglaubt, Schauspielerin in einem Horrorfilm zu sein, in dem sie die undankbare Rolle des Opfers spielte.
Doch dann geschah das Unglaubliche. Anstatt sie über die Reling zu werfen, stieß er mit dem Fuß die Tür zum Unterdeck auf und trug sie die Treppe hinunter. Hoffnung keimte in ihr auf. Doch in der nächsten Sekunde verwandelte sich der Funke Hoffnung in pures Entsetzen.
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Helenas Tagebuch, 27. September
Ich hatte wieder Kontakt mit Anna! Ihr geht es gut. Wahrscheinlich geht es ihr viel besser als mir. Aber sie vermisst mich. Sie hat das nicht gesagt, aber ich weiß es. Ihre Antworten auf meine Fragen sind so klug und weise. Ich hab BB vom automatischen Schreiben erzählt, aber er ist gar nicht darauf eingegangen. Markus hab ich nichts gesagt. Er würde mir nicht glauben. Ich hab überlegt, ob ich ihn einmal mitnehmen sollte, damit er es selbst erlebt. Aber ich habe die Idee verworfen. Wir werden uns immer fremder. Unsere Ehe ist sinnlos geworden. Das Leben hier auf der Erde ist für mich sinnlos geworden. Mich würde niemand vermissen, wenn ich ginge. Außer BB vielleicht. Nein, nicht vielleicht, ganz bestimmt würde er mich vermissen.
Meine Freundin Petra hat sich von ihrem Robert getrennt. Es ist ihr sehr schwergefallen. Ich hab sie am Telefon etwas trösten können. Es tut gut, jemandem zu helfen und nicht immer nur auf Hilfe angewiesen zu sein. Robert ist nett. Ich hab ihn einige Male getroffen. Er hat Petra sehr geliebt. Petra sagt, dass er unter der Trennung leidet und immer wieder versucht, sie zurückzugewinnen. Aber sie will hart bleiben. Sie meint, dass sie beide nicht zueinander passen. Er ist Steinbock, sie Widder. Die haben oft Probleme miteinander. Aber das ist meiner Ansicht nach kein Grund für eine Trennung. Petra behauptet, dass er manchmal sehr unbeherrscht und jähzornig sein kann. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Auf mich wirkt er ganz anders.