Auf die sonntäglichen Treffen mit Laura und Sophia freute sich Gerber stets. Auch an diesem Nachmittag gab es Kaffee und Kuchen. Sophia konnte es kaum erwarten, dass er anschließend seine Gitarre auspackte und mit ihnen Songs querbeet durch alle Genres sang. Gegen Abend waren sie erschöpft, und Sophia zog sich in ihr Zimmer zurück.
»Unglaublich, wie du jedes Lied so toll begleiten kannst.«
»Das ist nicht schwer. Ein Instrument zu spielen ist, wie eine Sprache zu sprechen.«
Laura setzte sich zu Gerber auf die Couch. »Du bist ein Tiefstapler, Leon.« Sie lachte. »Auch wie du der Polizei in dieser Geistersache geholfen hast, war großartig. Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Das hätte ich sicher noch getan.«
»Hauptkommissar Flottmann hat mich angerufen. Er wollte wissen, wie er dir danken kann.«
»Er hat dich angerufen?«
»Ja. Ich hatte aber auch keine Idee, was er für dich tun könnte. Ich glaube, er war ein wenig besorgt um dich.«
»Weshalb?«
»Wegen deiner Entführung damals. Du kannst das Erlebte nicht einfach so wegstecken. Ich musste ihm da zustimmen.«
Gerber sagte nichts. Laura wollte mit ihm ein Gespräch über seine Probleme beginnen. Das war ihm unangenehm. Er hatte in gewisser Weise sogar Angst davor. Anstatt etwas zu erwidern, stand er auf und ging zu seinem Gitarrenkoffer, der noch geöffnet auf dem Boden lag.
»Ich hab dir etwas mitgebracht.« Er legte einen versteinerten Seeigel auf den Tisch, den er im Watt gefunden hatte, und setzte sich wieder.
Sie nahm das Geschenk und betrachtete es. »Ein Seeigel?«
»Ja. Ich war noch einmal beim Schiffswrack. Auf dem Weg von dort zurück hab ich ihn gefunden.«
»Danke. Der ist wirklich schön.«
Sie legte das Fundstück zurück auf den Tisch.
Einen Augenblick schwiegen beide.
»Ich weiß, dass du nicht gerne etwas über dich erzählst«, sagte sie.
»Was willst du wissen?«
»Ich würde mich freuen, wenn du mir gegenüber etwas offener wärst.«
»Ich hab keine Geheimnisse vor dir.«
»Das meine ich nicht. Du bist sehr verschlossen, Leon. So hab ich dich kennengelernt. Das ist deine Art, und du musst mir auch nicht alles mitteilen. Aber manchmal ist es schwer für mich, dich zu verstehen. Dein Ausflug bei Gewitter ans Meer zum Beispiel. Der war lebensgefährlich. Wie konntest du nur solch ein Risiko eingehen?«
»So richtig hab ich die Gefahr erst erkannt, als du mich angerufen hast. Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein. Ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, hast du gesagt.«
»Das hab ich nicht so gemeint.«
»Doch. Ich weiß selbst, dass meine Entführung und das Nahtoderlebnis bei mir Spuren hinterlassen haben.«
»Jeder andere würde nach solch einem Vorfall einen Psychologen zurate ziehen.«
»Ich habe keine guten Erfahrungen mit Therapiestunden gemacht. Die Psychofritzen rühren nur in der Vergangenheit rum. Ich muss mir selber helfen.«
»Auch ich bin für dich da.«
»Das weiß ich zu schätzen. Gerne wäre ich auch für dich eine Stütze.«
»Das bist du. Hast du nicht bemerkt, wie viel Spaß Sophia und ich hatten?«
»Das ist etwas anderes.«
»Nein, ist es nicht!«
Wieder trat eine Pause ein.
»Ich hab mir etwas überlegt, Leon. Mancher schreibt ein Buch, um das Erlebte zu verarbeiten. Du hast deine Musik. Und du bist ein Genie auf deinem Gebiet. Setz dich hin, komponiere und schreib Texte über das, was dir widerfahren ist und was dich ängstigt.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Klar kannst du das. Und dann machst du eine kommerzielle CD daraus. Mit oder ohne Plattenvertrag. Deine Songs können auch anderen helfen. Ich bin ganz begeistert von meiner Idee.«
Gerber beugte sich vor und nahm den Seeigel in die Hand. Geistesabwesend strich er über die strahlenförmige Zeichnung auf der Oberfläche. »Vielleicht hast du recht.« Er legte die Versteinerung wieder ab und lehnte sich zurück. »Ich könnte es versuchen. Vielleicht ist das mein Weg.«
Laura gab ihm einen Kuss. »Ich bin mir sicher, dass es dein Weg ist.«
»Hast du mit Flottmann darüber gesprochen?«
Laura räusperte sich. »Sein Anruf war nur der Anlass für meine Überlegungen. Die Idee stammt von mir. Wobei sie so naheliegend ist, dass man kaum von einer Idee sprechen kann. Waldemar Flottmann schätzt dich übrigens sehr. Und er hat sich wirklich Sorgen um dich gemacht.«
Gerber nickte.
»Ich soll dir ausrichten, dass er unbedingt eine signierte CD haben möchte, wenn dein Album fertig ist. Jetzt trinken wir ein Glas Wein, und dann lade ich dich in mein Schlafzimmer ein. In Ordnung?«
»Was könnte ich dagegen einwenden?«
Gerber hatte in der Nacht lange wach gelegen. Laura hatte nichts davon mitbekommen. Ihre Idee war ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Erst als er sich fest entschlossen hatte, sie umzusetzen, war er eingeschlafen.
Am nächsten Morgen saßen die drei am Frühstückstisch. Gerber hatte, so gut er konnte, bei der Vorbereitung geholfen. Sophia hatte ihn ein ums andere Mal korrigiert, wenn er das Besteck nicht richtig platziert oder die Servietten falsch gefaltet hatte. Alle hatten gute Laune, und Sophia gab am Tisch ein Lied vom Vorabend zum Besten, während Gerber Teetasse und Unterteller mit einem Löffel zum Klingen brachte. In solchen Momenten fühlte er sich wie ein vollwertiges Mitglied der Familie und konnte sich vorstellen, mit den beiden unter einem Dach zu leben. Doch er wusste, dass er seine Unabhängigkeit vermissen würde. Und Laura wusste das auch. Vermutlich hatte sie ihn deshalb noch nie darauf angesprochen.