Der erlösende Anruf kam um fünf Uhr. Petra Hinrichsen lebe und sei auf dem Weg ins Krankenhaus. Vom Täter fehle allerdings jede Spur. Flottmann schloss die Augen. Nicht vor Müdigkeit, sondern weil er erleichtert war. Die Nachricht musste er erst einmal verdauen. Eigentlich hätte er in Jubel ausbrechen müssen, aber dazu fehlte ihm die Kraft. Seine Erschöpfung war psychischer Art. Einen Mörder zu fassen war eine Sache, einen Mord zu verhindern eine ganz andere. Das war sozusagen die Königsdisziplin eines Ermittlers. Erneut hatte Gerber den entscheidenden Hinweis geliefert. Aber Flottmann war auch mit Hilgersen und sich zufrieden. Beide hatten wieder einmal gezeigt, dass sie ein gutes Team waren. Noch waren der Täter und sein Komplize unbekannt. Doch jetzt gab es eine weitere Zeugin und zahlreiche neue Ansatzpunkte. Flottmann war sich sicher, dass die Aufklärung kurzfristig gelingen würde. Die Soko war am Zuge.
Er rief Lena und anschließend Leon Gerber an. Der Musiker hatte nicht geschlafen, sondern war damit beschäftigt gewesen, seine Wasserstandsvorhersage immer und immer wieder zu verifizieren. Auch ihm fiel vermutlich ein riesiger Brocken vom Herzen, als er die gute Nachricht erfuhr.
Flottmann hätte nach Hause gehen können. Aber das Adrenalin in seinen Adern hätte ihn am Schlaf gehindert. Außerdem genoss er es, die Anspannung zusammen mit Hilgersen abklingen zu lassen. Sie unterhielten sich, bis die Bürotür geöffnet wurde und Silke Amsel hereinkam. Die Mittvierzigerin trat etwas burschikos auf, war aber nicht unattraktiv und erledigte so ziemlich alle anfallenden Arbeiten. Nur zu gewissen Tätigkeiten, die »unter ihrem Niveau« waren, ließ sie sich nicht überreden. Silke Amsel war offensichtlich erstaunt, dass Flottmann bereits im Büro war. Sie legte eine Akte auf seinen Schreibtisch.
»Das soll ich dir vom Dienststellenleiter geben. Ein weiterer Enkeltrickbetrug hier in Husum.« Sie sah ihn prüfend an. »Dein grüner Pullover sieht wie eine Pyjamajacke aus und passt so gar nicht zur blauen Jeans. Na ja, Geschmack hast du ja noch nie gehabt.«
»Von Mode verstehst du nichts, Silke. Mein Outfit ist der letzte Schrei. Gustav findet es auch gut.«
»Ach ja?«
Hilgersen nickte.
»Die wirre Frisur und die Bartstoppeln in deinem Gesicht gehören wohl auch dazu.«
»Hm, nicht schlecht beobachtet. Du hättest zur Polizei gehen sollen.«
»Mach dich nur lustig über mich.«
»Das liegt mir fern. Die Wahrheit ist, dass wir die Nacht durchgearbeitet haben, Gustav und ich. Wir sind ziemlich groggy und brauchen eine Stärkung. Würdest du für uns eine Ausnahme machen?«
»Die wäre?«
»Wir hätten gerne einen starken Kaffee, vielleicht mit einem Schuss Rum.«
Silke Amsel holte tief Luft. Flottmann erwartete, dass sie zu ihrer üblichen Belehrung ansetzte. Kaffee zu kochen gehöre nicht zu ihren Aufgaben. Und unter Anleitung seien auch Männer in der Lage, einfache Tätigkeiten zu verrichten. Aber zu seiner Überraschung sagte sie: »Okay. Alle Indizien sprechen dafür, dass ihr eine anstrengende Nacht hinter euch habt. Ich bringe euch den Kaffee. Aber das ist wirklich eine Ausnahme. Und sagt es niemandem weiter. Sonst kommen auch noch die anderen Kollegen damit an.« Bei den letzten Worten hatte sie bereits das Büro verlassen.
»Manchmal kannst du ja doch mit Frauen umgehen«, sagte Hilgersen.
»Wie wir wissen, reiche ich an dich nicht heran, Gustl.«
Silke Amsel kehrte nach wenigen Minuten zurück und überreichte ihnen jeweils eine große Tasse mit dampfendem Kaffee. Geruch und Geschmack bestätigten, dass sie mit Rum nicht gegeizt hatte. Alkohol war in der Dienststelle natürlich verpönt. Aber für besondere Anlässe bewahrte »die Amsel«, wie sie alle nannten, stets eine Flasche in einem sicheren Versteck auf.
***
Dieter Ribbmeister hatte den Helikopter gehört und das Scheinwerferlicht gesehen. Offenbar war man auf der Suche nach ihm und seinem Stiefbruder. Deshalb war es zu gefährlich, den Husumer Hafen anzulaufen. Es galt, einen unverdächtigen Ort zum Anlegen zu wählen, irgendwo abseits des Fahrwassers. Dazu musste aber die Flut weit genug aufgelaufen sein. Also wartete er eine weitere Stunde, bis er das flache Boot nahe ans Ufer steuern konnte. Dort ließ er es zurück, lief den Rest des Weges durch das Watt und erreichte schließlich unbemerkt eine Stelle an Land nordwestlich von Hockensbüll. Von dort aus lief er nach Husum. Den Transporter hatte er in der Nähe des Schlossparks abgestellt, nachdem sie die Kiste an Bord gebracht hatten. Auf dem Hafengelände hätte das Fahrzeug jemandem auffallen können. Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich jetzt als Vorteil.
Den Entschluss, mit dem Boot abzuhauen, hatte er spontan gefasst. Die Gelegenheit war einfach zu verlockend gewesen. Er hatte nicht widerstehen können. Sein Stiefbruder hatte ihn lange genug schikaniert. Jetzt trieb er als Leiche in der Nordsee. Die Fische sollten ihn fressen! Keine Träne weinte er ihm nach. Immer hatte er ihn um Geld anbetteln müssen. Damit war nun endgültig Schluss. Peter hatte ihn ausgenutzt und rumkommandiert, wenn es am Haus etwas zu reparieren gab und Besorgungen zu erledigen waren. Und immer hatte er damit gedroht, ihn auf die Straße zu setzen, wenn er nicht spurte. Denn das Haus gehörte Peter.
Dieters Mutter hatte nach der Scheidung einen vermögenden Anwalt kennengelernt und geheiratet. Aus dieser Ehe stammte Peter. Bei seiner Geburt war Dieter sechs Jahre alt. Von da an hatte sich alles nur noch um Peter gedreht. Er war der Liebling gewesen, dem alles glückte und der immer wusste, wo es langging. Schade, dass seine Eltern nicht mehr erlebten, wie ihr Liebling zum Mörder wurde. Beide waren vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Peter hatte dabei wohl nicht die Finger im Spiel gehabt, auch wenn es ihm zuzutrauen war. Aber Dieter war sich sicher, dass er zumindest seine erste Frau vorsätzlich und nicht im Streit getötet hatte. Das Gericht hatte es dank Peters Anwalt anders gesehen. Nach dem Prozess hatte er eine Stelle im Norden angenommen und von der Erbschaft das Haus gekauft. Dieter war mit einer lächerlichen Summe abgespeist worden. Auch seine zweite Frau und den Sohn hatte Peter vergrault.
Immer hatte Dieter den Kürzeren gezogen. Aber nun wendete sich endlich das Blatt. Er lachte hämisch. »Wer von uns beiden ist jetzt der Depp? Du oder ich? Du Idiot bist in deine eigene Falle getappt. Ich bin unschuldig. Ich hab nur das Boot weggefahren. Mehr hab ich nicht getan.«
Er benötigte fast eine Dreiviertelstunde für den Weg bis zum abgestellten Transporter. Auch der gehörte jetzt ihm. Alles gehörte ihm. Er musste nur noch einige Formalitäten erledigen. Peter, der sich für so schlau gehalten hatte, hatte ihn mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet, ihm die Passwörter zu den Konten aufgeschrieben und die Zahlenkombination für den Tresor verraten.
Zu Hause angekommen, nahm er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und machte es sich im Wohnzimmer gemütlich. Im Fernsehen lief im Nachtprogramm ein Thriller, den er bereits kannte. Schlafen konnte er noch nicht. Er wurde das Gefühl nicht los, sein Stiefbruder könnte jeden Moment zur Tür hereinkommen. Unterwegs hatte er sich sogar eine Ausrede für den unwahrscheinlichen Fall zurechtgelegt. Der Tank sei leckgeschlagen, und das Boot sei von der Strömung mitgerissen worden. Oder so ähnlich. Erst gegen Morgen ging er ins Bett. Peter würde nicht zurückkehren.
Doch er schlief schlecht. Dass er seinen Stiefbruder auf dem Gewissen hatte, war nicht der Grund. So wie der ihn die ganzen Jahre behandelt hatte, hatte er die Strafe verdient. Vielmehr beschäftigte ihn, was er alles erledigen musste. Das Schwierigste würde der Verkauf des Hauses werden. Peter hatte ihm auch dafür Anweisungen erteilt. Aber die Abwicklung würde dauern, und die Gefahr, dass die Polizei auf ihn aufmerksam wurde, stieg. Wenn man Peters Leiche fand, würden die Kriminalbeamten kommen und ihn vernehmen. Er war sich nicht sicher, ob er deren Verhörmethoden gewachsen war. Vielleicht sollte er einfach nur die Konten plündern, die Aktien verkaufen und sich dann ins Ausland absetzen. Vielleicht konnte er sogar Peters Flugticket benutzen, das im Kellersafe lag. Darin befand sich auch alles andere, die Zugangsdaten für die Konten und die Vollmachten. Peter hatte alles genau vorbereitet. Nur hatte er sich natürlich alles anders vorgestellt. Dieter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Seine innere Unruhe hielt ihn wach. Er zog sich an, begab sich in die Küche und kochte sich einen starken Kaffee. Nach einem Schluck stellte er die Tasse auf die Arbeitsplatte zurück. Er murmelte die Zahlenkombination des Tresors vor sich hin. Darin würde er alles finden, was er brauchte, um sich ein angenehmes Leben einzurichten, inklusive eines Batzens Bargeld. Die Kombination hatte er auswendig gelernt. In den Ziffern war Peters Geburtsdatum enthalten, sodass er sich nur vier weitere Zahlen hatte merken müssen.
Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Kam nach dem Datum 2332 oder 3223? Oder war es vielleicht …? Nein, es war definitiv die erste Variante. Er ging hinunter in den Kellerraum, in dem allerlei Gerümpel aufbewahrt wurde, und tippte die Kombination in das Tastenfeld. Aber der Tresor ließ sich nicht öffnen. Augenblicklich bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. Es galt, Ruhe zu bewahren. Er schnappte sich einen der ausrangierten Gartenstühle, setzte sich vor den Geldschrank und probierte eine Variante nach der anderen aus. Vergeblich. Das konnte einfach nicht wahr sein! Schließlich nahm er sich ein Blatt Papier, notierte alle möglichen Kombinationen und probierte sie aus. Nach über einer Stunde war er sich sicher, dass sein Stiefbruder den Code geändert hatte. Dieter stieß alle Flüche aus, die ihm spontan einfielen. Dieser Mistkerl hatte ihn gelinkt und ihm sein Vertrauen vorgegaukelt. In Wirklichkeit hatte er abwarten wollen, ob alles nach Plan verlief. Vielleicht hatte er sogar vorgehabt, ihm die richtige Zahlenkombination erst zu verraten, wenn er im Ausland angekommen war. Es war nicht einmal auszuschließen, dass Peter das Vermögen nur als Lockmittel für seine Dienste benutzt und gar nicht vorgesehen hatte, es zu teilen. Seinen eigenen Tod hatte er natürlich nicht eingeplant.
Dieter schlug mit der Faust gegen den Wandtresor, der laut seinem Bruder absolut aufbruchsicher war. Ohne fremde Hilfe würde er ihn nicht knacken können. Leider kannte er niemanden, der dafür in Frage kam. Bei einem seiner Einbrüche hatte er versucht, ein billiges Exemplar zu öffnen. Nicht einmal das war ihm gelungen. Auch in den zwei Jahren Knastaufenthalt wegen einschlägiger Delikte hatte er keine Kontakte mit Insassen geknüpft, die er anrufen konnte. Das Öffnen mit einem Schweißgerät, so wie man das in alten Filmen sah, funktionierte mit den modernen Tresoren nicht. Es war verflixt. Dieter lief nervös im Kellerraum auf und ab. Wie viel Zeit würde ihm noch bleiben, bis die Polizei auftauchte? Er hatte keine Antwort auf die Frage. Sie hing davon ab, wann man die Leiche seines Bruders fand. Das konnte in wenigen Stunden sein, in Tagen, Wochen oder Monaten. Vielleicht fand man sie auch nie.
Nach dem Knast hatte sein Stiefbruder ihn aufgenommen, allerdings hatte Dieter teuer dafür bezahlt, mit Erniedrigungen und Schindereien. Aber er hatte es ertragen müssen. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis hatte er keine Anstellung als Lagerarbeiter mehr gefunden und war von seinem Stiefbruder finanziell abhängig gewesen.
Lebte der Tyrann vielleicht noch? Das Wasser musste ihm bereits bis zum Hals stehen. Genau konnte er es nicht abschätzen. Im Grunde war ihm das egal, wenn da nicht eine Idee in seinem Kopf aufgetaucht wäre. Er stellte sich vor, er würde zu dem Ort zurückkehren, an dem er ihn abgesetzt hatte. Vielleicht würde er ihn noch lebend vorfinden, und wenn Peter das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand, rückte der Schuft ganz bestimmt die richtige Zahlenkombination heraus. Aber es war zu spät. Er müsste zu seinem Boot, das er nicht einmal verankert hatte, zurücklaufen oder aber ein anderes stehlen. Das alles würde zu lange dauern, ganz abgesehen von der Suche nach seinem Stiefbruder. Der Plan war gut, aber aus zeitlichen Gründen zum Scheitern verurteilt.
***
Er war weit gelaufen, aber das Licht, das er angepeilt hatte, kam nicht näher. Es war weiter am Horizont hinaufgestiegen, was nur bedeuten konnte, dass es von einem Himmelskörper stammte. Dafür sprach auch die rötliche Färbung. Dennoch lief er dem Irrlicht störrisch entgegen. Dabei ruderte er mit den Händen, um sein Tempo zu erhöhen oder das Gleichgewicht wiederzuerlangen, wenn er ins Schlingern geriet. Die Nässe und Kälte machten ihm zu schaffen. Wäre es Winter gewesen, wäre er längst an Unterkühlung gestorben. Aber so verlängerte die milde Lufttemperatur seinen Todeskampf und bestrafte ihn für das, was er getan hatte. Hier, abseits aller Wattwanderungsrouten, gab es nicht einmal Rettungsbaken, auf denen er sich in Sicherheit bringen konnte.
Der Hubschrauberlärm war schon lange verstummt. War es den Rettungskräften gelungen, die Hinrichsen lebend zu bergen? Ausschließen konnte er es nicht. Im Grunde war es ihm egal. Letztendlich hatte er beabsichtigt, ihr und den anderen eine Lektion zu erteilen, was ihm ganz sicher gelungen war, auch wenn er es mit dem Leben bezahlte.
Wieder musste er an Helena denken. Sie war freiwillig ins Meer gegangen. Wie hatte sie das nur tun können? Wie hatte sie ihm das antun können? Ihr Tagebuch verriet Anhaltspunkte für ihre Beweggründe. Trotzdem verstand er es nicht. Sie hatte ihrer Tochter nah sein wollen und hatte geglaubt, den Prophezeiungen der Astrologinnen trauen zu können. Was für ein Irrsinn! Er schlug mit der flachen Hand auf das Wasser. Und nun würde ihn der gleiche Tod wie sie ereilen. Er sah ihr Gesicht vor sich. Sie schenkte ihm ein Lächeln, auf ihre unverwechselbare kindliche Art.
Ein Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit von den inneren Bildern ab. Es klang, als würde Metall auf Metall schlagen, und kam von weit her. Sein Unterbewusstsein ließ sein Herz stocken, noch bevor er ahnte, was die Töne zu bedeuten hatten.