»Will they still care,
when the fame fades?«
Ich glaube, Thomas Kalberg hat die schlechte Angewohnheit, mir auf Herrentoiletten in Los Angeles über den Weg zu laufen.
Verdammt, er ist es wirklich . Kein Zweifel. Die letzten vier Jahre haben ihn zwar verändert, aber ich würde ihn überall wiedererkennen … Seine Haare sind länger und dunkler, und auch sein Bart ist nachgedunkelt. Er hat Muskeln zugelegt, aber für seine imposante Größe ist er immer noch dünn.
Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist, aber sein Blick hat sich verfinstert. Er war immer schon ein Einzelgänger, einschüchternd und bereit, jeden zu verprügeln, der ihn schief anschaute, aber sein Lächeln war wie tausend Sonnen.
Verdammt, was macht er hier? Als er mich festhält, um meinen Sturz zu verhindern, erbebe ich. Vermutlich hält er es für unangebracht, denn er zieht seine Hand sofort zurück. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er nach vier Jahren Abwesenheit tatsächlich leibhaftig vor mir steht.
Dieser Egoist hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, mir eine Nachricht zu schicken, dass er wieder in der Stadt ist!
»Nur zur Info: Das hier ist die Herrentoilette«, sagt er kühl.
Ich muss lachen, weil die Szene so abwegig ist. Fast wie ein Déjà-vu. Er würde sich über mich lustig machen, wenn er wüsste, dass ich es bin, die unter dieser Verkleidung steckt.
Ich erinnere mich nämlich plötzlich, dass ich mich als Mann verkleidet habe, und zwar ziemlich schlecht. Aber er hat keine Ahnung, wer ich bin. Und er verdient nicht, es zu erfahren, nachdem er vergessen hat, mich vorzuwarnen!
Schließlich fällt meine Erstarrung von mir ab, ich straffe meinen Oberkörper und antworte:
»Na und? Ich bin ein Mann.«
»Schwer zu glauben.«
»Bist du blind? Schau, ich trage einen Schnurrbart!«
Ich zeige auf den falschen Flaum und trete nah genug an ihn heran, um seinen Duft wahrzunehmen. Oh, wow, er riecht noch immer so gut. Sauvage von Dior? Ich erkenne es, denn ich bin das weibliche Gesicht der Marke.
Thomas bleibt unbeeindruckt und vergrößert den Abstand zwischen uns. Ich muss mir ein Lachen verkneifen, denn mein Spielchen amüsiert mich.
»Das beweist gar nichts. Ich kenne auch Frauen mit Schnurrbart.«
Ah. Ich hoffe, er meint nicht mich, der Mistkerl!
Plötzlich wird die Toilettentür geöffnet. Die Paparazzi fallen mir wieder ein, und ich stürme, ohne nachzudenken, zum nächsten Pissoir. Als die beiden Fotografen an der Tür erscheinen und sich umschauen, tue ich mit gesenktem Kopf so, als würde ich pinkeln, während ich I Want To Break Free pfeife.
Ich hasse diese Leute. Ich kann nicht einmal mehr in Ruhe einen Kaffee trinken. Blöde Idee, ein Foto aus dem Laden zu posten. Ein echter Anfängerfehler.
Verärgert wenden sie sich ab, und einer sagt:
»Sie hat sich verdrückt. Lass uns gehen.«
Ich seufze erleichtert und schaue Thomas aus meinen haselnussbraunen Augen an. Ungewollte, aber immer präsente Erinnerungen melden sich …
Was bin ich doch für ein Weichei! Ich dachte, ich wäre reifer geworden, aber kaum steht er wieder vor mir, trifft mich meine riesengroße Schwäche für ihn wieder mit voller Wucht. Und wie!
Verdammt, er sieht noch besser aus als früher. Er ist kein großer Junge mehr, sondern ein Mann.
Ich bin sauer, dass er mich nicht über seine Rückkehr informiert hat. Aber zum Glück weiß ich noch, wie ich ihn aus der Reserve locken kann.
Ich kneife die Augen zusammen und mustere ihn von Kopf bis Fuß. Thomas zieht eine Augenbraue hoch, als ob er ahnt, was ich sagen will.
»Du siehst aus wie …«
»Chris Hemsworth«, vollendet er mit einem genervten Seufzer. »Ich weiß.«
Beinahe lache ich auf bei dem Gedanken, dass außer mir schon andere auf die Idee kamen.
»Eigentlich wollte ich sagen ›mein Zahnarzt‹, aber okay, wenn du meinst.«
Ich genieße die Befriedigung, Thomas Kalberg vor meinen Augen erröten zu sehen. Ich beobachte ihn fasziniert; es ist das erste Mal seit zehn Jahren, dass ich ihn verlegen erlebe.
»Viele Leute finden das«, rechtfertigt er sich.
»Ja, ja, schon klar.«
»Es stimmt aber.«
»Ich glaube dir.«
Natürlich ist das nicht der Fall. Verärgert beißt er die Zähne zusammen.
»Kannst du mir eigentlich erklären, was du da oben gemacht hast?«, fragt er.
»Ich wollte durchs Fenster verschwinden. Spoiler: Das war eine ziemlich blöde Idee.«
»Was du nicht sagst. Und deine ein Meter zwanzig passten da nicht durch?«
Mein triumphierendes Lächeln verblasst sofort. Arschloch! Meine geringe Körpergröße ist ein heikles Thema. Außerdem bin ich seit dem letzten Mal, als er mich gesehen hat, einen ganzen Zentimeter gewachsen … Ich bin jetzt 1,53 Meter groß.
»Passt der da?«, kontere ich und zeige ihm den Mittelfinger.
Er hat keine Gelegenheit, mir zu antworten, und scheint von meiner vulgären Antwort auch nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Mein Telefon klingelt. Es ist Kate, meine Managerin. Ich kehre Thomas den Rücken zu und antworte leise:
»Hey.«
»Wo bist du? Ich suche dich seit einer Stunde! Sallie hat mir gesagt, dass du längst weg bist.«
Sallie ist meine Choreographin, mit der ich einen guten Teil des Tages verbracht habe.
»Ich war noch im Café …«
Sie seufzt. Sie mag es nicht, dass ich so häufig Pausen mache. Wenn es nach ihr ginge, würde ich auch noch im Schlaf proben. Ich bin mir sicher, sie bedauert, dass ich nicht schlafwandele oder schlaflos bin. Manchmal macht sie mir Angst.
»Komm nach Hause, ich muss mit dir reden«, sagt sie und legt auf.
Als ich mich umdrehe, ist Thomas verschwunden.
Ich bin todmüde, als Finn in meiner Einfahrt parkt. Ich habe das Glück, ein vom Stadtzentrum einigermaßen abgelegenes Haus gefunden zu haben, das von Bäumen und Bambus umgeben ist. Ich liebe es, auch wenn ich mich dort einsam fühle.
»Finn.«
»Ja, Daisy?«
»Weißt du zufällig, was Kate von mir will? Falls sie mir die Leviten liest, möchte ich ausreichend vorbereitet sein: kugelsichere Weste, Captain-America-Schild und dieser ganze Kram. Oder sollte ich lieber gleich die Fliege machen? Meinen Namen ändern? Ich habe das Gefühl, dass ich in einem anderen Leben eine … Natasha sein könnte. Klingt irgendwie stilvoll … geheimnisvoll … nach russischer Spionin. Wie Black Widow.«
Kate war schon immer streng, aber in letzter Zeit ist sie besonders gereizt. Mein zweites Soloalbum kommt in drei Monaten heraus, und sie erklärt mir jeden Tag, dass die Öffentlichkeit mich auf dem Schirm hat. Ich verbringe also meine Tage im Studio oder im Tanzsaal, um sicherzugehen, dass alles perfekt ist.
Immerhin konnte ich Kate davon überzeugen, dass ich für das neue Album meine eigenen Lieder schreiben durfte. Das erste war zwar ganz nett, passte aber überhaupt nicht zu mir. Mein Genre ist Rock, und ich bin ein Riesenfan von Panic! at the Disco und Måneskin. Leider wurde ich damals gezwungen, bunten Kleinmädchen-Pop zu einer sexy Choreografie zu machen.
Dieses Mal mache ich, was ich will. Kate hat zugestimmt, unter der Bedingung, dass ich meine Tänzerinnen behalte; ich habe nachgegeben.
»Keine Sorge«, beruhigt mich Finn und schaut in den Rückspiegel. »Ich glaube, es geht um eine Änderung bei der Security.«
Na gut, umso besser. Finn öffnet mir höflich die Autotür, und ich lächele ihm zu. Micah und Javier haben recht, mein Bodyguard ist auf seine Art wirklich knackig. Aber er hat eine Freundin.
»Da bist du ja!«, begrüßt mich Kate, als ich durch die Glastüren eintrete. »Mein Gott, was sind denn das für Augenringe? Schläfst du genug? Du solltest nicht ungeschminkt aus dem Haus gehen.«
Ich weiß zwar nicht, wie ich bei meinem überfüllten Terminkalender ausreichend Schlaf bekommen soll, aber ich nicke, um sie zu beruhigen.
»Zieh die Klamotten aus, geh duschen und komm dann ins Wohnzimmer.«
Eine halbe Stunde später sitze ich in einer Leggings und einem schwarzen Clash-Pullover mit Kate auf meinem Vintage-Sofa.
»Gott sei Dank, jetzt siehst du wenigstens wieder wie ein Mädchen aus«, seufzt Kate missmutig. »Zumindest beinahe.«
Ich tue ihr nicht den Gefallen, darauf zu reagieren. Mir ist klar, wie sehr sie meine kleinen Fluchten hasst, aber das ist mir egal. Mir sind sie wichtig.
Finn hält sich in unserer Nähe auf und schaut aus dem Fenster. Wie die anderen vor ihm hat er gelernt, sich unsichtbar zu machen. Manchmal schneide ich ihm Grimassen, um zu sehen, ob ich ihn aus der Reserve locken kann.
Meist dreht er mir dann den Rücken zu, gerade wenn ich den Anflug eines Lächelns erkennen kann.
»Was ist das?«, frage ich, als meine Managerin ein paar Umschläge aus ihrer Tasche holt.
»Fanpost. Hier, lies mal einen der Briefe.«
Sie hält mir das Päckchen hin. Neugierig öffne ich einen Brief und beginne laut zu lesen. Sofort fällt mir der Name Frank auf. Ich grinse. Was er wohl dieses Mal von mir will?
Ich lese weiter, und mir gefriert fast das Blut in den Adern. Bis heute ist Frank trotz seiner (zu) großen Leidenschaft immer höflich geblieben, aber hier rastet er völlig aus.
Wortreich verkündet er seine Liebe, oder besser gesagt, seine Besessenheit. Er schreibt, er wolle mein Haar spüren, den Duft meiner Haut riechen und seine Initialen in meine Brust ritzen, um mir seine ewige Liebe zu beweisen.
Das ist … verstörend. Hannibal-Lecter-verstörend.
Ein Schauder des Entsetzens rinnt mir über den Rücken.
»Und das ist nur einer von vielen«, sagte Kate. »Ich möchte dich nicht beunruhigen, du hast genug Stress, aber ich kann kein Risiko eingehen.«
»Okay … Verständigen wir also die Polizei?«
»Die Polizei? Wozu das denn? Nein, nein, das bleibt unter uns. Auf keinen Fall dürfen Journalisten davon erfahren und darüber berichten, bevor dein Album herauskommt. Aber wir erhöhen die Anzahl deiner Bodyguards.«
Ich erstarre und will sofort ablehnen. Finn hinter mir äußert sich nicht, aber ich ahne, wie unangenehm ihm die Vorstellung sein muss, nicht gut genug in seinem Job zu sein. Was mich betrifft, so würde das bedeuten, keine andere Wahl zu haben, als mich zu benehmen.
»Der Neue und Finn werden hier bei dir einziehen und dich rund um die Uhr abwechselnd überallhin begleiten. Keine Sorge, ich habe den Besten ausgesucht und seine Referenzen überprüft …«
»Wow. Was war das gerade? Langsam Kate, nicht so hastig!«
Zwar verstehe ich ihre Sorge, aber dieses Stückchen Privatsphäre, das ich hier zu Hause noch habe, ist alles, was mir bleibt. Sobald ich einen Fuß vor die Tür setze, beobachtet die ganze Welt jeden meiner Schritte.
Wenigstens hier gehöre ich ausschließlich mir selbst. Mein Haus ist mein Zufluchtsort, mein Heiligtum. Ich weigere mich, das aufzugeben. Umso mehr, als Finn und ich einige Zeit gebraucht haben, um zwischen uns ein Gleichgewicht und ein gewisses Vertrauen zu entwickeln, das ich zugegebenermaßen manchmal enttäuscht habe.
Und jetzt soll ich mit einem Fremden ganz von vorn anfangen?
»Ich glaube wirklich nicht, dass das nötig ist …«
»Dein Bruder ist auch meiner Meinung. Er ist sogar derjenige, der mir den Kandidaten empfohlen hat.«
Seit wann diskutiert Kate mit Hakeem über mein Leben? Denn nur um Hakeem kann es sich handeln. Calvin ist zu sehr mit seinem eigenen Leben beschäftigt, als dass er sich um meines kümmern würde. Unser Ältester hingegen mischt sich in alles ein, was mich angeht.
Dieser blöde, bartlose Verräter!
»Mir wäre es lieber, eine einstweilige Verfügung zu beantragen«, beharre ich verzweifelt. »Ich fühle mich schon genug beobachtet, Kate. Ich bekomme kaum noch Luft und habe Angst, zusammenzubrechen …«
»Das war keine Frage, Daisy. Tut mir leid, aber die Entscheidung ist bereits getroffen.«
Verstehe. Vermutlich hatte ich von vorneherein keine Wahl. Ich frage mich allerdings, warum ich überrascht bin. Seit mittlerweile acht Jahren verzichte ich auf das Privileg, Entscheidungen über mein eigenes Leben treffen zu dürfen.
Ich verschränke die Arme und tippe nervös mit der Fußspitze auf meinen Azteken-Teppich. Hat Kate überhaupt eine Ahnung, wie merkwürdig und beängstigend es ist, umgeben von zwei erwachsenen Männern zu leben, die mich zu jeder Tages- und Nachtzeit beobachten? Schon einer hat ausgereicht, dass ich die Krise bekam, so süß Finn auch sein mag.
»Für wie lange?«
»Ich weiß es noch nicht. Erst einmal auf unbestimmte Zeit. Wir werden sehen, wie sich die Sache weiterentwickelt …«
Ich muss mich wohl damit abfinden. Ich stehe auf und hole mir in der Küche ein Glas Wasser. Meine limonengrünen Schränke trösten mich.
»Da ist er ja«, ruft Kate, als in meiner gepflasterten Einfahrt ein Motorrad zu hören ist. »Pünktlich auf die Minute.«
»Jetzt schon?«
Sie begrüßt den Neuen, während ich in der Ecke sitze und vor mich hin schimpfe. Hakeem wird von mir hören, nur dass das klar ist! Im Wohnzimmer werden Stimmen laut. Ich nutze die Gelegenheit, um ein paar Nachrichten zu verschicken.
An Hayley, Micah und Javier: SOS . Neues Kindermädchen!
An Hakeem: Ich bring dich um! und füge eine ganze Reihe von Messer- und Totenkopf-Emojis hinzu, um zu illustrieren, was mir durch den Kopf geht – ich bin ein eher visueller Typ. Versehentlich füge ich noch ein Wal-Emoji hinzu, schreibe aber sofort: Ups, sorry, nicht Moby Dick!
»Daisy?«, meldet sich Finn mit einem schüchternen Lächeln am Eingang zur Küche. »Du wirst erwartet.«
Ich atme tief durch, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, und folge ihm ins Wohnzimmer. Kate und der Neue stehen mit dem Rücken zu mir.
»Ah, da ist sie ja!«, lächelt Kate und dreht sich um. »Daisy, das ist Thomas Kalberg, dein neuer Bodyguard.«
Heilige Scheiße.