28

F*ck Everyone

»Can we go back
to when I didn’t hate my life?«

Daisy

Ich erkenne das Geräusch sofort.

Thomas drückt mich an sich und bedeckt meinen Kopf mit seinen Händen, doch es ist zu spät. Ich weiß es. Jemand hat gerade ein Foto von uns gemacht. Ich bin erledigt. Ich stoße Thomas von mir und drehe mich um, um es mit eigenen Augen zu sehen.

Mein Blick trifft den von Colin, der keine Anstalten mehr macht, sich zu verstecken. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck fotografiert er einfach weiter. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber plötzlich gehe ich auf ihn zu.

Ich werde zu Hause beobachtet. Ich werde draußen beobachtet. Ich werde überall und ständig beobachtet, und ich habe Angst vor einer Kurzschlusshandlung.

Thomas will mich zurückhalten. Ich reiße mich los. Colin sieht mich näherkommen, bewegt sich jedoch keinen Schritt.

»Das hier ist privat«, sage ich mit zitternder, aber fester Stimme.

Unbeirrt senkt er die Kamera. Etwas breitet sich in mir aus. Ein Gefühl von Verrat und Verletzung und eine unendliche Erschöpfung. Ich bin es so leid, mich zu verstecken, mich zu verstellen und selbst für den bloßen Schein einer Privatsphäre kämpfen zu müssen. Ich bin hierher gekommen, um dem Giftsog der sozialen Netzwerke und der Paparazzi zu entgehen, die vor meinem Haus campieren!

»Sieht tatsächlich ganz danach aus«, antwortet Colin. »Er hat nicht gelogen …«

Ich erstarre. Wer ist er ? Wenn ich darüber nachdenke, war Colin tatsächlich eine Zeit lang verschwunden, vor allem, nachdem Thomas ihn angegriffen hatte. Merkwürdig, dass er plötzlich wieder zur richtigen Zeit am richtigen Ort auftaucht. Wurde er informiert?

»Wer?«

»Ihr anderer Lover. Zach.«

Dieses Schwein. Wütend balle ich die Fäuste. Er hat es tatsächlich gewagt. Zwar droht er mir nicht mehr und hat alle Accounts gelöscht, aber er wollte sich dennoch rächen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.

Er lässt also nie locker und wird mir wohl das antun, was er Destiny angetan hat. Ist das die Zukunft, die mich erwartet? Deprimiert, die Karriere gescheitert und gezwungen, mich zu verstecken, weil ich Angst habe, dass jemand über mich herfällt? Kommt nicht infrage!

Trotzdem habe ich Angst. Angst, weil er überall ist, weil er mich beobachtet, weil er mir folgt und weil er mein ganzes Leben kontrolliert. Ich fühle mich wie in einem Käfig. Das muss aufhören.

Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, und sage:

»Lösch diese Fotos. Bitte.«

Colin lacht mir ins Gesicht, wirkt aber misstrauisch. Über meine Schulter hinweg beobachtet er Thomas, um sicherzugehen, dass mein Bodyguard ihn nicht überwältigt.

»Klar doch, selbstverständlich.«

»Ich bezahle dafür.«

»Ich wurde bereits bezahlt«, antwortet er lässig. »Diese Fotos sind eine Goldmine für meine Karriere. Du hättest es dir eben zweimal überlegen sollen, ehe du dich mit deinem Bodyguard eingelassen hast.«

Bevor ich antworten kann, legt Thomas seine Hand auf meine Schulter und zieht mich hinter sich her.

»Wir fahren nach Hause.«

Er ist mindestens genauso wütend wie ich, aber er bleibt friedlich, weil er spürt, dass ich kurz davor bin, eine Dummheit zu begehen. Daher entscheide ich mich, ebenfalls brav zu sein, und laufe mit ihm zum Motorrad. Am Geräusch seiner Kamera höre ich, dass Colin uns folgt.

»Wo wollt ihr hin? Wollt ihr zu Hause weitermachen?«

Nicht antworten, nicht antworten, nicht antworten.

Natürlich ruft unser Streit die wenigen Passanten auf den Plan, die sich allmählich zu uns umdrehen. Mein Herz schlägt schneller. Thomas stellt sich vor mich und reicht mir eine Sonnenbrille.

Aber Colin geht rücksichtslos neben mir her, wobei er mich fast anrempelt.

»Hau ab!«, fauche ich ihn an und versetze ihm einen heftigen Stoß. Er stolpert. »Du hast dein Foto bekommen, jetzt lass mich endlich in Frieden!«

»Hast du mich gerade berührt?«, fragt er und richtet sein Objektiv auf mich. Ich ahne, dass er filmt. »Was ist? Willst du mich etwa angreifen?«

Ich werde immer wütender. Ich hasse diese Reporter. Ich hasse sie alle. Sie sollen mich in Ruhe lassen, sie sollen aufhören, mir zu folgen, sie sollen mich nicht mehr anfassen, sie sollen vergessen, wer ich bin.

Am liebsten würde ich von der Erdoberfläche verschwinden.

»Wie lange geht das schon so?«, schreit Colin mir ins Ohr. »Ist es etwas Ernstes? Stimmt es, dass du Zach McRae mit ihm betrügst?«

»Wenn du dich nicht sofort verpisst, schlage ich euch kurz und klein – dich und deine Kamera«, droht Thomas mit eisiger Stimme.

Natürlich lächelt Colin nur arrogant.

»Man sollte eben nicht berühmt werden, wenn man ein paar Fotos nicht ertragen kann.«

Einige der Umstehenden filmen mit ihren Handys. Als wir endlich das Motorrad erreichen, kommt Colin mir so nah, dass er mich berührt. Ich versuche, hinter Thomas aufzusteigen, aber Colin bringt mich aus dem Gleichgewicht, und ich stolpere. Das bringt das Fass zum Überlaufen. Ich tue etwas Verrücktes.

Und es ist ganz einfach … Ich explodiere.

»Hau endlich ab, verdammtes Arschloch!«, schreie ich ihn an und packe ihn heftig am Kragen.

Für einen Moment scheint er mindestens ebenso überrascht zu sein wie ich. Ich versetze ihm einen groben Stoß und gehe bedrohlich auf ihn zu.

»Was genau ist euer Problem? Ich kann tun und lassen, was ich will, verstanden? Das ist mein Leben! Und wenn du nur noch ein einziges Foto machst, verklage ich dich wegen Belästigung!«

»Daisy!«

Ich ignoriere Thomas. Wut und Adrenalin elektrisieren mich, Angst und Erschöpfung tun das Übrige.

Ich fühle mich zum Äußersten getrieben. Die Paparazzi haben es geschafft, mich, die glückliche, lächelnde Daisy, die jeden liebte, an den Rand des Abgrunds zu befördern. Das ist der Lohn des Ruhms. Er nimmt einem alles, was man hat, und hinterlässt nur noch Schatten dessen, was man einmal war.

Colin hält endlich den Mund. Ich drehe mich um und besteige das Motorrad. Kaum habe ich mich umgedreht, höre ich erneut das unaufhörliche Klicken seiner Kamera.

Ich kann dieses Geräusch einfach nicht mehr hören!

Ich vergesse mich erneut und verpasse seiner Kamera einen so gewaltigen Schlag, dass sie mit voller Wucht auf den Boden kracht.

»Hey!«, ruft er wütend.

Jetzt kann ich nicht mehr aufhören. Ich nehme weder die Leute wahr, die uns filmen, noch höre ich Thomas, der meinen Namen schreit. Ich greife nach dem Gurt um Colins Hals, an dem eine weitere Kamera hängt, und schmettere das Gerät gegen einen Felsen.

»Handy her!«

»Verdammt, hast du völlig den Verstand verloren? Dafür wirst du bezahlen!«

Ich fasse mitten in sein Gesicht und stoße ihn zurück. Ich bin einfach nur wütend. Colin will sich wehren und meine Arme festhalten, stöhnt aber vor Schmerzen auf und lässt los.

Thomas steht hinter ihm und dreht ihm den Arm auf den Rücken.

»Ich hasse es, mich zu wiederholen«, knurrt er. »Wenn dir dein Arm wichtig ist, rate ich dir, sie nie wieder zu berühren. Hast du das verstanden?«

Colin keucht vor Schmerz und nickt schließlich. Schamesröte kriecht in sein Gesicht. An dem erschrockenen Gemurmel, das uns umgibt, erkenne ich, dass ich gerade einen riesigen Fehler begangen habe.

Doch der Adrenalinstoß war so stark, dass mir die Folgen egal sind.

Thomas lässt Colin los, zertritt die Überreste von dessen Geräten und nimmt meine Hand. Ich schwinge mich auf das Motorrad, lege meine Arme um seine Taille, und wir brausen los. Dabei lassen wir eine Menge Leute zurück, die in der Lage sind, meinen Ruf in Schutt und Asche zu legen.

Der Mistkerl hatte alles genau so geplant.

Als wir nach Hause kommen, ist auf Twitter bereits die Hölle los. Fotos, die uns beim Küssen am Strand zeigen, bestätigen, dass Colin tatsächlich ein Smartphone bei sich hatte.

Alle Welt gibt Kommentare dazu ab, als ob es nicht meine Privatsphäre wäre, um die es sich hier handelt. Als ob jeder dieser Unbekannten etwas über mein Leben zu sagen hätte. Als ob sie mich, Daisy Coleman, genau kennen würden, weil sie mich einmal in einer Serien-Rolle gesehen haben.

Man behauptet, dass ich mir nicht in die Karten schauen lasse, dass ich in letzter Zeit nachlässig werde und dass ich eine Heuchlerin und Lügnerin bin. Selbst diejenigen, die mich zur Zeit des Vogue -Skandals noch verteidigt haben, lassen mich dieses Mal völlig im Stich.

Diese Schlampe hat Zach betrogen! Wie kann sie es nur wagen?

Habe ich es mir doch gedacht! Ihr neuer Song handelt von ihr selbst!

Zach hat Besseres verdient, und endlich hat die Welt es begriffen.

Ihr Bodyguard? Ernsthaft? Ist er überhaupt einverstanden? Armer Kerl.

Von jetzt an geht’s bergab … Es war lustig, solange es andauerte. Bye bye!

Wow, jetzt knallt sie wirklich durch! Sie macht mir Angst … Ich wusste schon immer, dass ihr Lächeln nicht echt ist.

Sie ist genauso verrückt wie ihr Bodyguard. Heftig.

»Hör endlich auf, dir wehzutun!«, schimpft Thomas und nimmt mir das Handy weg. »Du bist ja geradezu süchtig nach dem Ding.«

Genau in diesem Moment beginnt es zu klingeln. Auf dem Display erscheint Kates Name. Es ist der dritte Anruf innerhalb von fünf Minuten. Ich habe keine Lust, ihr zu antworten, keine Lust, mit ihr zu reden.

»Lass mich«, erwidere ich und greife nach dem Telefon. »Ich tue, was ich will, okay? Wenn ich mir wehtun will, tue ich mir weh. Ich habe keinen Bock mehr darauf, dass jeder mir sagt, was ich tun soll. Also fang du nicht auch noch damit an!«

Thomas antwortet nicht. Sein Gesicht bleibt unbewegt, aber ich sehe, wie er die Zähne zusammenbeißt. Ich renne in mein Zimmer, schließe mich ein und brülle in mein Kopfkissen. Ich möchte schreien, etwas zerschlagen, was auch immer. Erneut öffne ich Twitter und schreibe, von einer verrückten Anwandlung gepackt, mit zitternder Hand einen Tweet.

Mir doch egal, wenn ihr nicht zufrieden seid.

Noch zögere ich, auf Enter zu drücken. Meine Nerven liegen blank. Ich will den Tweet gerade abschicken, als mein Telefon erneut zu klingeln beginnt. Erst überlege ich, den Anruf abzulehnen, denn ich bin sicher, dass es wieder Kate ist, doch dann erstarre ich.

Hakeem.

Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich nehme den Anruf an und halte mir das Handy ans Ohr.

»Hallo?«

Er sagt nichts. Den Tränen nahe beiße ich mir auf die Lippen. Er ist enttäuscht, ich weiß es, ich spüre es, ich höre es in seinem Schweigen. Mein Leben lang war mir wichtig, dass er stolz auf mich ist – er mehr als alle anderen.

Mein großer Bruder.

»Hakeem …«

»Sag mir, dass das nicht wahr ist!«, befiehlt er mit rauer Stimme. »Nicht er. Nicht Thomas.«

Weinend schließe ich die Augen. Eine Flut von Gefühlen prasselt auf mich ein.

»Ich liebe ihn«, stoße ich erbärmlich schluchzend hervor.

Er flucht leise. Nur Sekunden später schreit er mich an, wie blöd ich wäre, dass Thomas mich nie lieben würde, dass ich Mist gebaut hätte und dass er ihn mit bloßen Händen umbringen wolle.

Schon wieder versucht jemand, mich zu kontrollieren. Also schreie ich zurück.

»Das geht dich einen feuchten Dreck an, ist das klar? Verdammt, du bist nicht mein Vater! Kapiert? Also hör auf, dich so zu benehmen! Ich bin kein kleines Mädchen mehr, und ich mache, was ich will!«

Er verdaut meine Worte, die ihm sicher wehtun, aber er bleibt standhaft.

»Ich wusste, dass es eine blöde Idee war … Dieses Casting, die Serie, die Musik. Das alles ist dir zu Kopf gestiegen, Daisy. Es übersteigt deine Kräfte.«

Mir bleibt die Luft weg. Mit offenem Mund und schmerzendem Herzen stehe ich vor meinem Spiegel. »Es übersteigt deine Kräfte.«

»Wie bitte?«

»Du bist nicht mehr dieselbe«, fügt er kalt hinzu. »Du hast dich verändert, Dee. Dieses Mädchen, das ganze Tage auf irgendwelchen Yachten verbringt, statt mit uns zu telefonieren, das Nacktfotoshootings macht und ihr Privatleben in Zeitschriften zur Schau stellt, das ist nicht meine kleine Schwester! Du hast vergessen, woher du kommst. Du verlierst dich …«

Mir stockt der Atem. Alles, was ich fürchte, kommt aus seinem Mund, und jedes Wort ist wie ein Dolch mitten ins Herz. Ich fühlte mich einsam, aber wenigstens wusste ich, dass meine Familie hinter mir stand. Nur dass sie mich nun ebenfalls verlässt.

Niemand liebt mich. Alle machen mir Vorwürfe, obwohl ich nur versuche, mein Leben so zu leben, wie ich es für richtig halte. Obwohl ich mich nur darum bemühe, um meiner Leidenschaft willen in einem Haifischbecken zu überleben.

Wieso erkennt niemand, dass es mir schlecht geht?

Entmutigt weine ich immer mehr. Meine Stimme ist längst zu schwach zum Schreien. Rau stoße ich hervor:

»Seit sechs Jahren geht es mir schlecht, Hakeem. Seit sechs Jahren halte ich durch und hoffe, dass es jemand bemerkt. Seit sechs Jahren fühle ich mich einsam. Seit sechs Jahren fragt mich niemand, ob alles okay ist … Nichts ist okay. Ich kann nicht mehr atmen. Es geht mir miserabel. Ich ersticke, ich will nicht mehr.«

»Dee …«

Ich lege einfach auf und werfe in einem Anflug von Wut mein Handy gegen die Wand. Es ist vorbei. Ich bin fertig. Sie haben bekommen, was sie wollten. Ich höre auf.

Es übersteigt meine Kräfte.

Also tue ich das Einzige, was ich tun kann.

Ich ergreife die Flucht.