Eines Abends habe ich Mutter angerufen. Es war Frühling, das weiß ich, denn am nächsten Tag machte ich mit Fred einen Spaziergang um Borøya herum, und es war warm genug für ein Picknick auf der Bank am Osesund. Wegen des Anrufs hatte ich in der Nacht davor fast nicht geschlafen, und ich war froh, am Morgen jemanden zu sehen, und dass dieser Jemand Fred war, ich zitterte noch immer. Ich schämte mich, weil ich Mutter angerufen hatte. Es war gegen die Regeln, aber ich hatte es trotzdem getan. Ich hatte gegen ein Verbot, das ich mir selbst auferlegt hatte, und gegen ein Verbot, das mir auferlegt worden war, verstoßen. Mutter ging nicht ans Telefon. Ich hörte, wie sie mich sofort wegdrückte. Und trotzdem rief ich wieder an. Warum? Ich weiß es nicht. Worauf hoffte ich? Ich weiß es nicht. Und warum schämte ich mich?

 

Zum Glück war ich am nächsten Tag mit Fred zu einem Spaziergang auf Borøya verabredet, mein inneres Zittern ließ nach, als ich mit Fred gesprochen hatte. Ich holte ihn am Bahnhof ab, und als er sich ins Auto setzte, erzählte ich ihm, was ich getan hatte, Mutter angerufen, ich schüttete Fred auf dem Weg zum Parkplatz und auf dem ganzen Weg um Borøya herum mein Herz aus, aber er fand es nicht seltsam, dass ich Mutter angerufen hatte. Ich finde es nicht seltsam, dass du mit deiner Mutter sprechen willst. Ich schämte mich immer noch, doch mit ihm zu sprechen half gegen das Zittern. Aber ich habe ihr nichts zu sagen, sagte ich. Ich weiß nicht, was ich gesagt hätte, wenn sie ans Telefon gegangen wäre, sagte ich. Vielleicht habe ich gehofft, dass ich es plötzlich gewusst hätte, wenn sie ans Telefon gegangen wäre und gesagt hätte: Hallo? Mit ihrer Stimme.

 

Ich hatte mich selbst in diese Lage gebracht. Ich selbst hatte mich entschieden, Ehe, Familie, Land zu verlassen, vor fast drei Jahrzehnten, auch wenn ich nicht das Gefühl gehabt hatte, eine Wahl zu haben. Ich hatte meine Ehe und meine Familie für einen Mann verlassen, dem sie nicht über den Weg trauten, und für einen Beruf, den sie fragwürdig fanden, ich stellte Bilder aus, die sie beleidigend fanden, ich war nicht nach Hause gekommen, als Vater krank geworden war, ich war nicht nach Hause gekommen, als Vater gestorben war, für sie war das Entsetzliche, dass ich gegangen war, dass ich sie beleidigt hatte, dass ich nicht zu Vaters Beerdigung gekommen war, für mich war das Entsetzliche lange vorher passiert. Sie verstanden es nicht oder wollten es nicht verstehen, wir verstanden einander nicht, und doch rief ich Mutter an. Ich rief Mutter an, als wäre das ganz normal. Natürlich ging sie nicht ans Telefon. Was hatte ich gedacht? Was hatte ich erwartet? Dass sie ans Telefon gehen würde, als ob das ganz normal wäre. Für wen hielt ich mich, dachte ich, ich wäre wichtig, hatte ich gedacht, dass sie sich freuen würde? In Wirklichkeit ist es nicht wie in der Bibel, wo zur Heimkehr des verlorenen Kindes ein Fest gefeiert wird. Ich schämte mich, weil ich gegen meinen Schwur verstoßen hatte, und ich schämte mich Mutter und Ruth gegenüber, denn garantiert hatte sie Ruth von meinem Anruf erzählt, davon, dass ich meinen Schwur nicht halten konnte, während sie, meine Mutter und meine Schwester, ihren Schwur hielten und nicht einmal im Traum daran denken würden, mich anzurufen. Sie mussten erfahren haben, dass ich zurück war. Sicher googelten sie mich regelmäßig, wussten, dass eine Retrospektive meiner Bilder vorbereitet wurde, dass ich jetzt eine norwegische Nummer hatte, sonst wäre Mutter ans Telefon gegangen. Sie waren stark und konsequent, während ich schwach war und kindisch, ich fühlte und benahm mich wie ein Kind. Und außerdem hatten sie keine Lust, mit mir zu sprechen. Aber hatte ich Lust, mit Mutter zu sprechen? Nein! Aber noch einmal, ich war es, die sie angerufen hatte! Ich schämte mich, weil etwas in mir mit ihr sprechen wollte und weil ich ihr durch meinen Anruf gezeigt hatte, dass etwas in mir mit ihr sprechen wollte; brauchte ich etwas von ihr? Was sollte das sein? Vergebung? Vielleicht bildete sie sich das ein. Aber ich hatte keine Wahl gehabt! Warum rief ich sie dann an, was wollte ich eigentlich? Ich weiß es nicht! Mutter und Ruth glaubten, ich riefe an, weil ich bereute, sie hofften, dass ich bereute und dass ich litt, weil ich bereute, und dass ich alles wiedergutmachen wollte, aber Mutter ging nicht ans Telefon, denn so leicht sollte es nicht sein, dass sie und Ruth mich mit offenen Armen empfangen und aufnehmen würden, nur weil ich wieder da, wieder in Norwegen war und Kontakt haben wollte, o nein. Jetzt würde ich merken, was ich von meiner Entscheidung hatte und sie bereuen. Aber ich bereute sie nicht! Für sie sah es aus, als ob ich eine Wahl gehabt hätte, und das irritierte mich, aber Irritation ist leicht zu ertragen, Irritation ist nichts im Vergleich zu Scham, warum dieses lähmende Schamgefühl? Es half mir, mit Fred zu sprechen. Wir gingen über die Schieferwege am Meer, das voller schwimmender Enten und Schwäne war, an der Kurve beim Osesund fand ich Huflattich, ich sagte mir, das bringe Glück. Zu Hause stellte ich den Huflattich in einen Eierbecher mit Wasser, aber er war bald verwelkt. Jetzt ist Herbst, der erste September. Mein erster norwegischer Herbst seit dreißig Jahren.