Ich habe mit meiner Mutter seit dreißig Jahren nichts geführt, was ein Gespräch genannt werden kann, vielleicht habe ich das noch nie getan. Ich lernte Mark kennen, bewarb mich heimlich an dem Institut in Utah, wo er unterrichtete, ich wurde angenommen, ich zog mit ihm übers Meer, fort von meiner Ehe, meiner Familie, das passierte im Laufe eines einzigen heißen Sommers. Es stimmt, was gesagt wird, dass ein einziger Blick ausreichen kann, ein kurzer Augenblick, und ich brannte mit nicht zu löschender Flamme; es wurde als Verrat und Schlag ins Gesicht verstanden. Ich schrieb ihnen damals einen langen Brief und erklärte, warum ich getan hatte, was ich getan hatte, ich schüttete ihnen mein Herz in einem Brief aus, aber die kurze Antwort, die ich darauf bekam, schien, als sei dieser Brief vorher niemals geschrieben worden. Eine kurze, stumpfe Antwort mit Drohungen der Verbannung, aber der Erklärung, dass mir, wenn ich »zur Vernunft« käme und sofort die Heimreise anträte, vielleicht verziehen werde. Sie schrieben, als ob ich ein Kind wäre, über das sie ein Verfügungsrecht besäßen. Sie zählten auf, wie viel Geld und emotionale Kraft es gekostet hatte, mich großzuziehen, ich war ihnen einiges schuldig. Sie meinten das wortwörtlich, das begriff ich: dass ich in ihrer Schuld stand. Sie glaubten allen Ernstes, dass ich meine Liebe und meine Arbeit aufgeben würde, weil sie mir die Tennisstunden bezahlt hatten, als ich ein Teenager war. Sie nahmen mich nicht ernst, sie versuchten nicht, mich zu verstehen, stattdessen drohten sie mir. Vielleicht hatten ihre eigenen Eltern so große Macht über sie gehabt, vielleicht hatten sie selbst vor deren Worten so gezittert, vor allem vor den geschriebenen, dass sie glaubten, ihre eigenen würden auf mich eine ebenso starke Wirkung haben. Ich schrieb wieder einen langen Brief und erklärte, was das Kunststudium für mich bedeutete, wer Mark war. Wieder antworteten sie, als ob mein Brief nicht geschrieben worden wäre, als ob sie ihn nicht gelesen hätten, sie zählten Ausgaben auf, was die Wohnung gekostet hatte, die sie gekauft hatten, damit ich während meines Jurastudiums in der Nähe der Universität wohnen konnte, was meine Hochzeit gekostet hatte, die ich jetzt mit meinem unreifen Verhalten vor aller Welt lächerlich machte, ich ließ einen frischgebackenen Ehemann im Stich, beschämte seine Familie, stürzte sie in Unglauben. Ich müsse mir »die Gedanken, die dieser M« in mir gesät habe, aus dem Kopf schlagen. Nur wenigen Auserwählten gelinge es, von ihrer Kunst zu leben, es liege auf der Hand, dass ich nicht zu diesen gehörte. Das tat mir weh, ebenso dass sie ehrlich zu glauben schienen, solche Worthülsen würden mich dazu bringen, mein neues Leben aufzugeben, zurückzukehren zu emotionaler Erpressung, mich ihrer Form und ihren Erwartungen anzupassen, was für mich einer Selbstverstümmelung gleichkam. Ich antwortete nicht auf diesen Brief, im Dezember schrieb ich ihnen einen Weihnachtsgruß, eine freundliche, aber distanzierte Beschreibung der kleinen Stadt, in der wir wohnten, des Hauses, des winzigen Gartens, in dem wir Tomaten anpflanzten, ich erzählte von den Jahreszeiten in Utah. Ich schrieb, als wäre ihr voriger Brief nicht geschrieben worden, ich tat, was sie getan hatten, fröhliche Weihnachten! Ich bekam einen ähnlichen Brief zurück, kurz, distanziert, fröhliches neues Jahr! Ich schickte ihnen ab und zu einen Ausstellungskatalog oder eine Postkarte von einer Reise, ich schrieb ihnen, als John geboren war, und ich schickte ihnen ein Bild von ihm. Er bekam einen Brief zurück, Lieber John, willkommen auf der Welt, Gruß von Oma, Opa und Tante Ruth. Zu seinem ersten Geburtstag bekam er einen silbernen Becher mit der Post, Gruß von Oma, zum zweiten einen silbernen Löffel, zum dritten eine Gabel. In den ersten Jahren kam es vor, dass meine Schwester kurze Mitteilungen über die Gesundheit unserer Eltern sandte, wenn etwas Besonderes anlag, eine Nierensteinoperation, ein Sturz auf dem Eis, keine Anrede, keine Fragen, nur ein Satz über den physischen Zustand meiner Eltern, Ruth. Solange sie relativ gesund waren, kam das nur selten vor. Aus allem war herauszulesen, dass Ruth Mitleid verdient hatte, da sie sich allein um die beiden kümmern musste, dass ich egoistisch war, weil ich weggegangen war, ohne mir Gedanken zu machen. Sie schrieb, so empfand ich es, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen, aber vielleicht empfand ich es so, weil etwas in mir ein schlechtes Gewissen hatte? Ich antwortete, gute Besserung. Aber nachdem die Triptychen Kind und Mutter  1 und Kind und Mutter  2 in ihrer Stadt und meiner Stadt ausgestellt worden waren, in einer der angesehensten Galerien, vielbesucht und von der Presse beachtet, versiegten Ruths knappe Mitteilungen und Mutters Feiertagsgrüße. Auf Umwegen, über Mina, deren Mutter noch immer in der Nachbarschaft wohnte, erfuhr ich, dass sie die Bilder empörend fanden, dass ich der Familie Schande bereitete, vor allem Mutter. John be-kam weiterhin Geburtstagsbriefe, aber sie waren nicht mehr so zugewandt, ansonsten herrschte Schweigen. Ich wusste nichts über das alltägliche Leben meiner Eltern. Ich ging davon aus, dass es von Routine geprägt war, wie bei den meisten älteren, gutsituierten Menschen, sie wohnten noch immer in dem Haus, in das sie gezogen waren, als ich ins Teenageralter kam, in einem vornehmeren Stadtviertel als dem, in dem das Haus meiner Kindheit stand, ich hatte jedenfalls nichts anderes gehört. Ich hätte davon erfahren, wenn das Haus verkauft worden wäre und sie Ruth und mir schon einen Anteil unseres Erbes ausgezahlt hätten, sie waren sehr korrekte Menschen, wenn es um finanzielle Dinge ging. Es wäre leicht gewesen, sie vor mir zu sehen, in den Zimmern des Hauses, in dem ich selbst gewohnt hatte, aber ich sah sie nicht vor mir. Vor vierzehn Jahren, als ich in einem gemieteten Studio in Soho in New York stand und arbeitete und Mark im Presbyterian Hospital lag, teilte Ruth mir mit, Vater habe einen Schlaganfall gehabt und liege im Krankenhaus, mehr stand dort nicht, sie bat mich nicht, zu kommen. In den nächsten drei Wochen schickte sie mehrere kurze Nachrichten über Vaters Zustand, verwendete teilweise unverständliche medizinische Terminologie, nichts Einladendes lag in ihren Worten, keine Anrede, keine Nennung meines Namens, kurze Mitteilungen, zu denen sie sich gezwungen fühlte, ich dachte, sie wollte nicht, dass ich kam. Meine Anwesenheit wäre eine Zumutung. Ich hatte keine Rolle zu spielen, es wäre allen unangenehm, wenn ich da wäre, mir selbst war die bloße Vorstellung unangenehm, ich wünschte Vater gute und schnelle Besserung. Am 20. November schrieb sie, er sei tot, das überraschte mich, ich stand noch immer im Atelier in Soho, Mark lag noch immer im Presbyterian, ich fuhr nicht hin, ich dachte nicht daran, hinzufahren und zur Beerdigung zu gehen. Sie baten mich auch nicht darum, Ruth schrieb, er werde dann und dann begraben werden, da und dort, Punkt. Am Tag nach der Beerdigung kam eine Nachricht von Ruths Telefon, aber sie war von beiden verfasst, dort stand wir, und sie war unterschrieben mit Mutter und Ruth, ein Abschiedsgruß. Mutter habe es sehr getroffen, dass ich nicht an Vaters Krankenbett heimgekehrt, nicht zu Vaters Beerdigung gekommen war, es habe sie fast umgebracht, stand dort, in gewisser Weise hatte ich sie symbolisch getötet, so hatte sie es formuliert, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, ich habe diese Mitteilung nicht gespeichert, ich habe sie damals sofort gelöscht. Das bereue ich jetzt, es wäre interessant, sie heute noch einmal zu erleben, ich meine, sie jetzt noch einmal zu lesen, im September. Ich verstand diese Mitteilung als Vorwand, mich endgültig zu verstoßen und mir das Endgültige zur Last zu legen. Die Geburtstagsgrüße an John versiegten.

 

Wir hatten nicht länger »kaum Kontakt«, wir waren jetzt verfeindet, das war mir klar, aber es beeindruckte mich nicht, ich arbeitete, ich kümmerte mich um Mark und um John. Das Haus wurde verkauft, Mutter kaufte eine Wohnung, ich erhielt eine Abrechnung, einen Geldbetrag und einen sachlichen Brief von einem Anwalt, ohne Mutters neue Adresse, aber gut. Wenn wir zu einem kurzen Besuch im Land waren, sagten wir ihnen nicht Bescheid, als Mark starb, sagte ich ihnen nicht Bescheid, sie hatten ihn nie kennengelernt und hatten nie den Wunsch geäußert, ihn kennenzulernen. Als John vor vier Jahren nach Europa ging, nach Kopenhagen, sagte ich ihnen nicht Bescheid, warum hätte ich das tun sollen, sie hatten ihn nie kennengelernt. Ich sprach mit Mina, ich sprach mit Fred. Aber als das Skogum-Kunstmuseum beschloss, in zwei Jahren eine große Retrospektive meiner Werke zu zeigen, begann die Stadt meiner Kindheit, mich in meinen Träumen heimzusuchen. Als es immer häufiger zu Kuratorengesprächen darüber kam, welche Werke ausgestellt werden sollten, suchte sie mich auch tagsüber heim. Ich hatte versprochen, mindestens ein neues Bild fertigzubekommen, aber ich brachte nichts zustande, ich stand tagelang vor unterschiedlichen Leinwänden, doch mir schien alles belanglos. Mir fiel auf, dass ich seit meiner manischen Phase nach Marks Tod nichts Wesentliches mehr produziert hatte, nicht seit ich im Atelier gestanden hatte, um mit meiner Trauer um ihn fertigzuwerden. Die Trauer war jetzt weniger intensiv, war das der Grund dafür, und dass ich jetzt allein wohnte – in allem, was uns gemeinsam gehört hatte? Ich beschloss, nach Hause zu ziehen, ich nenne Norwegen noch immer mein Zuhause, nur für eine gewisse Zeit, bis zur Ausstellungseröffnung. Ich sagte ihnen nicht Bescheid, warum hätte ich das tun sollen? Ich vermietete das Haus in Utah, mit den Einnahmen und der Witwenrente von Mark konnte ich eine schöne Wohnung in dem neuen Stadtteil am Fjord bezahlen, mit einer eingebauten Dachterrasse, die ich als Atelier nutzen konnte. Jetzt wohne ich in derselben Stadt wie Mutter, viereinhalb Kilometer von ihr entfernt, ich habe ihre Adresse über die Onlineauskunft herausgefunden, sie wohnt in der Arne Bruns gate 22, das ist näher an der Innenstadt als die Häuser, in denen ich aufgewachsen bin. Über die Onlineauskunft fand ich auch ihre Telefonnummer heraus.