Ich habe Mutter angerufen. Es war abends, es war vielleicht zehn Uhr, ich ging davon aus, dass sie allein war. Ich stellte mir vor, dass sie vor dem Fernseher saß. Nein, so habe ich es mir erst im Nachhinein vorgestellt, ich sah kein so konkretes Bild vor mir, dass ich sie anrief, war ein spontaner Impuls, ich hatte die Idee, und ich rief an, ehe ich es mir anders überlegte. Ich hatte zwei Glas Wein getrunken. Mutter ging nicht ans Telefon. Das heißt, mein Anruf wurde zurückgewiesen. Vielleicht hatte Ruth meine Nummer in Mutters Telefon blockiert? Ruth meint bestimmt, dass es Mutter nicht guttun würde, mit mir zu reden, und das ist sicher richtig, in gewisser Hinsicht. Ruth weiß, dass ich in der Stadt bin, und sie hat Angst, ich könnte Mutter anrufen. Sie will jeglichen Kontakt verhindern. Meine Schwester beschützt Mutter, und sie beschützt sich selbst, indem sie meine Nummer in Mutters Telefon blockiert. Ich glaube nicht, dass Mutter das von sich aus tun würde. Sie ist in technischen Dingen immer hilflos gewesen, so erinnere ich mich daran. Obwohl sich viel verändert haben kann, vor allem seit Vaters Tod. Mutter ist in praktischen Dingen vielleicht geschickter geworden, doch ich bilde mir ein, dass Ruth das meiste erledigt, vor allem, wenn es um das Telefon geht. Aber vielleicht glaube ich, dass Ruth meine Nummer blockiert hat, weil ich hoffe, dass etwas in Mutter will, dass ich anrufe. Mutter ist es nicht gleichgültig. Egal, wie sehr sie mich aus ihrem Inneren entfernen konnte, sie hat es nicht so weit geschafft, dass sie meiner eventuellen Gleichgültigkeit gegenüber gleichgültig wäre. Durch meinen Anruf habe ich Mutter eine Form von Bedeutung gegeben. Ich glaube, die will sie haben. Auch wenn sie glaubt, dass ich angerufen habe, um ihr Vorwürfe zu machen, aber das kann sie nicht glauben nach all den Jahren, nach dreißig Jahren.