Im Haus neben dem, in dem ich aufgewachsen bin, wohnte eine ältere Frau, eine Witwe, Frau Benzen. Alle Kinder hatten Angst vor Frau Benzen, sie befahl uns, leise zu sein, wenn wir spielten, schimpfte uns aus, wenn wir uns gegen ihren Zaun lehnten, drohte mit der Polizei, wenn wir uns eine von den Kirschen schnappten, die im Sommer an ihren Zweigen über dem Bürgersteig hingen. Irgendwann begriff ich, dass auch Mutter, die damals jung war, Angst vor Frau Benzen hatte. Es ist eine meiner frühesten Erinnerungen, und es tut noch immer weh, daran zu denken. Ich war vielleicht sieben, ich warf meinen Ball gegen die Garagentür, warf zu hoch, und der Ball landete in Frau Benzens Garten, und weil ich hinter den Fenstern niemanden sah, lief ich hinein, holte ihn aus dem Blumenbeet vor der Veranda, lief wieder hinaus und spielte weiter, als ich Frau Benzen auf einmal aus ihrer Tür und in Richtung unseres Tors gehen sah. Sie kam durch das Tor auf mich zu, packte mich am Arm und zog mich in unseren Garten, klingelte an unserer Tür, Mutter machte auf. Als sie Frau Benzen sah, fuhr sie zurück und wurde blass, Frau Benzen stauchte sie zusammen, weil sie ihr Kind nicht anständig erzogen hatte, das Kind, das verbotenerweise in ihrem Garten gewesen war und die Pfingstrosen zertrampelt hatte, Mutter blieb stumm. Ich hatte zwar nicht damit gerechnet, dass sie mich verteidigen würde, aber ich hatte gehofft, sie würde fragen, was geschehen sei, sie tat beides nicht, Mutter stand stumm vor Frau Benzen und sah verängstigt und kindlich aus, und als Frau Benzen gegangen war, sank Mutter mit zitternden Knien auf einen Stuhl. Mutter blieb sprachlos, was hatte ich gerade erlebt? Dass sie nicht stark war, obwohl sie mir gegenüber so mächtig war? Irgendwann musste sie sich von einer ängstlichen und sprachlosen Person in eine redselige und kommunikative verwandelt haben, wann war das passiert?
Aber vielleicht waren Angst und Sprachlosigkeit zurückgekehrt, als Vater gestorben war, und deshalb ist sie nicht ans Telefon gegangen, als ich anrief, sie hat Angst vor mir. Das Telefon klingelt, und Mutters Brust schnürt sich zusammen bei dem Gedanken, dass ich es sein könnte. Mutter denkt zurück an ihr Leben, wie ältere Menschen das angeblich tun, das Bild einer Erinnerung an mich taucht auf, und ihr Herz hämmert vor Angst. Mutter sieht eine Zeitungsnotiz über die Retrospektive, und ihr Blut gefriert in ihren Adern zu Eis. Die Angst macht den Menschen erfinderisch, Mutter phantasiert mich in meiner Abwesenheit schlimmer, als ich bin. Aber ich glaube, sie empfindet wahrscheinlich eher Zorn als Furcht. Und vermutlich überschätze ich meine Bedeutung. Dass Mutter nicht ans Telefon gegangen ist, als ich anrief, bedeutet nicht, dass ich mit irgendeiner Empfindung verbunden bin. Mutter will einfach nichts mit mir zu tun haben müssen. Mutter hat wahrscheinlich Methoden entwickelt, um den Erinnerungen auszuweichen, die mit mir zu tun haben. Das ist nachvollziehbar, wenn man die Situation betrachtet, und doch ist es ein seltsamer Gedanke. Dazu sind unsere Leben geworden.