Wissen Ruths Kinder von mir? Sie muss doch erzählt haben, dass sie eine Schwester hat. Sie wissen, dass sie eine hat, aber sie fragen nicht nach ihr, es ist ein wunder Punkt. Bin ich ein wunder Punkt? Nein, wen interessiert eine alte Tante. Wenn Ruth oder Mutter von mir erzählen müssen, weil Grethe aus Versehen meinen Namen nennt, bei Mutters fünfundachtzigstem Geburtstag, der in diesen Tagen gefeiert wird, und wenn Ruths Kinder fragen: Wer ist das?, was antworten sie dann? Vermutlich geht die Geschichte so: Johanna war eine vielversprechende Jurastudentin, verheiratet mit einem soliden Anwalt, Thorleif Rød, aber im Frühjahr 1990 machte sie einen Abendkurs in Aquarellmalerei, verliebte sich Hals über Kopf in den amerikanischen Lehrer Mark Soundso und brannte mit ihm durch. Als Opa krank wurde, kam sie nicht nach Hause, auch nicht zur Beerdigung. Es ist eine Schande. Schluss, aus, Punkt. Oder so: Johanna war schon als Kind psychisch labil und unberechenbar, folgte ihren Impulsen, ohne sich über die Konsequenzen für andere oder für sie selbst Gedanken zu machen. Kam nicht zu Opas Beerdigung. Es ist eine Schande. Schluss, aus, Punkt. Nichts über meine Kunst, die sie vermutlich nicht als Kunst verstehen, sondern als Rachefeldzug. Und deshalb interessieren sie sich nicht für meine Kunst, es ist nicht gleich Kunst, bloß weil sie niemand versteht, ha, ha. Wenn Ruths Kinder also meinen neuen Nachnamen nicht erfahren, und von wem sollten sie ihn erfahren, werden sie nichts über meine Arbeit und über mich im Internet finden können, aber warum sollten sie.

 

Gibt es an diesen Geschichten nicht immer etwas, das nicht stimmt? Verhält sich so ein Kind, das seine Eltern liebt? Ja, manche tun das, ohne dass es das Geringste mit den Eltern zu tun hat, vor allem junge Frauen können sich dermaßen in einen Mann vergucken, dass sie alles hinter sich zurücklassen, um mit diesem Mann zu leben. Vermutlich ist es M., der Johanna verbietet, Kontakt zu ihrer Familie zu haben, sie wissen nicht, dass er tot ist. Mutter hat es so oft zu anderen gesagt, dass sie es selbst glaubt, aber wenn dem so wäre, dann wäre sie ans Telefon gegangen, als ich endlich anrief! Und das hat sie nicht getan. Es hat also mit meiner Arbeit zu tun, die sie ihrer Ansicht nach bloßstellt, das Triptychon Kind und Mutter  1 , auf dem die Mutter in einer Ecke steht, streng verschlossen um ihr Innerstes, mit schwarzen implodierenden Augen, und das Kind zusammengekrochen in der anderen Ecke sitzt, und wer will, kann sehen, dass der Schatten, der über beide fällt, einem Mann in Anwaltsrobe ähnelt. Ich hätte es nicht gemalt, wenn ich nicht in Utah gelebt hätte, achttausend Kilometer weit weg, deshalb bin ich nach Utah gezogen, achttausend Kilometer weit weg. Als die Anfrage kam, ob ich in der Stadt meiner Kindheit ausstellen wolle, wollte ich zuerst nicht, dann überredete Mark mich. Die Bilder waren ein Erfolg gewesen in Deutschland, Kanada, Japan, und die, die über sie geschrieben hatten, hatten überhaupt nicht erwähnt, dass die Mutter des Bildes der Mutter der Künstlerin nachempfunden sein musste, das Motiv war die Mutter allgemein , und deshalb konnten so viele Menschen etwas mit dem Bild anfangen, denn wenn du ausgehend von dir selbst etwas erschaffst, kann es mit vielen anderen in Verbindung treten, sagte Mark, er kannte Mutter und Vater nicht. Für sie war die Tatsache, dass Nachbarn und Bekannte die Bilder als Nachricht der Tochter aus Übersee betrachten könnten , schon ein Verrat an sich. Dass ich die Bilder gemalt hatte, ohne zu denken: Wie werden Vater und Mutter das erleben? Die Frage, die sich jedes Kind stellen müsste, ehe es etwas tut. So, wie Vater immer wieder die tiefe Stimme von Großmutter Margrethe Hauk konsultiert hatte, ehe er einen Entschluss fasste. Vater nahm das Kreuz auf sich, dem biblischen Gebot zu folgen, während ich mir die Freiheit und die Frechheit herausnahm, der Stimme von Mutter und Vater in mir nicht zu gehorchen. Ob es für mein Überleben notwendig gewesen war, diese Bilder zu malen, tauchte in ihrer Gleichung nicht auf.

 

Aber das Schlimmste von allem: Vater starb, und ich kam nicht zur Beerdigung.