Mutter nickt auf dem Balkon ein. Sie genießt es, dort in der Nachmittagssonne zu sitzen, sie kann die rote Kugel der Sonne zwischen den hohen Bäumen, die noch immer Blätter tragen, sehen. Aber dann schaut sie auf die Uhr, steht auf und geht ins Schlafzimmer, wo ein Bett steht, ein Bett für eine Person? Ruth hat ihr geholfen, Möbel zu kaufen, vielleicht haben sie sich für ein Doppelbett entschieden, weil Mutter ihr ganzes Erwachsenenleben in einem geschlafen hat, und für den Fall, dass sie sich einen neuen Freund zulegt, Freds Tante hat mit einundachtzig einen neuen Mann kennengelernt, sie scheint glücklich zu sein. Vielleicht haben sie ein Bett für eine Person gekauft, 1,20 Meter, und neue Bettwäsche. Neue Bettwäsche zu kaufen ist eine symbolische Handlung. Sie haben bestimmt viel weggeworfen, als sie das große Haus ausgeräumt haben, sie haben Vaters Sachen und das, was noch von mir dort war, ausgeräumt, das muss sehr therapeutisch gewirkt haben. Sie haben Vaters Sachen mit liebevollen Händen ausgeräumt, haben Anzüge und Schlipse gestreichelt und an alten Pullovern, Mützen, Schals gerochen, haben sie zusammengefaltet und ehrfürchtig in Kartons gelegt, die sie zur Heilsarmee bringen, Schuhe, Socken, Unterwäsche, ein Mensch hinterlässt so viel. Die Heilsarmee ist gut, jetzt laufen andere in Vaters Anzügen und Schuhen herum, vielleicht bin ich auf der Straße an einem von Vaters Anzügen vorbeigekommen. Vielleicht hat Mutter einzelne Erinnerungsstücke behalten, den Ehering und die Uhr, sie bewahrt sie in ihrer Nachttischschublade auf, öffnet sie sie abends, sieht die Dinge an und denkt an Vater? Das glaube ich nicht. Es muss seltsam sein, so lange mit einem anderen Menschen zusammengewohnt zu haben, einander so nahe gewesen zu sein, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Jahr für Jahr, dann stirbt der eine und wird zu Erde. Ich habe gehört, dass Tiere, die sehr eng zusammenleben, einander unweigerlich liebgewinnen, dass aber Menschen, die dasselbe tun, sich mit derselben Wahrscheinlichkeit hassen können. Hat Mutter jemals etwas mit Vater geführt, das einem tiefgreifenden Gespräch ähnelt? Nein, das wäre zu gefährlich gewesen. Sie haben über ungefährliche Dinge gesprochen, Ruths Kinder, Vaters Fälle in der Kanzlei, die Rosen im Garten, ihre Spezialdisziplin, da war immer schon diese Distanz, schon damals, als ich sie kannte, dann starb Vater, und Mutter fehlt jemand, mit dem sie über Blumen sprechen kann. Mutter hat alte Bettwäsche und alte Handtücher weggeworfen und neue gekauft, das neue Leben in einer neuen Wohnung sollte beginnen. Ich habe noch immer eine Garnitur Bettwäsche aus dem Haus meiner Kindheit, ich habe sie zufällig bei meinem ersten Umzug mitgenommen, und seitdem ist sie überallhin mit umgezogen. Aus unerklärlichen Gründen begleiten mich auch ein paar andere Dinge aus meiner Kindheit, ich bewahre sie auf, sind sie für mich zu symbolisch geworden, um sie wegzuwerfen? Einen verzierten Aschenbecher aus Messing aus Vaters Zeit in den Niederlanden, einige Brotbrettchen aus Teak, die er als Kind im Werkunterricht gebastelt hat, zusammen mit einem Kleiderbügel, in den sein Name eingebrannt ist. Sie können mich nicht aus der Geschichte herausdichten, ich habe Beweise. Ich kann nur im Besitz dieser Dinge sein, weil ich in seinem Haus aufgewachsen bin. Sie haben keinen Wert, es sind leblose Gegenstände, warum werfe ich sie nicht weg, ich benutze die Bettwäsche aus meinem Elternhaus nie, wenn ich ein Bett beziehen will. Aber nicht einmal, als ich hergezogen bin, habe ich sie weggeworfen, ich werde es tun, wenn ich aus dem Wald nach Hause komme, ich bleibe das ganze Wochenende in der Hütte.

 

Mutter zieht sich aus. Sie legt die Kleider über einen Stuhl, fühlt sie sich in diesem Augenblick am einsamsten? Sie ist bleich, sie war noch nicht in der Wintersonne am Mittelmeer, ich erinnere mich an Mutters weiße Haut, die Sommersprossen auf der Brust, die sonnenverbrannten Wangen in den vielen Sommern im Gebirge, sie zieht ihren Schlafanzug an und darüber eine Kaschmirjacke, die nicht zusammengefaltet werden darf, sondern auf einen Kleiderbügel gehört. Mutter zieht Pantoffeln an und geht ins Wohnzimmer, setzt sich in ihren Lieblingssessel und schaltet den Fernseher ein, sie sieht sich einen Dokumentarfilm über wilde Tiere in Afrika an. Das ist beruhigend, deshalb lasse ich sie diesen Film sehen. Stattliche Antilopen mit weißem Bauch grasen unter einem hohen blassblauen kenianischen Himmel, die Sonne scheint auf die Ebene, die dieselbe Farbe hat wie die Tiere. Es ist heiß dort, während es hier kälter wird, der Herbst kommt, und wer viele Herbste erlebt hat, erkennt ihn sofort. Mutter sehnt sich nach Wärme, will aber nicht nach Afrika, Afrika ist besser im Fernsehen, aber das kann ich nicht wissen, vielleicht hat Ruth Mutter und ihre ganze große Familie zu einer Safari in Afrika eingeladen, als Mutter achtzig wurde, und deshalb erinnert der Film Mutter an damals, als sie zusammen in der Serengeti in einem Zelt gewohnt haben. Die Antilopen grasen so ruhig in der Savanne, die Kamera zoomt auf eine Löwenfamilie im Schatten unter den Akazien. Zwei Mütter träge auf der Seite, ihr Fell hat dieselbe Farbe wie das trockene Gras, vier spielende Kinder, der männliche Löwe einige Meter weiter, mit erhobenem Kopf. Dann wieder zurück zu den grasenden Antilopen, Sonntagmorgenmusik, aber uns kann sie nicht trügen, denn die Löwenmütter haben sich erhoben, schleichen durch das Gras, die Musik jetzt bedrohliche Nacht, eine Löwenmutter nähert sich der Herde, die andere schleicht sich in einem Bogen von hinten an, läuft wie ein Schatten durch das hohe Gras, die Herde bemerkt sie und setzt sich in Bewegung, eine graue Wolke am Steppenhimmel, Gnade der Langsamsten, die die letzte Spitze der Wolke bildet. Sei nicht ganz vorn dabei, sagte die Mutter zu ihrem Sohn, der in den Krieg zog, und häng nicht hinterher, gehe in der Mitte, die, die in der Mitte gehen, kommen zurück, aber wie soll das Antilopenjunge, auf das sich die Kamera richtet, in die Mitte gelangen, wenn alle anderen schneller laufen und niemand sie rettet, ich glaube, dass es ein Weibchen ist. Die andere Löwin passt das Junge ab, sie jagen zu zweit, sie springt ihm auf den Rücken, beißt sich fest, die Antilope rennt weiter, die zweite Löwin kommt dazu und lässt ihre Zähne in den Hals der Antilope sinken, zwei Löwinnen in ihrem Körper, die Antilopenbeine laufen langsamer, bis sie nachgeben, und das Blut sickert aus den Wunden, vor allem am Hals, alles den Löwenkindern zuliebe. Der weiße Bauch prallt auf den Boden, die Löwin, die auf ihr gesessen hat, springt ab, beide beißen sich in den Hals, die Augen quellen aus dem Gesicht der Antilope, schwarz und voller Angst, ihr Leib zittert, noch ist sie nicht tot, die Löwenkinder kommen glücklich angelaufen, Vater speist zuerst, Mutter schaltet den Fernseher aus.

 

Sie steht auf, vielleicht schwerfällig, vielleicht mit Leichtigkeit, geht ins Badezimmer und betrachtet sich im Spiegel, mit der Zahnbürste im Mund. Sie löst ihre Haare, und sie fallen ihr über die Schultern, ich glaube nicht, dass sie sie kurz geschnitten hat, möglicherweise sind sie grau geworden, aber dann färbt sie sie, ein so großer Teil ihrer Identität ist mit den roten Haaren verbunden, das Feuer aus Hamar. Mutter geht in die Küche, lässt Wasser in ein Glas laufen und geht barfuß ins Schlafzimmer, setzt sich aufs Bett, legt sich eine Schlaftablette auf die Zunge, trinkt, schluckt, legt sich hin und wickelt sich in die Decke, wie jede Nacht seit Vaters Tod. Dieser Augenblick interessiert mich. Die halbe Stunde, ehe die Tablette wirkt. Mutter im Bett. Wartend, nachdenkend. Worüber? Den vergangenen Tag. Den kommenden Tag, den Friseurtermin. Und danach, was dann?