Von hier aus dauert die Fahrt vierzig Minuten. Wäre ich von der Stadt aus gefahren, würde es nur halb so lange dauern, aber es wäre etwas anderes. Von hier aus ist es eine Expedition, eine Strecke, die ich noch nie vorher gefahren bin. Zuerst die verkehrsarmen, flachen Landstraßen, dann verdichtet sich der Verkehr, und ich passiere die Stadtgrenze und erreiche die Autobahn aus einer ungewohnten Richtung, dann biege ich ab. Mein Herz pocht mir bis zum Hals, meine Kehle brennt, während ich näher komme, ich weiß nicht, was ich hier mache, das ist der Punkt, das muss ich herausfinden. Ich bin anders ins Auto gestiegen als sonst, aufmerksamer, denn egal, was passiert, ich werde etwas über mich lernen, ich bin gespannt, was es ist. Ich fahre langsam, ich irritiere die Wagen hinter mir, ich dehne den Weg, dann bin ich auf einmal da, ganz plötzlich, als ob ich – weil es emotional so anstrengend war herzufahren – erwartet hätte, dass es schwer zu finden wäre, aber das ist es nicht, ich bin schon vorbeigefahren, ein völlig unaufgeregter Ort mit vielen Parkmöglichkeiten, aber ich setze nicht zurück, ich fahre um den Block herum und biege noch langsamer in dieselbe Straße, vorbei an Nummer 22, einem roten Klinkerbau mit einem ganz normalen Eingang, ich fahre noch einmal um den Block, biege zum dritten Mal in die Arne Bruns gate, hinter dem Klinkerbau entdecke ich vor einem ähnlich aussehenden Haus einen Parkplatz, ich fahre daran vorbei, wende auf der Kreuzung, fahre zurück und parke so, dass ich Mutters Haus ungefähr zwanzig Meter weiter auf der rechten Seite sehen kann. Meine Beine zittern, was mache ich hier, ich weiß es nicht, ich warte auf Mutter. Sie lebt, sie atmet weniger als hundert Meter von mir entfernt, wenn sie zu Hause ist, wenn sie am Leben ist, wenn sie tot wäre, hätte ich es erfahren. Das Gebäude schläft. Auf beiden Seiten des Eingangs stehen viereckige blaue hölzerne Blumenkästen, sie signalisieren etwas Förmliches, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass es in diesem fünfstöckigen Gebäude noch etwas anderes als private Wohnungen gibt, ich weiß nicht, in welchem Stock Mutter wohnt. Wenn es einen Fahrstuhl gibt, kann es jeder sein, bestimmt gibt es einen Fahrstuhl, das Haus sieht frisch renoviert aus. Zehn große Balkone schauen auf die Straße, alle voller Blumen. Aber auch an den Seiten gibt es Balkone, der von Mutter kann der Straße zugekehrt sein, wo ich sitze, aber auch einem der Nachbarhäuser, sie scheinen alle ungefähr gleichzeitig gebaut worden zu sein, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, viele Male renoviert, das hier ist eine gute Wohngegend. Ich sehe keine Menschen hinter den Fenstern, aber wer schaut schon um diese Zeit aus dem Fenster hinaus auf eine verschlafene Straße, es ist fünf nach zehn am Morgen. Kein Mensch, keine Autos. Ich verkrieche mich so tief in meinem Sitz, wie ich nur kann, aber das wird bald unbequem, ich setze mich etwas weiter auf, so weit ich es wage, schalte das Radio nicht ein, obwohl ich mir sage, dass das nicht gefährlich wäre, aber es kommt mir gefährlich vor. Ich falte den Stadtplan, der neben mir liegt, nicht auseinander, es gibt keinen Grund, das zu tun. Ich sitze eine Stunde lang angespannt da, höre meinen eigenen Atem, überlege loszufahren, als eine Frau auf mich zukommt. Es ist nicht Mutter, es ist keine Frau über achtzig, das sehe ich sofort, ein einziger Blick, und ich weiß, dass es keine Frau über achtzig ist, dass es nicht Mutter ist, es ist eine Frau in meinem Alter, Ruth? Das kann nicht sein, sie hat keine Ähnlichkeit mit meiner Schwester, und außerdem geht sie an der Arne Bruns gate 22 vorbei, als wüsste sie nicht, dass sie durch Mutters Straße geht. Meine Schwester kennt sich in dieser Straße aus, meine Schwester wohnt siebzehn Minuten zu Fuß von hier entfernt, das habe ich bei der Onlineauskunft überprüft, aber vermutlich fährt sie mit dem Auto wie ich, sie ist jetzt bei der Arbeit. Aber wenn sie wider Erwarten an einem Dienstagvormittag kommt, um aus irgendeinem Grund Mutter zu besuchen, wird sie nicht auf die parkenden Autos achten, sondern auf die freien Parkplätze, wie dem vor mir, aber meine Schwester kommt nicht. Es kommt ein Hund, offenbar allein, er beschnuppert den Laternenpfahl vor mir, pisst und verschwindet. Ich sitze zweieinhalb Stunden hier, dann fahre ich zurück in den Wald, mein Körper fühlt sich schwer an. Ich halte auf der Ebene in der Nähe des dichten Nadelwalds und gehe, bis es dunkel wird, ich verlaufe mich, und ich finde Semmel-Stoppelpilze, die cremegelb leuchten auf dem dunklen Boden, ich finde zurück zum Auto, mit einer Tasche voller Pilze. Als ich auf meinem Parkplatz vor der Hütte halte, ist es so dunkel, dass ich den Pfad zwischen den Bäumen nicht erkenne, ich habe vergessen, die Lampen draußen anzuschalten. Es ist stockfinster, die Luft säuerlich, und das Heidekraut knirscht herbstlich trocken unter meinen Füßen, wenn jemand spioniert, wird er hören, dass ich komme, die Tiere hören mich kommen, ich beleuchte den Pfad mit meinem Telefon, sehe nicht weiter als einen Meter vor mir, ich leuchte nicht zum Wald hin, weil ich mich davor fürchte, menschenähnliche Gestalten zu sehen, vor wem habe ich Angst, Mutter? Erleichtert erreiche ich die Hütte, schließe die Tür auf, mache Feuer im Ofen, mache Feuer im Kamin, ziehe den Mantel erst aus, als das Thermometer achtzehn Grad zeigt, wie Mutter es uns beigebracht hat, immer wenn wir in Rondane ankamen, das habe ich im Blut. Es dauert kaum zehn Minuten. Ich bin so weit weg, dass es nicht wirklich passiert sein kann, trotzdem kommt es mir zugleich so vor, als wäre das Schlimmste vorbei, aber das ist es nicht.