Ruth wartet auf Mutter. Ruth holt Mutter nicht ab, denn sie steht in der Küche und kocht Hammeleintopf und Zitronencreme. Ruths vier Kinder sind alle über achtzehn und haben einen Führerschein, studieren aber in anderen Städten. Ruths Mann ist verreist, Ruth wartet auf Mutter. Sie kennen einander auswendig. Ruth ist Mutter am nächsten, Ruth ist die, die Mutter am besten kennt, und die, die in ihr tägliches Leben am engsten einbezogen ist, in Mutters Gesundheit. Auch Rigmor weiß Bescheid über Mutters Gesundheit, aber Rigmor hat mit ihrer eigenen Gesundheit genug zu tun, Rigmor ruft Mutter nicht jeden Morgen an und fragt, wie sie geschlafen hat. Und trotzdem stelle ich mir vor, dass Mutter sich zusammen mit Rigmor entspannter fühlt als mit Ruth. Vielleicht, weil das Zusammensein mit Rigmor nicht von Pflicht geprägt ist, weil es zwischen Mutter und Rigmor nicht auf dieselbe Weise ein Aufrechnen gibt. Ich bilde mir ein, dass es zwischen Ruth und Mutter ein Aufrechnen gibt, weil Mutter immer den Überblick darüber hat, was sie getan und beigesteuert hat, nie hat sie eine ihrer aufopfernden Taten vergessen, sie konnte sie jederzeit aufzählen, wie sie es in den Briefen an mich getan hat, die zugegebenermaßen vor Jahrzehnten geschrieben worden waren, aber trotzdem, das waren Listen mit in Klammern gesetzten Summen hinter mehreren Posten, als wären sie Beweis für ihre Fürsorge, während sie gleichzeitig zwischen den Zeilen zeigten, was im Gegenzug erwartet wurde. Mutter und Rigmor teilen kein Trauma. Ich bilde mir ein, dass Ruth und Mutter nicht locker miteinander umgehen können, Ruth war nicht entspannt, ich war es, die Mutters Leichtigkeit geerbt hatte, aber vielleicht ist Ruth mit den Jahren leichter geworden? Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Mutter und Ruth entspannt miteinander umgehen, wenn sie zusammen sind, dazu sind ihre Bande zu komplex, die Vergangenheit zu kompliziert, es muss anstrengend und anspruchsvoll sein, so große Bedeutung für einen anderen Menschen zu haben wie Mutter für Ruth, und umgekehrt, aber egal. Mutter sitzt in der Straßenbahn auf dem Weg zu Ruth und steigt bei Liabråten aus, spaziert die vier Minuten zu Ruths Haus, ich habe bei der Auskunft nachgesehen, ein weißes Einfamilienhaus, durchaus dem ähnlich, in dem wir aufgewachsen sind. Mutter klingelt, Ruth öffnet, und sie umarmen einander. Ruth hilft Mutter aus dem beigen Mantel und sagt, dass er schön ist, ich glaube, sie verwendet das Wort hübsch, es war ein guter Kauf. Mutter gibt ihr die Weinflasche, und Ruth sagt, das wäre doch nicht nötig gewesen. Im Haus riecht es nach Lamm, Mutter isst gern Hammeleintopf, Mutter hat ihre Hammeleintopfkünste an Ruth weitergegeben, Mutter hat so viel an Ruth weitergegeben. Mutter zieht ihre Stiefel aus und hat in ihrer Stofftasche ein Paar Hausschuhe, die zieht sie an und geht in die Küche, sie kennt den Weg. Ruth sieht sich die Weinflasche an, die sie bekommen hat, und öffnet sie, denn es ist ein besserer Wein als der, den sie vorbereitet hat, das sagt sie, und Mutter freut sich. Mutter kennt sich mit Wein aus, das hat sie von Vater gelernt, wie vieles andere. Mutter fragt nach den Kindern, obwohl sie eigentlich Bescheid weiß, aber sie sind ja dauernd unterwegs, diese jungen Menschen heutzutage, so ungefähr. Mutter bekommt ein Glas von dem guten Rotwein, den sie mitgebracht hat, und setzt sich auf einen Küchenstuhl. Jetzt geht es ihr gut. Jetzt sinkt sie auf eine gute Weise in sich zusammen. Ruth steht am Herd und kümmert sich um den Eintopf, sie hat mehr gekocht, als die beiden essen können, den Rest wird sie einfrieren. Sie reden über die Gäste in der Talkshow von Lindmo, Mutter fand, der eine Gast, eine Frau, habe viel dummes Zeug geredet. Ruth ist es gewohnt, dass Mutter die Gäste bei Lindmo kritisiert, vor allem die Frauen, und sie widerspricht normalerweise nicht, wozu sollte das gut sein. Es ist nicht wichtig für Ruth, dass Mutter begreift, wie sie über die Gäste bei Lindmo oder über die dort diskutierten Themen denkt. Da bin ich mir ziemlich sicher. Für Ruth ist Mutter wichtig, aber für Ruth ist es nicht wichtig, dass Mutter begreift, wie sie über komplizierte gesellschaftliche Zusammenhänge denkt, soweit Ruth überhaupt etwas über komplizierte gesellschaftliche Zusammenhänge denkt, ich kenne Ruth nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Ruth und Mutter, wenn sie zusammen sind, nicht über solche Dinge sprechen, sie essen, Ruhe senkt sich über sie, Ruth hat zum Nachtisch Zitronencreme gemacht, nach dem Rezept von Oma, der viel zu jung verstorbenen Großmutter mütterlicherseits, die weder Ruth noch ich kennengelernt haben. Zum Nachtisch trinken sie Portwein, keinen Kaffee, weil sie bald schlafen gehen, Mutter übernachtet bei Ruth. Ruth hat ein großes Haus mit vielen Zimmern und schickt Mutter mit ihren fünfundachtzig Jahren nicht durch die Dunkelheit und von rotem Ahornlaub glatten Straßen nach Hause. Oberschenkelhals, immer der Oberschenkelhals. Sie sitzen vor dem Kamin.
Es ist Viertel nach zehn, ich habe den Wärmestrahler auf der Terrasse eingeschaltet und draußen ein Feuer angemacht, ich wickle mich in eine Decke und schaue über den Fjord. Hinter mir liegt das Atelier, in dem ich seit langem nicht gearbeitet habe, ich öffne die Tür dorthin nicht, fast als wollte ich meine Gefühle nicht vermischen. Wenn Ruths Haus hoch gelegen ist, können sie von dort aus vielleicht etwas von dem sehen, was ich sehe, nur aus größerer Entfernung, vielleicht sogar den Fjord, aber ich glaube es eigentlich nicht. Mutter und Ruth schauen ins Feuer, Mutter hat die Füße Richtung Feuer gestreckt, sie friert so leicht. Ruth geht in die Küche, um das Gröbste aufzuräumen, Mutter schaut in die Flammen. Es ist noch nicht so lange her, dass sie erfahren hat, dass ich wieder in der Stadt wohne, es war ein Schock. Sie haben erfahren, dass Mark tot ist. Mina hat es jemandem erzählt, der es weitererzählt hat. Vielleicht tue ich Mutter leid, weil ich meinen Mann so früh verloren habe. Nein, es war schlimmer für sie, ihren Mann zu verlieren, mit dem sie so viel länger zusammengelebt hat, und wo war ich in der Zeit gewesen, als sie getrauert hat. Mutter stellt vor dem Feuer ihre Rechnung auf. Wenn ich auf sie und Vater gehört hätte und bei Thorleif geblieben wäre, der laut Auskunft mit einer Frau namens Merete Sofie Hagen in seinem Elternhaus wohnt, würde mein Leben anders aussehen, besser.
Aber falls Mutter sich für einen kurzen Augenblick fragt, ob ich mich einsam fühle, kann sie diesen Gedanken mit meiner Schwester teilen? Das ist die entscheidende Frage.