Es ist ein Uhr dreißig, als ich die Tür aufschließe, der Fjord ist dunkel, ich bin froh, weil ich so weit oben wohne. Ich gehe zum Arbeitstisch und schalte die Lampe an, ich setze mich mit einem seltsamen Gefühl der Andacht, packe die Kiste aus dem Kissenbezug, ich muss den Deckel aufstochern. Oben die Zeichnung von dem Sonntag, als Mutter krank war, vergilbt, aber unversehrt und unerwartet scharf, ich werde plötzlich überwältigt, ich bin gerührt von uns beiden, die Gestalt ist gewaltig, bis zum Rand des Blattes gezeichnet, als ob nicht genug Platz für Mutter und ihre vielen Haare wäre, aber das Gesicht ist mager und hungrig und voller Sehnsucht, die Arme sind lang und bewegungslos. Mutter hatte auf die Zeichnung gezeigt und mit verzerrtem Gesicht gesagt: Das bist du!

Ich dachte, ich zeichnete Mutter, aber ich zeichnete mich selbst, ich dachte, ich untersuchte Mutter, aber ich untersuchte mich selbst, ich näherte mich nicht Mutter oder Mutters Welt mit meinen Buntstiften, sondern nur meiner eigenen? Das war natürlich keine originelle Beobachtung, aber sie war plötzlich so konkret und klaustrophobisch, würde ich anderen niemals nahekommen können? Unter den vier Räuberzeichnungen, die Prinzessinnen von Glanzbildern und Märchenbüchern nachahmen, total uninteressant, auf einer ist eine Sprechblase gezeichnet mit Zeichen, die aussehen wie die, die bei Donald Duck für Verwünschungen benutzt werden, die Geheimsprache, die ich nicht mehr entziffern kann. Darunter ein Tagebuch, in dem ich nur die erste Seite beschrieben habe, meine Handschrift von damals unerwartet sicher: Heute hat Mutter gefragt, warum ich mich die ganze Zeit so komisch räuspere, wenn ich Hausaufgaben mache. Aber ich konnte es ihr nicht erklären. Sie wurde sauer. Als ich schlafen ging, dachte ich daran. Ich glaube, es liegt daran, dass der Hals zwischen Kopf und Herz sitzt. Und wenn ich Hausaufgaben machen soll, darf ich mein Herz nicht spüren. Deshalb verschließe ich meinen Hals so, dass das Herz nicht in den Kopf steigt. Aber wenn ich Mutter das erkläre, sagt sie, dass ich dumm bin. Das hatte Mutter eines Vormittags gelesen, als ich in der Schule war, aber so schlimm war das doch nicht? Oder es war schlimmer, denn Mutter hatte auch einen verschlossenen Hals, und deshalb musste das Buch zusammen mit einer gelben Blechdose Partagas Club 10 vergraben werden, die war von Großvater! Das hatte ich vergessen oder verdrängt oder nicht zu verstehen gewagt. Mutters Vater rauchte Partagas-Club-10-Zigarillos, wenn er uns ab und zu besuchte, sehr selten, weil er ein Säufer war, Vaters Worte, weil Opa sich betrank und mit dem Taxi geholt werden musste, und Vater sagte jedes Mal, das war das letzte Mal, und er beklagte sich darüber, dass der Geruch der Partagas-Club-10-Zigarillos noch lange in der Luft hing, wenn Opa wieder weg war, und doch kam Opa im nächsten Jahr wieder, und ich hatte ebenso große Angst vor ihm wie im Jahr davor, vor dem Geruch der Partagas-Club-10-Zigarillos, den Vater verabscheute, und vor Opas schwimmenden Augen und Mutters Enttäuschung, weil Opa sich wieder so betrank wie im Jahr zuvor und mit dem Taxi geholt werden musste, nie wieder, sagte Vater, und dass Opa etwas in der Tasche haben müsse, ich dachte, er meinte damit so etwas wie eine Pistole. Tante Grethe erzählte mir einmal, als Opa mit dem Taxi geholt worden war, es muss Weihnachten gewesen sein, weil sie bei uns war, dass Opa während des Krieges zur See gefahren war und Schreckliches erlebt hatte und dass Opa trank, um sein Päckchen zu tragen, sagte sie, und dass es daran lag, dass Opa während des Krieges auf See gewesen war und dass Oma eine Lungenkrankheit gehabt hatte und dass Mutter bei Onkel Håkon in Hamar aufgewachsen war. Ich sitze mit der gelben Partagas-Club-10-Blechdose in der Hand da und begreife, dass auch Mutter eine Kindheit hatte.