Ich bekam keine Antwort. Das Telefon klingelte nicht, kein Piepen, weil ich eine SMS bekommen hatte. Keine Mail. Ich blieb fünf Tage in der Hütte, um realistischerweise einen Brief in meinem Briefkasten zu Hause erwarten zu können, als ich zurück in die Stadt kam, war er leer.

 

Es kommt vor, dass normale Briefe in den vielen Werbeprospekten verschwinden. Mutter ist nicht an Briefe gewöhnt, sie erwartet keinen Brief, außer Rechnungen in langen Fensterumschlägen, und deshalb lässt sie alles aus dem Briefkasten sofort in die Mülltonne fallen, ohne nachzusehen, ob sich ein kleiner normaler Brief zwischen den Broschüren von XXL und Rema 1000 verkrochen hat. Ich schreibe eine SMS , ich habe dir einen Brief geschrieben, hast du ihn bekommen?

Sie antwortet nicht.

 

Und warum sollte sie das auch tun. Ich hatte mir viele Jahre lang verboten, an sie zu denken, meine Gefühle für sie zu bemerken und anzuerkennen, aber weil ich jetzt das Bedürfnis hatte, sie zu entdecken, erwartete ich, dass sie zur Verfügung stand und mich anrief?

 

Ich hatte den Verdacht, dass mein Bild von ihr erstarrt war, dass ich ihr einen besonderen Platz in meiner Psyche zugewiesen, ihr eine Rolle zugeschrieben hatte, für die es keine Grundlage gab, und jetzt wollte ich gerne einen richtigeren Ort für sie finden, aber wie sollte das möglich sein, wenn sie es verweigerte, mit mir zu sprechen?

Aber ihr ist es scheißegal, welches Bild du von ihr hast und welche Rolle du ihr in deiner selbstzentrierten Psyche zugeschrieben hast! Komm damit klar! Du könntest ihr nicht egaler sein!

 

Ich wünsche mir Mutters ungefilterten Wortstrom, ihren Bewusstseinsstrom. Wie war es für dich, Mutter, erzähl es mir ohne Angst, Mutter, schütte mir dein Herz aus, Mutter. Warum sollte sie das tun, natürlich würde sie das nicht tun, sie hat kein Vertrauen zu mir, sie denkt vielleicht, dass ich etwas vorhabe, dass ich sie gleich nach einer Begegnung malen und das schreckliche Bild auf der Retrospektive ausstellen werde, aber so arbeite ich nicht! Aber glaubt sie das wirklich? Es muss doch Fragen geben, die sie mir stellen möchte! Zu Mark! Zu John! Oder sie will wütend auf etwas sein? Sie muss sich doch etwas von der Seele reden wollen, meine Anwesenheit auf dieser Welt muss doch viel zu sehr ihr Dasein geprägt haben, es muss doch Dinge geben, zu denen sie eine Meinung hat und die sie mir sagen will, aber das ist ihr verboten worden, von meiner Schwester, die die Vorstellung hasst, dass ich Raum einnehme in Mutter, und deshalb kann Mutter ihren Wunsch, mit ihr über mich zu sprechen, nicht formulieren, nicht einmal ihr Bedürfnis, wütend auf mich zu sein, kann sie geltend machen, und deshalb hat sie es, um meine Schwester zufriedenzustellen und ihr zu gefallen, viele Jahre lang verdrängt, und so hat meine Schwester es geschafft, mich vollständig zu begraben, bin ich für Mutter tot?

 

Schiebe ich es auf meine Schwester, um es mir leichtzumachen? Ich habe Freundinnen, die regelmäßig Kontakt zu ihren älteren Müttern haben, und trotzdem quälen sie sich mit den entscheidenden Fragen, sie stellen sie nicht, weil sie das Entsetzen, den Zorn oder die Zurückweisung ihrer Mütter fürchten, denn sie glauben, sie bekämen sowieso keine Antworten, wenn sie es wagten, diese Fragen zu stellen, und die Wenigen, die die Fragen gestellt haben und nicht auf Zorn oder Abweisung gestoßen sind, haben nichtssagende Antworten bekommen, so etwas wie: Ach, schwer zu sagen, das Leben ist nicht leicht, und so weiter. Warum hat Vater sich das Leben genommen? Warum haben Tante Erika und Onkel Geir nie miteinander geredet, warum hast du keinen Kontakt zu deinem Bruder, warum wurde Tante Augusta nicht zur Konfirmation eingeladen? Ach, schwer zu sagen, das Leben ist nicht leicht. Ich sehne mich nach etwas, das unerreichbar ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich nach einem Treffen mit Mutter genauso viel weiß wie jetzt, ist hoch, es ist sogar wahrscheinlich, dass ich noch frustrierter wäre, wenn Mutter und ich nur über das Wetter gesprochen hätten. Aber vielleicht wäre sogar das ein Fortschritt? Nein, vermutlich würde ich ein Treffen mit Mutter in einer tieferen, lähmenderen Enttäuschung verlassen, als ich sie jetzt spüre, warum kann ich mich also mit der Lage nicht abfinden, eigentlich habe ich das getan, aber die Unvernunft hat mich dazu gebracht, an Mutter zu schreiben, ich verstehe mich selbst nicht. Bisher habe ich geglaubt, meine Schwierigkeiten verstanden zu haben, meine Trauer, auch wenn sie absolut lähmend war, so wie nach Marks Tod, ich habe mich darin trotzdem erkannt, aber jetzt verstehe ich mich nicht. Dehne ich den Abschied von Mutter bewusst so lange aus? Sie hat mich als Kind herausgefordert und besiegt, als Erwachsene habe ich sie herausgefordert und besiegt, und jetzt kann ich aus Trotz oder Verbissenheit das Schlachtfeld nicht verlassen?