Ich erinnere mich an ein Foto, vermutlich an meinem achtzehnten oder neunzehnten Geburtstag aufgenommen, nein, es war bei meiner Immatrikulation, so war das, als ich einen Studienplatz für Jura bekommen hatte, so war das, ich war also neunzehneinhalb. Mutter und ich standen auf dem Platz vor der Universität, Vater machte das Bild, das Universitätsgebäude im Hintergrund, ich trug ein veilchenblaues Kleid, glaube ich, ich weiß nicht, ob ich mich nur wegen des Fotos daran erinnere, das ich in das Album einklebte, in das für offizielle Bilder, Klassenbilder, Konfirmationsbilder natürlich, Fotografien von Heiligabend, von Geburtstagen und dem Nationalfeiertag, Fotografien, die Vater mir gab, Vater war der Fotograf. Ich warf das Album weg, ehe ich mit Mark wegging, ich weiß noch, dass ich Kleider, Kosmetiksachen, Zeichensachen einpackte, sonst nichts, ich nahm sonst nichts mit, ich hatte sonst nichts, ich ließ den Rest in Vaters Wohnung liegen, nichts von alldem gehörte mir, nicht die Teekanne, nicht die Handtücher, nicht einmal die Bücher gehörten mir, ich stand da mit dem Album in den Händen, wägte ab, ging hinaus zum Müllschacht und ließ es hineinfallen.

 

Das Universitätsgebäude im Hintergrund, Mutter in einem moosgrünen Hosenanzug, wie sie damals modern waren, schlank, mit offenen Haaren und dunkelblauem Haarband, Arm in Arm mit mir, ich war blass und hatte nicht ganz so rote Haare, zum Zopf gebunden, ich, sehr ernst neben Mutter, die den Fotografen, Vater, anlächelt, aber jetzt gehe ich in meinem Inneren ganz nahe an uns heran. Ich war neunzehneinhalb und begriff nichts, aber ich hatte ein vorsichtiges Gespräch mit mir selbst begonnen, ich hatte einen Diskurs angefangen. Mutter war über vierzig, ihre Zukunft war vorherbestimmt, das wusste sie, aber wie ging sie mit der Erkenntnis um, mit der Unterdrückung, in die sie verbannt war, sie gab das Gespräch mit sich selbst auf? Bewusst zu leben ist sehr belastend. Mutter war von ihren wahren Gefühlen abgeschnitten, sie lernte in allgemeinen Redeweisen zu kommunizieren, in Floskeln und konventionellen Gesten: Wer alles kauft, was ihm gefällt, geht am End als Bettler durch die Welt. Es sieht aus, als stünden wir zusammen auf der Universitätstreppe, aber ich hatte aufgehört, auf ihre moralischen Erwägungen zu hören, ihr »das tut man nicht«, ihre Regeln, jahrelang war meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet gewesen, ich hatte mich gefragt, was sie wollte, was sie empfand, im Grunde ihres Herzens, wie man sagt, aber auf dem Platz vor der Universität hatte ich es aufgegeben, wenn ich ganz nahe an uns herangehe, sehe ich ein neunzehnjähriges Mädchen mit gebrochenem Herzen, und das Objekt meines Kummers steht im Hosenanzug neben mir, und nach all den Jahren tut sie mir leid, arme Mutter. Aber vielleicht trügt mich meine Erinnerung, vielleicht verzerre, verfälsche, verdrehe ich meine Erinnerung in dem Versuch, mich heute zu verstehen, vielleicht erfinde ich sie neu, damit ich sie ertrage, vielleicht entwerfe ich sie anders, damit es weniger weh tut? Führe ich einen inneren Kampf, führe ich ein inneres Gespräch mit Mutter, verhandle ich mit ihr darüber, was passiert ist und ob und warum es gerecht war?