Gleichzeitig fragte ich mich: Was willst du eigentlich?
Wissen!
Weil? Wenn ich bestätigt finde, dass Mutters linker Unterarm von feinen weißen Narben überzogen ist, wie locker gewebtes Leinen, kann sie den Schmerz nicht leugnen, und auch wenn sie sich nicht öffnen will, werde ich, wenn ich die Narben sehe, besser verstehen, wie es derjenigen ging, die sich um mich als Kind gekümmert hat, deren Schmerz aus ihrem Herzen in meins geströmt sein muss. Wenn ich sie besser verstehe, kann ich ihr vielleicht vergeben!
Aber sie glaubt, nichts getan zu haben, was Vergebung erfordert, Narben hin oder her.
Gibt es auf der Welt eine Mutter, die nicht meint, dass sie ihrem Kind etwas angetan hat, die keine Vergebung braucht? Ja, diese Mutter, diese besondere Mutter, meine Mutter, gibt es, denn sie hat ihr älteres Kind dämonisiert, sie hat zusammen mit ihrem jüngeren Kind beschlossen, dass alles, was in der Familie nicht gestimmt hat und bis heute nicht stimmt, die Schuld des älteren Kindes ist, weshalb dieses Kind um Vergebung zu bitten hat! Und vielleicht werde ich das sogar tun, wenn ich ihre Narben sehen darf, das heißt, wenn ich verspätet um sie weinen und um Entschuldigung bitten kann, weil ich zu spät verstanden habe, welchen Schmerz sie mit sich herumtrug, wie verwirrt und gefangen sie sich gefühlt haben muss.
Aber ihr ist es scheißegal, ob du irgendetwas verstehst, sie hat dich so sehr eliminiert, dass du dir dein Seelenleben sonst wohin stecken kannst, und sie hat absolut kein Bedürfnis, die Vergangenheit aufzuwärmen. Sie hat durch ihre ausgeprägte Fähigkeit, vor allem Unbehaglichen zu fliehen, überlebt, und das, was einem ermöglicht hat, zu überleben, lässt man nicht einfach los, also vergiss es.
Aber die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen. Das ist es doch, was Ibsens Figuren in Schwierigkeiten bringt, sie denken, sie können die Vergangenheit hinter sich lassen, aber es zeigt sich immer wieder, dass das nicht möglich ist. Mutter wird also garantiert von der Vergangenheit heimgesucht, und sei es unfreiwillig und in der Nacht, Yellowstone, Montana, und all die Träume, die sie aufgeben musste, weil Vaters Träume immer Vorrang hatten. Sie glaubt, es vergessen zu haben, aber irgendwo in ihr leben sie noch, sie sind dort, so wie das Loch, das ich hinterlassen habe, ein winzig kleiner leerer Raum, in dem ich einmal gewohnt habe, nein, Ruth hat diesen Platz eingenommen, und es ist leichter, Ruth in sich zu tragen als mich, ich war von Anfang an eine schwere Last. Also vergiss es! Das kann ich nicht! Ich kann Mutter nicht vergessen, weil ich den Verdacht habe, dass ihre frühere ambivalente Liebe zu mir und ihr jetziger heftiger Widerwille gegen mich ihre eigenen ungeklärten Konflikte widerspiegeln, und über die will ich mehr wissen. Mutters Mysterium ist mein Mysterium und das Rätsel meines Daseins, und ich fühle, dass ich nur in der Annäherung an dieses Mysterium eine Form von existenzieller Erlösung erreichen kann.
Aber was, wenn die Aufgabe darin besteht, sich mit dem Unerlösten zu versöhnen?