Ich ziehe mich so warm wie möglich an, Wollunterwäsche über Wollunterwäsche und darüber den Overall von der Eisskulpturenreise nach Alaska, auf einem Stuhl auf der Terrasse trinke ich Kaffee mit heißer Milch, während ein Schiff mit blinkenden roten Weihnachtslichtern an der Reling den Hafen verlässt, das Tuten der Schiffssirene passt zu meiner Stimmung, es ist fast Zeit. Ich kann nichts essen, ich fahre in die Arne Bruns gate, halte, es ist Viertel nach zehn. Ich sehe niemanden, steige aus und gehe über die Straße zum Ahornbaum im Garten hinter dem Wohnkomplex von Nummer 24, ich stelle mich dicht neben den dicken Stamm und schaue zur Eibenhecke am Zaun hinüber, lausche konzentriert, aber ich höre nur ein dumpfes Rauschen von der einige Blocks entfernten Hauptstraße. Ich bin ganz bei mir und ruhig. Das wird leicht. Ich stehe noch keine Viertelstunde hier, als ich ein Auto höre, ich gehe zur Hecke und schiebe die Zweige zur Seite, Ruths roter Volvo hält direkt hinter meinem Wagen. Ruth steigt aus, sie trägt dieselben Sachen wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen habe, ihre dunkle Allwetterjacke mit dem dunkelgrauen Schal, ich erkenne ihre kurzen hellgrauen Haare, die aufrecht stehen, ihre beschlagene Brille, ihren Wanderrucksack auf dem Rücken, ich habe mich nicht geirrt.
Zwanzig Minuten später kommen sie Arm in Arm aus der Tür, sie gehen direkt an mir vorbei, Mutter ist mir am nächsten, ich glaube, ihren Atem zu hören und ihren Geruch zu riechen, aber das bilde ich mir vielleicht ein, sie trägt ihre olivgrüne Allwetterjacke, den grauen Schal um den Hals, sie hat ihre grüne Mütze auf dem Kopf, sie tragen beide dunkle Hosen und dicke Stiefel, als ob sie die im selben Laden gekauft hätten, zusammen. Sie gehen im Gleichschritt, wogen im selben Takt, wogen schon so lange im selben Takt, dass sie vergessen haben, dass sie es tun, sie sind betäubt, sie sind betrübt, sie glauben nur ihren eigenen Geschichten, aber vielleicht bilde ich mir das ein.
Ich folge ihnen zum Friedhof, ich kenne den Weg und brauche mich nicht dicht hinter ihnen zu halten; als sie an Vaters Grab ankommen, bleiben sie stehen, natürlich, Ruth nimmt den Rucksack ab, zieht eine Sitzunterlage aus blauem Isopor heraus und geht in die Hocke, entfernt den alten Kranz und wischt Tannennadeln und feuch-tes Laub weg, Mutter steht da wie beim letzten Mal, die Beine leicht gespreizt, die Hände eng hinter dem Rücken verschränkt. Sie sagen nichts, ich hocke stumm und schweigend hinter dem Busch. Eine Frau kommt in meine Richtung, mit einem Hund an der Leine, der mich begrüßen will, weil ich einem Hund ähnele, hinter dem Busch kniend, er beschnüffelt mich, ich hoffe, die Besitzerin wird nicht fragen, warum ich hier so stumm hocke, ich lege einen Finger an den Mund, sie blickt mich fragend an, aber sie sagt nichts, geht vorbei, sieht Ruth und Mutter an und dann wieder mich, ich lächele, damit sie es für ein Spiel halten kann. Der Hund will nicht gehen, die Besitzerin ruft ihn, er heißt ausgerechnet Treu, meine Schwester dreht den Kopf, sieht mich aber nicht. Der Hund gehorcht der Besitzerin, natürlich. Ruth nimmt einen neuen Kranz aus dem Rucksack, legt ihn dorthin, wo der alte gelegen hat, nimmt die ausgebrannte Kerze weg, holt eine neue Kerze aus dem Rucksack, sie zündet sie an und stellt sie hinter den Kranz, der rund ist und rote Beeren hat, hör nur, wie still es ist. Dann steht sie auf und wirft den verwelkten Kranz und das ausgebrannte Grablicht in den Mülleimer gleich neben mir, sie steckt die Sitzunterlage wieder in den Rucksack, richtet sich ganz auf und tritt neben Mutter, ich sehe sie von hinten, sie sehen sich ähnlich und doch auch nicht, Mutter mit einer Art Entschiedenheit in den Beinen, Ruth mit einem Knick in den Beinen wie ein Vogel, als wäre Mutter die Chefin, obwohl sie die Abhängige ist, die Macht der Mutter ist groß, Mutters Macht ist groß. Mutter setzt sich in Bewegung, einen Fuß vor den anderen, Ruth folgt ihr wie ein Schatten, sie umrunden den Baum hinter dem Grab wie beim letzten Mal, es regnet jetzt nicht, ich folge ihnen in sicherer Entfernung. Mutter hat auf Ruth gewartet, nimmt Ruths Arm, sie wogen vorbei, an Gräbern und Bäumen, Schnee fällt und schmilzt auf welkem Gras und müder Erde und bald auf Asphalt, in diesem Jahr gibt es keine weißen Weihnachten, aber ich werde in die Hütte fahren, vielleicht schon morgen. Sie gehen an Ruths Auto vorbei, diesmal bringt sie sie bis ganz nach Hause? Ruth folgt Mutter, hält Mutters Arm, und Mutter verschwindet in Ruths Arm, als wäre sie ein Opfer, als wäre sie gern ein Opfer, sie findet, dass ihr das steht, ich spüre Wut in meinem Körper aufsteigen. Sie bleiben vor der Haustür der Arne Bruns gate 22 stehen, Ruth umarmt Mutter, dann dreht sie sich um und geht zum Auto, ich trete hinter die Birke, Ruth setzt sich in das rote Auto, Mutter bleibt stehen und schaut ihr hinterher, dann öffnet sie ihre Handtasche, um ihre Schlüssel zu suchen, nehme ich an, sie findet die Schlüssel, Ruth lässt den Motor an und fährt los und auf Mutter zu, die ein trauriges Gesicht macht, einsam winkt sie mit der Hand, in der sie die Schlüssel hält, aber Ruth kann nicht bei Mutter wohnen. Ruths Auto verschwindet, Mutter dreht sich in Richtung Tür und geht darauf zu, ich gehe vorsichtig zu der Stelle, wo sie eben noch gestanden hat, ich gehe hinter ihr her, sie wird sich nicht umdrehen, sie hört nicht mehr so gut wie früher, zielstrebig und mit den Schlüsseln in der Hand zielt sie auf das Schlüsselloch, trifft, schließt auf und gibt der Tür einen leichten Schubs, es ist eine Tür, die sich von selbst öffnet, langsam, eine Tür für ältere Menschen. Mutter geht hinein, ohne sich umzudrehen, die Tür schließt sich von selbst, langsam, Mutter geht an den Briefkästen vorbei, ich habe Zeit genug, Mutter hat den Fahrstuhl erreicht, ich schiebe den linken Fuß zwischen Tür und Rahmen, ich lehne mich an die Mauer, wenn Mutter sich umdreht, sieht sie mich nicht, sie dreht sich nicht um, der Fahrstuhl kommt, Mutter geht hinein, die Fahrstuhltür schließt sich, ich schlüpfe ins Haus und laufe die Treppen hoch, vorbei am dritten Stock, ich bin vor ihr oben, nun kommt der Fahrstuhl. Mutter steigt aus, ich schleiche mich nach unten, sie hält das Schlüsselbund in der Hand, schließt die Tür auf, geht hinein, die Tür gleitet hinter ihr zu, ich setze den linken Fuß auf die Schwelle und halte die Tür mit der Hand auf, Mutter dreht sich um, und ihr Herz bleibt stehen, sie schreit auf, aber ich bin schon in der Wohnung.