4
Ablenkung
Sander und Klee traten nach draußen. Es war jetzt beißend kalt. Dennoch standen sie einen Moment unschlüssig im eisigen Wind.
»Ich wohne gleich um die Ecke«, erklärte Sander.
»Darf ich Sie hinbringen? Um die Ecke?«
»Ja, tun Sie das«, antwortete sie. Man sah ihr an, dass sie nun doch ziemlich fror in ihrem nachthemddünnen Mantel.
Klee bot ihr seinen Arm an. Sie hakte sich unter, wies den Weg. Doch gleich darauf stoppten sie. Neben einem geparkten Wagen standen vier Männer. Es waren dieselben, die einen japanischen Rugbyspieler kurz zuvor als bastardischen Bastard bezeichnet hatten und dafür von Inoue Sander mit dem aus dem Mittelenglischen stammenden Wort für Vulva bedacht worden waren. Sodass man eigentlich sagen konnte, Inoue Sander habe alles richtig gemacht.
Jetzt aber lösten sich die Männer aus der Obhut des geparkten Autos und traten auf Sander und Klee zu. Klee fand, dass die vier im Schein der Großstadtlichter um einiges größer und kräftiger wirkten, nicht mehr ganz so dünn und jungenhaft wie zuvor im Lokal, ein Lokal, das sie offensichtlich etwas früher verlassen hatten, ohne dass es ihm, Klee, überhaupt aufgefallen war.
Die vier waren trotzdem keine Schlägertypen, natürlich nicht, sondern gebildete, erfolgreiche oder demnächst erfolgreiche Männer einer privilegierten Klasse, allerdings schienen sie einigermaßen betrunken und aufgeheizt. Einer von ihnen fragte an Sander gerichtet, ob sie eine »Japanese bitch« sei, »disguised as a German housewife« .
Die wirkliche Beleidigung dabei war weniger der Begriff der bitch als der Begriff der housewife . Nichts gegen Hausfrauen, aber der Kerl meinte es ja nicht nett, und Sanders gesamte Anmutung war nun alles andere als eine hausfrauliche. Wenn man sich nämlich die Hausfrau als eine Karikatur vorstellte, und eine solche meinte der Engländer ja wohl. Eine allein aus einer strahlend weißen Schürze bestehende geistlose Person.
Immer das Gleiche auf der Welt, dachte sich Klee. Dieser Hang zur Eskalation. Diese vier Jungs waren in diesem Moment das, was man eine Meute nennen konnte. Eine trotz ihrer Bildung erregte Meute. Und diese Meute formte nun eine kleine Barriere entlang des nicht sehr breiten Gehwegs. Nicht, dass die vier eine echte Attacke zu planen schienen. Sie standen eben bloß da und versperrten den Weg. Klee und Sander hätten umdrehen, zurückgehen oder die Straßenseite wechseln müssen, nichts wäre passiert.
»Was für ein Kindergarten!«, sagte Klee, machte einen plötzlichen Schritt auf jenen aus der Viererbande zu, der das Bild der Schlampe mit dem der Hausfrau vermengt hatte, und versetzte ihm einen derartigen Stoß, dass es den jungen, schlanken Mann nach hinten riss und zu Boden beförderte.
Sofort umringten die anderen drei Klee. Einer schlug zu. Aber Klee neigte den Kopf zur Seite, und die Faust des Mannes ging ins Leere. Leider nicht der Hieb, der kurz darauf von der anderen Seite kam und Klees linke Gesichtshälfte traf.
Es war ein eigentümliches Bild, das sich Klee in diesem Moment schmerzvollen Getroffenseins aufdrängte. Ihm war, als sei soeben eine kleine, dampfende Lok mit ungebremster Kraft gegen seine Wange gefahren. Ein Bild, das freilich einen guten Grund hatte. Auch dieser Grund lag in seiner Kindheit. Sein jüngerer Bruder hatte einst mit einer Märklineisenbahn nach ihm geworfen – so eine schwere schwarze Metalllok mit rotem Unterbau – und ihn dabei voll im Gesicht getroffen. Eine echtes Glück, dass nicht mehr als eine zu nähende Wunde sowie ein stark geschwollenes Auge die Folge gewesen war, jedoch keinerlei Fraktur des Jochbeins .
Stimmt, diese Märklinlok seiner Kindheit hatte nicht wirklich gedampft, aber im Moment des Einschlags in seinem Kindergesicht dennoch einen dampfenden, einen brausenden und qualmenden Eindruck hinterlassen.
Und genau das war auch jetzt der Fall.
Für einen Augenblick war Klee ohne Übersicht und Kontrolle, ohne Möglichkeit einer Abwehr oder eines Zurückschlagens, sondern so vollständig in den Rauch der an ihm zerschellten Lok gehüllt.
»Hey, bricks!«
Es war Inoue Sander in ihrem dünnen Mäntelchen und auf sehr hohen Schuhen stehend, in der Tat etwas größer als die anderen, die laut rief und die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zog. Durch den Dampf hindurch erkannte Klee, dass Frau Dr. phil. etwas in die Höhe hielt, der Viererbande entgegen. Er konnte nur vermuten, dass es ein Pfefferspray war. Eher als eine Granate, die freilich ebenfalls ganz gut in ihre Hand gepasst hätte.
Sander sagte: »Give me further reason to use this! Please!«
Es war schon traurig, wie sehr die Macht der Waffen zu überzeugen verstand. Wobei sich Klee niemals sicher sein würde, ob es nicht doch etwas Schwerwiegenderes als eine mit Paprika gefüllte Spraydose gewesen war, was die vier Engländer nun veranlasste, auf eine Fortsetzung der Prügelei zu verzichten, in ihren Wagen zu steigen und sich erst dort über die heutige Bewaffnung von Frauen zu beschweren. Vielleicht hatten sie auch nur Angst um ihre Anzüge. Jedenfalls fuhren sie davon und waren nie wieder gesehen. Als hätte ihre Rolle allein darin bestanden, etwas in Bewegung zu setzen. Etwas zwischen Klee und Sander.
Klee hätte es nicht beschwören können, aber gewiss war, dass zumindest die schmerzende Gesichtshälfte mit jener des »Eisenbahnunglücks« seiner Kindheit übereinstimmte. Nicht so sicher war, ob auch die Stelle, aus der nun Blut trat, exakt dieselbe war, die einst von der geworfenen Lok seines Bruders verletzt worden war. Er wollte es aber gerne glauben, dass hier ein Unfall seiner Kindheit den heutigen Unfall vorbereitet hatte. Wie sich eine Verletzung auf die andere legte. Die Malerei auf die Vorzeichnung.
Tatsache war, dass Inoue Sander ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche zog und es gegen diese blutende, möglicherweise durch einen Ring, einen Fingernagel oder das Metall einer Armbanduhr verursachte Wunde hielt. Und dann meinte: »Kommen Sie. Ich verarzte Sie bei mir zu Hause.«
Zwei Straßen weiter lag Sanders Wohnung, im obersten Stockwerk eines modernen Gebäudes. Eine eher kleine Wohnung, praktisch und nüchtern und in einem unaufdringlichen Stil. Nicht billig und nicht teuer. Aktuelles Design, aber keines, bei dem man glauben konnte, hier hätte ein Architekturbüro in Zusammenarbeit mit Strömungsingenieuren und Karl Lagerfeld einen Sessel entwickelt.
Grauer Spannteppich, ein dunkelblaues Sofa, kein Tisch, nur ein kleiner, zweibeiniger Wandschreibtisch, was so aussah, als würde eine sehr zarte Bauchladenverkäuferin an der Wand Halt suchen.
Auf der einen Seite der schmalen Schreibplatte befand sich ein Computer, auf der anderen ein gerahmtes Bild der Zwillinge. Ein Mädchen und ein Junge, die man aber genauso gut für zwei Mädchen oder zwei Jungen hätte halten können. In erster Linie waren sie sich extrem ähnlich, was wiederum keine Überraschung war. Etwas versetzt davon ein schmales hölzernes Wandregal, das eine kurze Reihe von Büchern trug. Acht Stück, hätte man nachgezählt. Allesamt mathematische Werke. Sanders Evangelien.
»Setzen Sie sich«, sagte sie. Dabei berührte sie kurz Klees rechte Schulter und vermittelte einen sanften Druck. Er folgte diesem leichten Druck und sank zurück auf den weichen Stoff des Sofas. Dort blieb er sitzen, hielt das Taschentuch gegen seine Wange und wartete.
Wenig später kam Inoue Sander mit einem bestens ausgestatteten Erste-Hilfe-Koffer zurück. Sie desinfizierte Klees entlang des Jochbeins verlaufende Platzwunde und versorgte sie mit mehreren Wundnahtstreifen. Und zwar ungemein professionell. Klee wollte schon fragen, ob solche Fähigkeiten eher der Mathematik oder der Evangelischen Theologie zu verdanken seien, ließ es dann aber bleiben, ihr auf diese Weise dumm zu kommen. In Wirklichkeit war er einfach froh, hier sitzen und ein guter Patient sein zu dürfen.
»Damit da keine Narbe bleibt«, erklärte sie den Einsatz der Streifen anstelle eines herkömmlichen Pflasters. »Abgesehen davon schaut es an einer so exponierten Stelle besser aus, nicht wahr? Nicht, dass ich finde, dass es klug war, sich mit diesen Typen anzulegen. Meine Güte, was hat Sie denn da geritten?«
»Hätte ich mich zurückgehalten«, folgerte Klee, »würde ich jetzt kaum hier sitzen.«
»Werden Sie nicht kindisch.«
Das stimmte schon. Kindisch brauchte er nicht zu werden, allerdings erinnerte er nun daran, dass immerhin sie es gewesen war, die die Männer mit einem der »Hauptwörter« englischer Vulgärsprache bedacht hatte.
»Das haben die schon verdient«, sagte Sander. »Aber warum sich deshalb schlagen? Ich will nicht sagen, dass das nicht nett von Ihnen war. Nur, weil die mich eine deutsche Hausfrau geschimpft haben.«
Genau das, was er hören wollte.
Und ob nun kindisch oder nicht, die Wunde in seinem Gesicht fühlte sich um einiges besser an als die damals in seiner Kindheit an gleicher oder zumindest fast gleicher Stelle, die im nächstgelegenen Krankenhaus von irgendeinem überarbeiteten Menschen lieblos zusammengenäht worden war. Übrigens, soweit er sich erinnern konnte, war es heute das erste Mal seit dieser Jugendjahre, dass er in eine körperliche Auseinandersetzung mit Mitgliedern seiner Rasse geraten war, mit anderen Affen. Er hatte sich selbst überrascht.
»Ein Glas Wein?«, fragte Sander.
»Hätten Sie vielleicht einen Sake?«
»Sieh mal einer an! Sind Sie also auf den Geschmack gekommen? «
»Der zweite war schon klasse«, sagte Klee, obgleich er ja den ersten gar nicht probiert hatte.
Es war übrigens rein gar nichts Japanisches in dieser Wohnung. Zumindest nichts die Einrichtung Betreffendes, nicht in dem kleinen Wohnzimmer. Aber natürlich war es ein qualitätvoller, gut gekühlter Sake, den Sander nun servierte. Das hatte Klee ja bereits begriffen, dass man einen erstklassigen Sake immer nur kalt trank und allein die minderwertigen in einer erhitzten Weise auf den Tisch gelangten.
Sander saß jetzt neben Klee auf dem Sofa, während beide ihre mit Reiswein gefüllten Schalen an die Lippen führten.
Er konnte sich nicht helfen, aber ihr Blick war ein anderer geworden. Als hätte sich etwas wesentlich geändert. Wieso? Weil er ihr zuliebe kindisch gewesen war? Weil er eine Wunde im Gesicht trug? Weil man bereits einiges getrunken hatte?
Es passte zu Sander, dass sie genau das nun ausschloss. Sie sagte offen, nicht betrunken zu sein. Und fragte: »Und Sie?«
»Nein, gar nicht«, antwortete er.
»Gut«, sagte sie mit ihrer Stimme, die nicht dunkel war, sondern hell, aber mit so einer Helligkeit, die einen ahnen lässt, dass es beizeiten schon mal Nacht wird. Eine wohlklingende Stimme, aber ohne Illusion bezüglich des Wechsels der Tageszeiten.
Und mit dieser Stimme meinte sie nun, dass sie nichts so sehr verachte, wie wenn Menschen den Einfluss von Alkohol oder was ihnen sonst noch so einfiel an Ausreden, und sei’s das Wetter, anführten, um die Konsequenzen ihres Handelns zu relativieren.
»Ich will sagen«, erklärte sie, und dabei beugte sie sich etwas zu Klee und legte ihm ihre Hand auf die Brust, »dass ich Sex für eine Nacht verabscheue. Du kannst also gerne gehen, wenn du meinst, das Wetter oder der Sake vernebeln dir das Hirn. Oder gar die Wunde unter deinem Auge.«
»Ich fühle mich absolut klar«, antwortete Klee.
Eigentlich wollte er ihr versichern, absolut kein Freund von Sex für eine Nacht zu sein. Wahr war allerdings, dass er in seinem Leben – nicht immer, aber doch recht oft – genau dies praktiziert hatte, manchmal in beiderseitigem Einverständnis, nicht selten aber, ohne dies abgesprochen zu haben. Was so manche Enttäuschung, Peinlichkeit und Lüge nach sich gezogen hatte.
Wenn er also jetzt sagte, dass er »Sex für eine Nacht« nicht im Sinn habe, dann stimmte es eben im Angesicht dieser Frau, die Inoue war und an die er nun sein verwundetes Gesicht heranführte. So geriet er mit seinen Lippen an die ihren. Einen Moment waren sie sich ganz nahe, ohne einander zu berühren. Die warme Luft, die aus ihren Nasen strömte, kreuzte sich. Dann der Kuss. Zuerst nur die aufeinandergepressten Lippen, hernach die leichte Öffnung eines Mundes, was auch zur Öffnung des anderen Mundes führte – und das Schöne daran war, dass keiner von beiden hätte sagen können, wessen Mund damit angefangen hatte. Sodann die sich umarmenden Zungen.
Innig mochte ein abgegriffenes Wort sein, aber es war in diesem Moment das einzig passende. Der innige Kuss, die innige Art und Weise, wie die zwei aus dem Nebeneinandersitzen in ein Ineinandersitzen übergingen und sich also nicht nur ihre Zungen umarmten.
Und dann der Sex, der somit angekündigterweise nicht nur diese eine Nacht andauern sollte. Was aber nicht bedeutete, dass man etwas für später aufsparen wollte. Eine Art von Rationierung betrieb. Wirklich nicht.
Während Klee in Inoue eindrang, hätte er gerne gesagt, dass er sie liebe. Aber konnte er das ernsthaft sagen? Bereits hier und jetzt, nachdem sie einander gerade erst kennengelernt hatten? Andererseits war er ihr in einer Weise nahe, dass näher eben gar nicht ging, zumindest körperlich. Daneben meinte er aber ebenso eine Verbundenheit zu spüren, die weit über dieses Körperliche hinausging. Diese schöne und eigentümliche und auch eigentümlich schöne Frau schien ihm vertraut. So wie man sagt, man kenne jemanden aus einem früheren Leben. Was freilich nicht automatisch etwas Gutes bedeuten muss. Es gibt Leute, denen man möglicherweise in drei, vier Leben begegnet ist, sich aber denkt, einmal hätte völlig gereicht. Oder besser gar nicht .
Anders im Falle von Inoue, von der Klee meinte, sie bereits früher einmal geliebt zu haben, zwar auf eine verzweifelte Weise, aber tief und ernst und bedingungslos, und dass er letztlich noch im Scheitern dieser Liebe glücklich gewesen war. Glücklich darüber, dass er mit dieser Frau hatte unglücklich sein dürfen. Nicht, dass Klee ernsthaft an so etwas wie ein früheres Leben glaubte, dennoch war das Gefühl des Vertrautseins auf eine spukhafte Weise vorhanden, als er da in ihr war und ihr dabei ins Gesicht sah, in ihre braunen, von einer späten Sonne gefleckten Augen und sich also dachte, nicht zum ersten Mal in diese Augen zu schauen.
Und dann kam er heftig und stark. Und sie nahm es als ein Kompliment, dass er so kam, wie er kam. Gleich darauf schob sie ihre Hand zwischen ihrer beider nassen Unterleiber, um sich ans eigene Geschlecht zu greifen und sich, während er noch in ihr war, ebenfalls zu einem Höhepunkt zu verhelfen. Ohne Vorwurf, einfach pragmatisch. Eine Lösung herstellend, bei der es keine Verlierer gab. Eine mathematische Lösung.
Als sie dann nebeneinanderlagen und Inoues Kopf wie ein herangespülter großer, glatter, perlender Stein in Klees Arm ruhte, da sagte sie: »Bei dem Haus für dein Hotel können wir mit dem Preis runtergehen. Die Besitzerin und ihr Sohn sind gierige Idioten, die rasch an viel Geld kommen wollen. Man kann ihnen sicherlich klarmachen, dass, wenn es rasch gehen soll, sie beim viel ein wenig einlenken müssen.«
»Du bist mir nichts schuldig«, sagte Klee.
»Na, das hoffe ich sehr. Eher umgekehrt.«
»Was kann ich für dich tun?«, fragte Klee mit einem Lächeln.
»Mich beteiligen.«
»Am Hotel?«
»Am Hotel. An der Finanzierung, an der Umgestaltung, an der Führung. Am Kochen wie am Saubermachen. Mir gefällt die Vorstellung, aus diesem Haus ein anderes Haus zu machen. Aus dem Zahnarzthaus ein Hotelhaus. Eine großartige Herberge.«
»Und was, wenn wir uns darüber, was großartig ist, nicht einig werden?«, fragte Klee .
»Dann müssen wir halt ein wenig streiten. Aber so streiten, dass in der Summe jeder recht behält.«
»Meinst du eine Quotenlösung im Rechthaben?«
»Willst du kneifen?«, fragte sie zurück.
»Nein, gar nicht«, antwortete Klee. »Eher bin ich begeistert von deiner Idee. Streit hin oder her. Und es stimmt, man kann einen Streit auch so führen, dass es am Ende keine Toten gibt. Ich hoffe nur, dass du später nicht bereust, Hals über Kopf von der Maklerin zur Hotelière geworden zu sein.«
»Na ja«, sagte sie, »ich gebe ja nicht gerade meinen Traumberuf auf.«
»Aber am Namen ist nicht zu rütteln«, benannte Klee seine vorerst einzige Bedingung.
»Zur kleinen Nacht«, bestätigte Inoue.
Und dann schliefen sie gemeinsam ein, im Schutze einer Nacht, die – weit fortgeschritten – auch nicht mehr sehr groß war.
Klee wachte etwas früher auf. Genau genommen wachte er ziemlich zeitig auf. Er hatte schon lange nicht mehr die sechste oder gar siebente Stunde des Tages anders als ein bereits erwachter Mensch erlebt.
Allerdings war er liegetechnisch im Schlaf etwas abseits geraten, an den Rand des Bettes. Halb ragte sein Kopf über den Abgrund, sodass er, im Erwachen begriffen, auf den hellgrauen Teppichboden sah, der im ersten Moment sehr viel tiefer gelegen wirkte, als es der Fall war. Darum ja auch das Wort Abgrund .
Klee schob sich von diesem Abgrund weg, drehte sich auf den Rücken, sodann auf seine linke Seite und kam knapp vor Inoues Körper zum Halten. Er beugte sich über sie, betrachtete ihre geschlossenen Lider, die leichte Vibration ihrer Nasenflügel – wie Segel in einer feinen Brise –, ihre ungemein präzise ins Gesicht gezeichneten großen Lippen. Und dazu die Narbe.
Klee hob vorsichtig seine rechte Hand und fuhr mit der Kuppe seines gestreckten Zeigefingers entlang der beiden gebogenen Linien: der einen aufwärtsführenden und der anderen nach unten zeigenden. Er berührte sie nicht richtig, sein Finger verblieb einen guten Zentimeter über Inoues Haut. Aber es war wohl wie mit diesen Katzen, die es spüren, gestreichelt zu werden, auch wenn man bloß knapp über ihren Rücken gleitet, ohne tatsächlich übers Fell zu streifen.
Inoue schlug ihre Augen auf. Klee wollte seinen Finger zurückziehen, doch etwas hielt ihn zurück. Als schwebte sein Finger über einem Magneten.
Erst als Inoues Lippen leicht auseinandergingen, kam der Finger frei.
»Stört dich meine Narbe?«, fragte Inoue.
»Nein, im Gegenteil.«
»Du bist aber keiner von denen, die auf Missbildungen stehen, oder?«
»Ich bitte dich!«, sagte Klee und schüttelte den Kopf, verzichtete jedoch darauf, von seinem ersten Eindruck zu sprechen, nämlich diese Narbe als eine zarte Signatur empfunden und dabei sogar an den Begriff einer Ziernarbe gedacht zu haben. Stattdessen küsste er Inoue auf die zwei auseinanderdriftenden Bögen, um sein »Ich bitte dich!« auf eindeutige Weise zu unterstreichen.
Anschließend wagte er es nun aber doch, Inoue danach zu fragen, wie diese Narbe in ihr Gesicht gekommen war.
»Im Waisenheim«, sagte sie, »als ich so etwa vier war. Wir haben im Garten gespielt. Ich weiß überhaupt nicht, wie wir an dieses Schwert gelangt sind. Und es besitzt ja keine geringe Ironie, dass ich, die ich über eine mysteriöse Geburt in dieses Land geraten bin, eine solche japanische Wunde ausgerechnet von einem Samuraischwert davongetragen habe. Ein Unfall. Eine Waffe aus einem unversperrten Schrank. Eine Unachtsamkeit Erwachsener. Eine Ungeschicklichkeit von Kindern. Und mich hat’s erwischt. Nicht mit Absicht. Nicht, weil mein Gesicht das der Fremden war. Und doch ist es eine ewige Spur in meinem Gesicht.«
»Ich mag diese Spur«, sagte Klee, »so schlimm das für dich gewesen sein muss.«
»Du, ich war als Kind sehr stolz darauf. Weil es ja von einem Schwert stammte, noch dazu einem alten. Wäre die Verletzung von irgendeinem dummen Kinderspielzeug gewesen oder beim Stolpern durch eine Glasscheibe geschehen, dann hätte ich mich genieren müssen. Aber ein Schwert! Diese Narbe ist das Japanische in meinem Gesicht. – Jetzt weißt du’s.«
Es machte Klee glücklich, es zu wissen.
Und dann standen sie auf. Und praktisch im Aufstehen ging es los. Bei ihrem ersten gemeinsamen Frühstück entwickelten sie auf einem bloßen A4-Blatt einen Plan für das Hotel zur kleinen Nacht . Ganz in der Art, wie zwei Magnaten auf einer Serviette den Vertrag für eine Fusion festhalten oder zwei Künstler sich auf einem Tischtuch gegenseitig porträtieren. Sie skizzierten die Lage der Räume, die Gestalt des Entrees, die mögliche Form des Bartresens, die Gestaltung des Gartens und notierten die Art jenes Frühstücks, das sich mindestens auf Weltklasseniveau bewegen sollte, aber auf einem noch viel höheren Niveau, auf dem Niveau einer magischen kleinen Nacht, deren Ausläufer auch den Morgen bestimmten.
Am Nachmittag desselben Tages machte Inoue der Hausbesitzerin und ihrem geldgierigen Sohn in eindrücklicher Weise klar, dass sie mit dem Preis würden heruntergehen müssen, wenn sie dieses Haus sofort zu Geld machen und nicht noch eine Ewigkeit darauf warten wollten. Offensichtlich befand sich der Sohn in einigen finanziellen Schwierigkeiten, Schwierigkeiten, die von einer Bank – allerdings keiner Bank im üblichen Sinn – diktiert wurden, und drängte darum seine Mutter. Die Mutter gab nach, der Preis fiel etwas, der Vertrag wurde aufgesetzt, Klee unterzeichnete, Inoue kündigte ihren Job.
Die Kleine Nacht entstand.