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Ohrfeige
Es war ungewöhnlich, aber es kam vor.
Es kam vor, dass ein Gast eins der Zimmer, die ja alle als Doppelzimmer konzipiert waren und in denen der Geist der Zweisamkeit herrschte, für sich allein buchte. Eine solche Möglichkeit sah das Angebot des Hotels vor, auch wenn es genau genommen für die Nebensaison gedacht war, dann, wenn manchmal Wanderfreunde und Wanderfreundinnen sich einquartierten, jedoch nicht in einem Bett schlafen wollten und jeder oder jede ein Zimmer für sich alleine nutzte.
Doch weder war der Mann, der Mitte August im Hotel ankam, ein Wanderfreund noch war er mit einer zweiten Person zusammen, die woanders ihr Zimmer hatte. Er war einfach ein einzelner Besucher, der rechtzeitig jene Lücke genutzt hatte, die sich aus dem Weggang von zwei dänischen Gästen und der Buchung dieses Zimmers durch ein in Köln lebendes Ehepaar für die letzte August- und die erste Septemberwoche ergeben hatte. Es war das Zimmer mit der Nummer drei, das der Gast also für jene Augustwoche gebucht hatte, in der auch Mariä Himmelfahrt lag. Die Fenster des Zimmers führten nach hinten auf den Garten, sodass man den Pool sehen konnte, die Bäume, die Beete, die frei stehende Pergola, und wenn man sich ein wenig streckte, konnte man hoch zum Glashaus der Sanderkinder schauen.
Es war eine etwas merkwürdige Sache in dieser Phase hochtechnisierter Kultur, dass, sobald der Name eines Menschen fiel, man daranging, ihn auszuforschen. Als wäre jeder sein eigener Geheimdienst. Googeln! Allein das Wort war schrecklich unangenehm,
es klang nach einer perversen Penetration, nach einer Form des Bohrens, wie um Löcher in die zu recherchierenden Personen zu fräsen.
Klee war kein großer Freund dieser Art der Erkundung, aber als der Hotelier, der er war, gehörte es dazu, sich ein wenig auf den jeweiligen Gast vorzubereiten. Die Leute selbst waren ja in der Regel enttäuscht, wenn man nicht wusste, wer sie waren und was sie waren und worin ihre Vorlieben bestanden. Sie teilten es der Welt mit und empfanden es als Ignoranz, wenn die Welt sich blind gegen diese Offenbarung stellte.
Jedenfalls konnte auch Klee sich nicht ganz der Möglichkeit entziehen, auf eine moderate Weise ebenfalls ein paar Löcher zu bohren. Nicht nur die Nationalität und Wohnadresse seiner Gäste zu kennen und was die Leute arbeiteten oder worin sie der Menschheit auffielen oder wofür sie von der Menschheit Aufmerksamkeit erwarteten, sondern auch, ob der Gast anderswo Geld schuldig geblieben war oder sein Hotelzimmer als Ruine zurückgelassen hatte.
Bei dem Mann, den Klee an diesem Tag vom Bahnhof der unten am Fluss liegenden Stadt abholen sollte, handelte es sich um einen in Frankfurt lebenden ehemaligen Kriminalpolizisten namens Klemens Holl, der im Rang eines Polizeihauptkommissars für das Hessische Landeskriminalamt in Wiesbaden tätig gewesen war und der zwei Jahre zuvor in einen Skandal und damit in die Medien geraten war. Bei einem offiziellen Termin in Paris hatte er eine Abgeordnete der Front National geohrfeigt. Befragt nach dem Grund, hatte Holl erklärt, man könne sich doch gut vorstellen, dass die Dame etwas von sich gegeben habe, was eine solche Handlungsweise unbedingt rechtfertigen würde. Und nein, er pflege Frauen nicht zu schlagen. Aber die Bemerkung der sogenannten Abgeordneten sei eben von der Art gewesen, die mit einem bloßen Einspruch zu beantworten einfach zu schwach gewesen wäre. Das Einzige, was er, Holl, dazu sagen könne, sei, dass er im Falle eines Mannes vielleicht etwas heftiger ausgeholt hätte
.
Es kam aber nie heraus, was die Dame von der Front National denn gesagt hatte. Sie erklärte es nicht, und Klemens Holl erklärte es ebenso wenig. Es blieb ein bizarres Geheimnis. Wie auch der Umstand, dass die Französin keine Strafanzeige stellte. Und zwar mit dem Argument, »dieser deutsche Polizist« sei nicht satisfaktionsfähig und eher ein Fall fürs Irrenhaus.
Gleich auf das Ereignis waren schwere Angriffe vor allem von Vertretern jener deutschen Partei erfolgt, die wie eine obszön anmutende Knospe aus der so erfolgreich sprießenden Pflanze der französischen Rechten herausgewachsen war (sosehr manche eher jenes nicht minder erfolgreiche Gewächs des österreichischen Rechtspopulismus für diesen »deutschen Auswuchs« verantwortlich machten). Natürlich wurde Holls Verhalten auch von seinen Vorgesetzten und dem zuständigen Minister aufs Schärfste verurteilt, »ganz gleich, was er sich dort in Paris habe anhören müssen«. Es erfolgte eine Suspendierung vom Dienst, die Holl seinerseits mit einer Kündigung beantwortete und sich vierundfünfzigjährig ins Privatleben zurückzog. Ein kleines Erbe seiner Mutter und der Umstand, keine Kinder oder sonstige Verpflichtungen zu haben, erleichterten diesen Schritt in eine Privatheit, über die aber nur wenig zu erfahren war. Was dieser Mann nun also anfing mit der im Zuge einer Ohrfeigengeschichte entstandenen vielen freien Zeit.
Schwer vorstellbar, dass Holl als einstiger Kriminalist sich damit zufriedengab, einfach nur am Leben zu sein. Anstatt etwa die Welt zu bereisen. Nicht nur die ferne Welt und die Welt der Ozeane, über die riesige Hotelschiffe dahinglitten, sondern eben auch eine nahe Welt. Eine wie die hügelige, bewaldete, sanfte Gegend im Umkreis des Hotels zur kleinen Nacht.
Natürlich hatte Klee Bilder des Mannes gesehen, der Holl war, und erkannte ihn, als er da in der Bahnhofshalle stand, neben sich einen Koffer und eine schmale Tasche, ein Mann in einem Anzug, der nicht aussah, als sei er zum Sporteln gekommen. Auch wenn Klee also sofort wusste, dass es sich um Holl handelte, war er doch ein wenig überrascht. Er hatte sich aufgrund der Fotografien im
Netz einen größeren Mann vorgestellt, aber es war doch ein eher kleiner, kein sehr kleiner, aber Holl mochte nicht viel mehr als ein Meter siebzig messen, so in der Humphrey-Bogart-Größe, überhaupt ein Humphrey-Bogart-Mann, mit dem eigentümlichen Phänomen, neben
jemandem stehend größer zu wirken, als er war, und praktisch erst im Alleinestehen ganz zurück zur eigenen tatsächlichen Größe zu finden.
So geschah es, dass Klee, der ja selbst etwas über eins achtzig maß, nachdem er an Holl herangetreten war und ihm die Hand gereicht hatte, meinte, der Frankfurter sei um einiges größer, als es auf die Entfernung hin den Eindruck gemacht hatte. Vielleicht hing dies auch mit Holls kräftigem Händedruck zusammen, der allerdings nicht so kräftig war, dass man irgendeine versteckte Agenda hätte vermuten müssen. Oder mit Holls Stimme, mit der er sich nun vorstellte und dafür dankte, dass Klee sich die Mühe gemacht habe, ihn abzuholen. Eine Stimme aus Stein, aber halt von der Art Steine, von der die Esoteriker meinen, sie besäßen eine Seele und verfügten über heilende Kräfte. Im Falle Holls am ehesten ein … Granat, dachte Klee, der schon immer gerne Stimmen mit den Gegenständen der Natur verglichen hatte. Granat, ungeschliffen. Und wenn man wusste und sogar glaubte, dass Granate, die man auf die Schläfen legte, sich eigneten, starke Kopfschmerzen zu lindern, konnte man spekulieren, Holls Stimme besitze ähnliche Fähigkeiten.
Freilich sprach Klee jetzt nicht von der Heilkraft von Steinen und Stimmen, sondern erkundigte sich bei seinem Gast, wie die Fahrt gewesen sei.
Sein Zug sei ausgefallen, erzählte Holl, und ein Ersatzzug bereitgestellt worden. Nur war der leider halb so groß wie der zuvor ausgefallene, offensichtlich gut ausgelastete. Was also hieß, dass all die Passagiere, die einen großen ICE
gefüllt hätten, sich in einen kleinen zwängen mussten. In dem dann natürlich die alten Reservierungen nicht mehr gegolten haben.
»Derartiges«, sagte Holl, »führt notgedrungen zu einem Sittengemälde ungeordneter Verhältnisse. Man kriegt eine Vorstellung
davon, wie das sein muss, wenn Leute ein brennendes Kino oder ein sinkendes Schiff verlassen.«
»Sie mussten stehen, oder?«
»Ich hätte mich um einen Platz prügeln müssen. Und obgleich mir ein gewisser Ruf vorauseilt, prügle ich mich nicht so gerne. Dann lieber stehen.«
»Schön jedenfalls«, sagte Klee taktvoll, »dass Sie es geschafft haben.«
Der Wagen stand etwas abseits geparkt, da um den Bahnhof herum gebaut wurde, nicht so heftig wie drüben in Stuttgart, wo das Gefühl der Minderwertigkeit immer nur große Lösungen zuließ. Hier hingegen war es eher eine Baustelle gleich einem kleinen Unfall. Eine Baustelle wie ein aufgeschundenes Knie. Während man in Stuttgart, wo sich die Leute fast alle für Oberärzte hielten, versuchte, auf einen grippalen Infekt mit einer Herztransplantation zu antworten.
Als Klee und sein Gast dann im Wagen saßen und aus der Stadt hinausfuhren, am Fluss entlang, später die Anhöhe hinauf, von hundert auf fünfhundert Meter hoch, von achtunddreißig Grad Wärme auf sechsunddreißig herunter, da erkundigte sich Holl, ob denn der Name Klees in irgendeiner Weise …
»Ein Irrtum meiner Eltern«, sagte Klee.
»Irrtum?«
»Sie hatten keine Ahnung von Malerei, als sie mich Paul tauften. Nicht die geringste. Allerdings gibt es gar nicht mehr so viele Leute, die noch wissen, wer Paul Klee war. Eher die Jüngeren, weil die das in der Schule lernen müssen, bevor sie es dann wieder vergessen.«
Umgekehrt wollte Klee von Holl wissen, wieso er sich für seinen Aufenthalt das Hotel zur kleinen Nacht
ausgesucht habe.
»Es wird sehr gelobt«, sagte Holl. »Die Zimmer, die Landschaft, das Frühstück. Also das Frühstück wurde ja schon mal als eines von Weltniveau bezeichnet.«
Klee lachte und meinte, dass er dennoch nicht glaube, Holl sei wegen des spitzenmäßigen Frühstücks gekommen. Doch eher
wegen der Ruhe. Fast jeder, den es hierherverschlage, suche die Ruhe, eine undramatische Ruhe, wofür also nicht nötig sei, einsame Fjorde, gottverlassene Einöden oder höchste Berge aufzusuchen, wo man dann in der Schlange stehen müsse, um den Gipfel zu erreichen.
Holl überlegte. Es war ein geradezu hörbares
Überlegen. In einer Weise, die keinen Zweifel ließ, wie er abwog, ob er jetzt lügen sollte. Indem er also von seiner Liebe zu dieser Landschaft sprach, dem Bedürfnis nach Ruhe und der Aussicht auf ein Frühstück von Weltniveau und zusätzlich davon, auch einmal ein Riffbewohner sein zu wollen, ein Begriff, der tatsächlich von Gästen des Hotels in Umlauf gebracht worden war. Oder aber, ob er lieber bei der Wahrheit bleiben wollte.
Er entschied sich. Er sagte: »Es ist Ihre Nachbarin.«
»Nachbarin?«
»Die Frau, die das Haus neben Ihrem Hotel bewohnt.«
»Frau Gehring?«
»Genau die.«
Eva Gehring also, oder auch »die schöne Eva«, wie man früher gerne von ihr gesprochen hatte und wie sie in Erinnerung an dieses Früher und mit ironischem Unterton von manchen noch immer genannt wurde. Eine Frau, mit der Klee nicht viel zu tun hatte. Anfangs beim Umbau des Hotels hatte es Schwierigkeiten mit ihr gegeben. Des Lärmes wegen, vor allem aber wegen der Erhöhung eines Bretterzauns, der als Sichtschutz zwischen den Grundstücken diente. Die leichte Anhebung des Zauns erfolgte absolut im Rahmen des Erlaubten und Genehmigten, dennoch hatte Klee seiner Nachbarin ein »Schmerzensgeld« bezahlt. Der Kontakt hatte sich im Weiteren nicht intensiviert. Klee achtete darauf, der Dame, die als Witwe ein Haus von ähnlicher Größe wie die Kleine Nacht
bewohnte, scheinbar alleine bewohnte, keinen Anlass zu geben, weiteres Schmerzensgeld einzuklagen.
Und wegen dieser Frau sollte Holl gekommen sein? Einer Witwe, etwas über siebzig, die jeden Tag mit einer dieser für einen
einzelnen Menschen viel zu großen Geländelimousinen – die auf den gänzlich geröllfreien Landstraßen wie stark beschleunigte Seekühe anmuteten – hinunter in die Stadt fuhr und mittags wieder zurückkam, um Haus und Garten in Schuss zu halten. Und über die Klee nicht viel mehr wusste, als dass sie früher als Geschäftsführerin eines kleinen Handelsunternehmens tätig gewesen war, keine Kinder hatte, Rosen züchtete und eine Katze besaß, von der man im besten Fall sagen konnte, sie sei zu fett, um auf jeden Baum zu kommen.
Wenn Klee ein kleines Resümee aus den wenigen Kontakten hätte ziehen müssen, er hätte einfach gesagt: »Eine eher unsympathische Person.«
»Das müssen Sie mir schon erklären«, meinte er nun zu Holl. »Ich hoffe, es wird keinen Ärger geben.«
Holl wog zweifelnd seinen Kopf. Offensichtlich konnte er den Verzicht auf jeglichen Ärger nicht gänzlich ausschließen. Er sagte: »Ich erzähle Ihnen das heute Abend, in Ordnung?«
»Sie sind der Gast«, antwortete Klee.
Man hatte das Hotel erreicht. Eben kam Inoue die kurze Treppe heruntergestiegen.
»Meine Partnerin«, sagte Klee. Und fügte an: »Im Hotel und im Leben.«
Er sagte es mit Bitterkeit. Nicht in der Stimme – die er übrigens im Rahmen seiner Stein-Vergleiche am ehesten den Plutoniten zugerechnet hätte, also einem Gestein, das in großer Tiefe entsteht. Etwa Granit. Und es war natürlich mehr als nur ein einziger Buchstabe, der seine Granit-Stimme von der Granat-Stimme Holls unterschied.
Wie gesagt, es war nicht die Stimme, die soeben seine Bitterkeit verriet, sondern sein Gesicht. Etwas Herbes, Vergängliches.
Es war am Abend davor gewesen, als er zum ersten Mal bemerkt hatte, wie Inoue zu Klara ins Zimmer gegangen war und die Türe hinter sich verschlossen hatte. Nicht, dass er hatte lauschen wollen. Aber er war nun mal zu nahe an die Türe geraten und zu lange davorgestanden – im Vorbeigehen erstarrt –, als dass er hätte
überhören können, dass die beiden mehr taten, als sich über Waschgänge und das Falten von Servietten zu unterhalten.
Es war eine große Scham in ihm gewesen, als er sich wieder entfernt hatte. Eine vielfache Scham. Zugehört zu haben. Sich davongeschlichen zu haben. Der Umstand als solcher: zwei Frauen. Die leichte Erregung bei der Vorstellung, wie Inoue und Klara sich liebten. Die Wut, der Neid, das Gefühl der Niederlage. Eigentümlicherweise aber am wenigsten das Gefühl, wie hier das Gebot der Treue – das er selbst seit eineinhalb Jahren einhielt – gebrochen worden war. Als sei »Treuebruch« in diesem Fall einfach das falsche Wort. Aber Enttäuschung das richtige.
Am Morgen dann, beim sehr frühen Kaffee, den Inoue und Paul wie üblich gemeinsam einnahmen, hatte sie ihn gefragt, was er denn habe. Er schaue so »bissig«.
»Das ist nicht bissig.«
»Oder finster? Also, was ist?«
»Nichts!«, hatte er geantwortet.
Ihr war gleich klar gewesen, dass er etwas mitbekommen hatte. Aber sie fand, es sei an ihm, es auszusprechen. Und nicht an ihr. So ungerecht das auch sein mochte.
Und nun sagte er es auch. Er betonte, sie in keiner Weise ausspioniert zu haben, es sei ein Zufall gewesen. Er habe nicht schlafen können und war gerade am Weg nach draußen gewesen.
»Um was zu tun? Eine Zigarette rauchen? Du als Nichtraucher?«
»Meine Güte, ist das denn der einzige Grund, wieso man vors Haus will, wenn man nicht einschlafen kann. Überhaupt, muss ich mich jetzt rechtfertigen, dass ich nicht brav in meinem Bett gelegen bin, alleine, träumend, während du …? Wie lange geht das schon?«
»Du meinst, ich hätte es dir sagen sollen?«
»Das wäre eine Möglichkeit gewesen. Dann müssten wir jetzt nicht darüber streiten, ob auch Nichtraucher nächtens ins Freie dürfen.«
»Sei nicht kindisch«, sagte Inoue
.
Ihm war jetzt aber sehr danach, kindisch zu sein. Weshalb er nicht darauf verzichten wollte, die dumme Frage nach dem Grund zu stellen. Nach dem Wieso.
»Sei ehrlich«, sagte Inoue, »der Sex zwischen uns hat rasch seinen Zauber verloren, oder? Dennoch habe ich mich in keinem Moment nach einem anderen Mann gesehnt.«
»Und mit Klara ist der Zauber zurück, wie?«
»Es ist ein anderer Zauber.«
»Der ebenfalls vergehen wird.«
»Mag sein. Über die Länge eines Zaubers denkt man erst nach, wenn er vorüber ist, meine ich.«
»Das ändert aber doch einiges zwischen uns«, fand Klee.
»Wieso?«, fragte sie. »Muss das so sein? Denk doch, was uns wirklich verbindet: das Hotel. Auch die Liebe, ja, okay, aber viel mehr dieses Haus. Wollten wir uns trennen, wir müssten es auseinanderschneiden. Was bei Häusern zwar leichter geht als bei Kindern, aber so richtig leicht auch nicht.«
Und das stimmte nun einfach. Guter oder schlechter oder gar kein Sex hin oder her, Treue, Untreue, egal, das Haus würde sich weder teilen lassen noch wäre das Haus damit zufriedenzustellen, nur von einem der beiden weitergeführt zu werden. (Genau dies geschah dann leider, jedoch unter ganz anderen Vorzeichen, Vorzeichen, die – wenn man so weit gehen durfte, das zu sagen – vom Haus verstanden und akzeptiert wurden.)
Es bestand das gemeinsame Bemühen, dieses Hotel in der bestmöglichen Weise am Leben zu erhalten. Und dabei herauszufinden, was nötig war, um es noch ein wenig besser zu machen. Die Lücken in der kleinen Perfektion der Kleinen Nacht
zu schließen.
»Trotzdem …«, begann Klee, sprach aber nicht zu Ende.
Sie fasste seine Hand. Es hatte aber nichts Tätschelndes, Mitleidiges, nicht so ein Griff, der sagen will, es sei alles gut, denn es war ja nicht alles gut. Nein, es war ein Bekenntnis.
Sie tranken ihren Kaffee aus und fingen an, die Eier, die aus den zehngliedrigen Kartons schauten, herauszuholen, die Schalen
zu brechen und den Inhalt von Eidotter und Eiklar in eine große Schüssel zu füllen. Um sie später einem Weltniveau zuzuführen.
Am Abend dieses Tages, dessen Hitze das Land in einer ähnlichen Weise zudeckte und alles leiser werden ließ, wie man das von großen Mengen Schnee kennt, und selbst der Gesang der Grillen sich anhörte wie hinter vorgehaltener Hand, befanden sich fast alle Hotelgäste im Freien. Zwei der Paare waren unten in der Pergola und unterhielten sich, die anderen beiden saßen auf der großen, halbkreisförmigen Terrasse, die von der Dachfläche des seitlichen Gebäudeteils getragen wurde. Zu betreten war die Terrasse durch jenen Raum, in dem das Riff
lag. Und dort, im Riff
, saß als einziger Gast Klemens Holl im Luftzug eines von der Decke hängenden großen Ventilators. Es herrschte so eine Stimmung von Jamaika oder Casablanca, viel verwirbelte warme Luft.
Passend dazu hatte Holl ein Glas Rum bestellt. Klee schenkte ein. Allerdings keinen Rum aus der Karibik, sondern einen Malecon aus Panama, der nach dem klassischen kubanischen Verfahren hergestellt wurde. Und von dem Klee sagen konnte, dass sämtliche Anteile fünfundzwanzig Jahre oder älter waren. Die Farbe dieses alten Herrn erinnerte an einen Nussschnaps, auch das Aroma verriet Nüsse. Walnüsse. Sowie eine kleine Erdigkeit, lockere Erde aus der obersten Schicht. Blumenerde. Und dann der Geschmack: kräftige Süße. Altherrensüße. Abgelaufener Honig, aber nicht verdorben.
Einen Moment sprachen Klee und Holl über den Rum, dann über das Hotel und die Gegend. Aber schon klar, das war bloß die Ouvertüre zu der Frage, was Holl mit Frau Gehring, der Nachbarin, zu tun hatte. Und wieso er sich in deren unmittelbarer Nähe einquartiert hatte.
»Sie wissen ja wohl«, sagte Holl, »dass ich einst für das LKA
in Wiesbaden gearbeitet habe.«
Klee nickte. Dabei reizte es ihn für einen Moment, davon zu sprechen, dass Holl ja umgekehrt vielleicht wisse, dass er, Klee,
einst der Chauffeur eines bekannten Politikers und Managers gewesen war. Aber was er sagte, war: »Ehrlich, eine Abgeordnete der Front National geohrfeigt zu haben, dafür gebührt Ihnen höchster Respekt.«
»Danke, aber mit meinem Besuch hier hat das nichts zu tun. Es geht um einen alten Fall.«
Holl berichtete, wie er im Zuge seiner Kündigung vom Polizeidienst und seinem Rückzug ins Privatleben damit begonnen habe, alte Fälle zu bearbeiten. Im Grunde zu dem Zweck, ein kriminalistisch-philosophisches Handbuch über den Umgang mit dem Phänomen des Ungelösten zu verfassen. Gar so viele Fälle waren es nicht gewesen, einige aber schon. Und natürlich waren sie es, die einen Kriminalisten schmerzten, gerade dann, wenn die absolute Gewissheit bestand, dass etwas anderes geschehen war als das Beweisbare. Oder – und das war natürlich noch viel schlimmer – das Bewiesene.
»Sagen Sie jetzt nicht«, meinte Klee, »dass Frau Gehring auf Ihrer Liste steht.«
»Das tut sie! Besser gesagt der ganze verzwickte Fall, der mit ihr zusammenhängt.«
Die Sache lag siebzehn Jahre zurück. Damals hatte Eva Gehring noch Seebach geheißen, nach ihrem ersten Mann, von dem sie da schon geschieden war. Eine lebenshungrige Frau, die auf die sechzig zuging und in wechselnden Beziehungen lebte. Bevor sie dann den sechzehn Jahre älteren Otto Gehring kennenlernte. Und zwar bei jener legendären Hauptversammlung der Deutschen Telekom im Mai 2002, bei der empörte Anleger den damaligen Konzernchef Ron Sommer auspfiffen. Seebach und Gehring gehörten zum großen Kreis geschädigter Kleinanleger, die nach Köln gekommen waren, um sich Sommers Ausflüchte anzuhören, beziehungsweise nicht anzuhören.
Ron Sommer war dann bald Geschichte gewesen, aber die beiden Geschädigten, der damals dreiundsiebzigjährige Geologe und die siebenundfünfzigjährige Kauffrau, die im Zuge privater Aktienverluste stark verschuldet war, aber immer noch eine schöne
Frau, die beiden also waren am Abend nach der Hauptversammlung und nach einem Restaurantbesuch – sowie dem Gefühl, inmitten der Aktienkatastrophe auf den Ursprung des Lebens gestoßen zu sein, wenn dieser in der Anziehung zweier Menschen besteht – miteinander ins Bett gegangen. Als Ron Sommer dann im Juli auf Drängen der Bundesregierung von seinem Amt zurücktrat, allerdings unter dem Vorwand, sein Vertrauensverhältnis zum Aufsichtsrat sei gestört, da war das Liebesverhältnis der beiden Kleinanleger noch immer intakt. Nicht nur gehörten sie zu denen, die die Telekom auf Schadenersatz verklagten, sie beschlossen auch, in Zukunft ihr Leben gemeinsam bestreiten zu wollen. Wogegen zunächst der Umstand sprach, dass der in Fulda lebende Otto Gehring ein verheirateter Mann war. Allerdings gestand er im Herbst des gleichen Jahres seiner Frau die Liebe zu Eva Seebach und bat um die Scheidung. Woraufhin offensichtlich ein Sturm entbrannt war, den nicht allein die Ehefrau bewirkt hatte, sondern auch die gemeinsamen erwachsenen Kinder. Nicht zuletzt spielte eine Rolle, dass … nein, es ging vor allem ums Geld, weil es immer ums Geld geht. Der vom Geld genetisch veränderte Mensch bildet kleine Münzschlitze in seinem Herzen. Manche werden Sparschweine, andere Spielautomaten.
Es gab Krieg. Es gab Intervention. Aber kaum Diplomatie. Und die Situation der T-Aktie wurde derweil auch nicht besser. Doch der Geologe tat einen entscheidenden Schritt, indem er aus der Villa in Fulda, die er mit seiner Frau bewohnte, auszog und zu Eva Seebach in deren ebenfalls nicht ganz kleines, aber finanziell stark belastetes Haus wechselte. Ein Haus, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft eineinhalb Jahrzehnte später ein Hotel als Hommage an das Phänomen einer »Nacht in der Nacht« entstehen sollte. Was Otto Gehring allerdings nicht mehr erleben würde, weil er 2014 an den Folgen eines Herzinfarkts verstorben war.
Es war aber nicht sein
Tod, der den ehemaligen Kriminalhauptkommissar Holl beschäftigte, sondern der von Gehrings erster Frau Lore. Welche im Sommer des Jahres 2003 spurlos verschwunden war. Angeblich hatte Otto Gehring ihr, seiner Frau Lore,
versprochen, wieder in das heimische Haus und also in die Ehe zurückzukehren. So behaupteten die erwachsenen Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, einhellig. Nicht aber Otto Gehring selbst. Faktum war, dass seine Noch-immer-Ehefrau in diesem Sommer 2003 von einer Tour durch das Erzgebirge, die sie, die leidenschaftliche Wanderin, unternommen hatte, nie zurückgekehrt war. Eine Wanderung, die nach Aussage ihrer Kinder eine Art Danksagung der Mutter für die bevorstehende Rückkehr des Gatten und Vaters ihrer Kinder darstellen sollte. Eine Verneigung vor der Gnade des Schicksals. Der Gnade, die sich in einem letztendlich und Gott sei Dank zur Vernunft gekommenen Mann offenbarte.
Kann man im Erzgebirge spurlos verschwinden? Nicht irgendwo im Erzgebirge, sondern auf einer regulären Route, die von Freital aus zur Teufelskanzel und Himmelsleiter führt. Keine einfache Strecke, das nicht, sondern eine schwierige, für die gutes Schuhwerk notwendig ist und alpine Erfahrung von Vorteil, aber halt keine in irgendeiner so gut wie unbewohnten und unbewanderten Gegend an den Rändern dieser Welt. Lore Gehring war jedenfalls an einem Vormittag von ihrem Hotel in Freital gut ausgerüstet aufgebrochen und am Abend dieses Tages nicht wie geplant zurückgekehrt. Die Suche nach ihr blieb ebenso erfolglos wie auch nur der Versuch festzustellen, an welcher Stelle des Weges sie ein letztes Mal gesehen worden war. Sie hatte diese Wanderung alleine unternommen, und da war niemand, der Angaben darüber machen konnte, in welchem Bereich dieser fünfzehn Kilometer langen Strecke sie vom Weg abgekommen sein konnte. Es gab keinen Hinweis, es wurde nichts gefunden, was auf ihren Verbleib hingewiesen hätte. Um es im Jargon eines Märchens zu sagen, da war kein einziger Brotkrumen am Wegesrand zu finden, der bezeugt hätte, dass diese Frau überhaupt je vorbeigekommen war.
»Ein Unglück also«, kommentierte Klee, der ja ganz gut wusste, wie problematisch dieser Begriff war, wenn man damit andeuten wollte, Unglücke würden so ganz frei von Schuld geschehen. Einfach von Himmel fallen
.
»Bei einem Unglück«, antwortete Holl, »hätten wir die Frau gefunden. Das ist ja nicht im Himalaja passiert. Weder ist die Frau in eine Gletscherspalte geraten noch unter eine Lawine. Nicht im Hochsommer. Nicht in ein paar Hundert Metern Höhe. Wir hätten sie finden müssen. Etwas von ihr.«
»Vielleicht wollte sie nicht gefunden werden«, meinte Klee.
»Das ist natürlich immer eine Möglichkeit. Bei einem Selbstmord genauso wie im Falle einer Flucht. Aber sehen Sie, die Frau plante doch, demnächst wieder mit ihrem Mann zusammen zu sein.«
»Laut der Kinder«, erinnerte Klee und meinte, erwachsene Kinder seien selten auf der Suche nach der Wahrheit, sondern immer nach dem Geld. »Das sagten Sie doch selber, oder?«
»Schon richtig«, antwortete Holl. »Und dennoch, deren Aussagen erschienen mir glaubwürdiger als die des Herrn Gehring, der eher das Bild eines Mannes abgab, der sich nicht entscheiden kann, was er denn sagen möchte. Ungewöhnlich konfus für einen Naturwissenschaftler. Aber nicht so konfus, dass er nicht zweieinhalb Jahre später seine Geliebte geheiratet hätte.«
Lore Gehring war nach zweijähriger Suche, die zuerst von den Behörden, dann von einem Bergführer im Auftrag ihrer Kinder vorgenommen wurde, aber ohne jegliches Ergebnis geblieben war, auf Antrag ihres Mannes und gemäß Paragraf 7 des Verschollenheitsgesetzes für tot erklärt worden. Die offiziellen Stellen gingen von einem Unglücksfall aus, einem tödlichen Sturz, im Zuge dessen der Leichnam an einen Ort geraten sein musste, der besonders schwer einsehbar war. Irgendeine gottverdammte Lücke oder Spalte, die den Körper ins Innere der Erde geholt hatte. Das konnte zwar kaum als ein befriedigender Abschluss der Ermittlungen gelten, aber ein Abschluss war es gleichwohl.
»Das hat mir nie gefallen«, sagte Holl. »So sollte eine Untersuchung nicht enden. Gewissermaßen mit einem Achselzucken ob der Schwierigkeiten eines Geländes. Der toten Winkel, die sich auch im Egebirge bilden. Aber was sollten wir tun? Gehring und seine Geliebte, die dann bald seine Frau wurde, hatten
ein gemeinsames Alibi. Sie waren an diesem Wochenende in Paris.«
»Ausgerechnet Paris?«
»Sie meinen wegen der Ohrfeigengeschichte. Ja, das kam aber sehr viel später. Wobei es stimmt, dass ich mir damals, als ich in Paris war, das Hotel angesehen habe, in dem die beiden abgestiegen sind, also zur gleichen Zeit, als Lore Gehring zwischen Bäumen und Felsen verschwand. Sie sehen, es hat mich nie losgelassen.«
»Und wenn es nichts zu bedeuten hat? Wenn die Leiche seit … wie vielen Jahren?«
»2002 lernten sich Otto und Eva kennen, 2003 verschwand Lore. Sechzehn Jahre also.«
»Seit sechzehn Jahren hinter einem Felsen verborgen liegt? Ein dummer Sturz. Pech halt.«
»Die Frau liegt hinter keinem Felsen«, bestimmte Holl stur. Stur, aber mit einer Ruhe in der Stimme. Der Ruhe eines Langstreckenläufers.
»Na, hoffentlich meinen Sie nicht, sie sei im Garten meiner Nachbarin begraben.«
»Das wäre schlecht für Ihr Hotel, nicht wahr?«
»Interessant, dass Sie das sagen«, meinte Klee, »als mir meine Lebensgefährtin dieses Haus verkauft hat – sie war damals die Maklerin –, sprachen wir darüber, ob man das überhaupt wissen wolle, wenn ein Haus oder Grundstück, das man gerade im Begriff ist zu erwerben, ein dunkles Geheimnis birgt.« Dazu lachte er und fügte an: »Aber es geht ja um das Haus der Nachbarin.«
»Trotzdem kein schöner Gedanke.«
»Nein, sicher nicht«, sagte Klee.
Holl erklärte, nicht ernsthaft zu meinen, es befinde sich eine Leiche auf dem Grundstück jener Frau, die 2005 Otto Gehring geheiratet und seinen Namen angenommen hatte und 2014 zur Witwe geworden war. Ihr Mann hatte ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, auch wenn die T-Aktie bis heute weit von ihrem Einkaufswert entfernt ist. Aber der alte Gehring, der –
etwas untypisch für einen Geologen – in den 1970er-Jahren einige Patente im Bereich der Verpackungstechnologie angemeldet und damit viel Geld gemacht hatte, hatte die Bewegungen des Aktienmarktes ganz gut vorausgesehen. Nur die Bewegung dieses einen verfluchten Wertpapiers nicht. Fast schien es, als hätte er allein darum in jene so unglücklich sich entwickelnde sogenannte Volksaktie der Telekom investiert, um auf diesem Weg Eva kennenzulernen.
»Die Kinder Gehrings«, sagte Holl, »haben sich mit ihren Pflichtteilen zufriedengeben müssen. Wohl als Strafe dafür, sich niemals mit ihrer Stiefmutter angefreundet zu haben. Und niemals aufgehört zu haben, den Verdacht auszusprechen, es sei etwas nicht in Ordnung an dem Verschwinden ihrer Mutter.«
»Dann stehen Sie also auf der Seite der Kinder?«
»Das sind eher widerliche Leute«, sagte Holl, »aber das hat mich nicht zu kümmern. Sondern die Wahrheit. Als Kriminalist ist sie mein Beruf wie meine Leidenschaft. Und Kriminalist zu sein hört man ja nicht auf, gleich wie sehr einen eine bloße Ohrfeige aus dem Geschäft geworfen haben mag. Ich verfolge meine alten, ungelösten Fälle. Oder die, deren Auflösungen mir stets verdächtig vorkamen. Menschen verschwinden nicht einfach. Sondern kompliziert.«
»Weiß Eva Gehring, wer Sie sind?«
»Ich hatte damals mit Otto Gehring gesprochen, natürlich, aber nie mit seiner Frau, Eva. Zwar wurde auch sie befragt, allerdings von einem Kollegen, nicht von mir persönlich. Sie kann mich nicht kennen.«
»Und was haben Sie vor?«
»Ich bin Gast in diesem Hotel.«
»Ja, schon.«
»Bitte verlangen Sie nicht«, sagte Holl, »dass ich Ihnen verrate, wie ich vorgehen werde. Vor allem schreibe ich an meinem Buch. Man könnte sagen, das Buch gibt den Weg vor. Es zeichnet die Spur auf, die zu Frau Gehring führt.«
Klee dachte daran, wie er früher stets ein sehr einfaches und ein
sehr kompliziertes Buch – ein leichtes und ein schweres – auf dem Beifahrersitz liegen gehabt hatte. Eine Gepflogenheit, die ihm eine geliebte Extravaganz gewesen war. Die er aber gänzlich aufgegeben hatte, seitdem er Hotelier geworden war und immer wieder mal Personen auf dem Beifahrerplatz zu sitzen kamen, vor allem Inoue. Klee hatte in der Tat mit dem Lesen aufgehört. Aufgehört, ein Ritual zu pflegen. Vielleicht auch, weil ihn bis heute die Vorstellung bedrängte, sich damals im Tunnel für das falsche Buch und damit für den falschen Weg entschieden zu haben, indem er die Agonie des Realen
eingeschlagen hatte, anstatt Vergiss, wenn du leben willst
. Vielleicht aber umgekehrt. Es mochte auch diese Unsicherheit sein, die Klee dazu gebracht hatte, aufzuhören, zwei Bücher in seinem Wagen mitzuführen. Neben dem Umstand, einfach kein Chauffeur mehr zu sein mit all den Wartezeiten und Pausen und nächtlichen Ausfahrten.
Er schenkte Holl noch ein weiteres Glas Rum ein, etwas ganz Spezielles, noch ein wenig spezieller als der »alte Herr« von zuvor, nicht zuletzt darum, weil die Destillerie, aus der der Rum stammte, ein Caroni, nicht mehr existierte. So besaß dieser Rum etwas Schattenhaftes und Jenseitiges. Auch er nicht mehr ganz jung, aber mit seinen siebzehn Jahren nicht ganz so alt wie der Malecon (es existiert übrigens auch für den Rum ein Umrechnungssystem, um wie im Falle von Tieren das Alter des Rums in das Alter von Menschen übertragen zu können und eine Vorstellung von den Relationen zu erhalten, und zwar in folgendem Verhältnis: 1 Rumjahr sind 4,2 Menschenjahre).
Eine irre Nase, fand Holl. Freilich ein Rum, von dem Klee empfahl – so selten er das tat –, ihn mit Wasser zu versetzen, weil die fünfundfünfzig Prozent Alkohol einfach zu stark waren, um diesen siebzehnjährigen, der, wäre er ein Mensch gewesen, gerade seinen einundsiebzigsten Geburtstag hinter sich gebracht hätte, unverdünnt zu genießen. Ein Rum, auf dessen reiche, fruchtige Süße versprechendes Aroma ein erstaunlich würziger Geschmack folgte, etwas von einer Suppe. Freilich einer Suppe, in der so etwas wie »goldenes Fleisch« gekocht worden war, und zwar siebzehn
Jahre lang. Und die dann lauwarm unter der Sonne Trinidads in eine Flasche gefüllt worden war. Eine Flasche, die ein günstiges Schicksal an diese Bar, in dieses Riff
gelenkt hatte.
Während Holl sein zweites Glas genoss, ging Klee nach draußen, um nachzufragen, was er für seine anderen Gäste Gutes tun könne.
Von der Terrasse aus konnte er das Glashaus der Zwillinge sehen, das weiter oben am Hang in einer der Nischen des Hügels lag und aus der Nacht herausleuchtete. Es war wohl gerade Lesezeit, Zauberbergzeit. Vollkommen verrückt, dachte Klee, dass die Kinder darauf bestanden, so ein Buch vorgetragen zu bekommen. Wahrscheinlich spielten sie unter der Decke mit ihren Handys, während Klara sich mit Thomas Mann abmühte. Bevor dann Inoue kommen und die beiden Frauen sich ins Angestelltenzimmer zurückziehen würden. Klee musste immer wieder daran denken. Der Gedanke machte ihn inzwischen aber weniger wütend als traurig. Wie wenn etwas verloren geht. Als sei er selbst auf eine gewisse Weise Vergangenheit. Und das war er ja auch.
Als er sich jetzt einem der Gäste zuwandte, wanderte sein Blick in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo das Haus der Eva Gehring lag. Klee hatte es nie anders gesehen als etwas, von dem er sich wünschte, man könnte das obere Stockwerk abreißen, damit mehr Luft und Licht von dieser Seite her auf das Grundstück der Kleinen Nacht
gelangte. Beziehungsweise hielt er es für eine gute Idee, einmal über das Geld zu verfügen, um der alten Gehring das Haus abkaufen zu können.
Umso mehr gefiel ihm die Vorstellung, Eva Gehring könnte ins Gefängnis wandern, weil sie von einem ehemaligen Beamten des LKA
überführt wurde. Nicht, dass er wirklich daran glaubte. Das war Unsinn. Natürlich verschwanden Menschen ganz einfach so, fielen in irgendwelche Schluchten, geradezu unsichtbar, bevor dann wilde Tiere und fleißiges Gewürm diese Unsichtbarkeit weiter verstärkten. Irgendwann würde man dann ein Gerippe finden und hätte alle Mühe, sich daran zu erinnern, wie das war, als einst nach diesem Menschen gesucht worden war
.
Nachdem Klee auf der Terrasse und dann unten in der Pergola einige Bestellungen aufgenommen hatte, kehrte er ins Riff
zurück. Soeben rutschte Holl von seinem Hocker. Wie er es tat, verriet sein Alter. Keine Behäbigkeit, aber doch eine Mühe, die entsteht, wenn immer und überall ein kleines Hindernis zu überwinden ist. Und sei das Hindernis der eigene Bauch.
Er verabschiedete sich von Klee. Er sagte, er wolle noch ein wenig spazieren gehen.
Klee nickte und wünschte eine gute Nacht. Dann machte er sich an die Zubereitung der Getränke. Er holte Eis aus der Eismaschine und setzte zugleich die Espressomaschine in Gang.
Hinter ihm im Aquarium rangelten zwei kleine Krebse. Aber vielleicht war es ja Liebe.