ZUVOR

Das Reh auf der Lichtung. Zum Abschuss bereit.

Still war es, dunkel war es. Nur das schwache Leuchten eines Bildschirms gab dem Raum Konturen. Vielleicht könnte man mehr erkennen, wenn der Mann aufstehen würde. Könnte das zerwühlte Bett sehen, das mit der Bayern-München-Bettwäsche, die vier Coladosen daneben, das Plakat von Madonna, die Hanteln und Socken auf dem Laminatboden.

Aber er stand nicht auf, er war auf der Jagd, seine Silhouette verdeckte die Lichtquelle seines Computers, die der Abglanz des Zentrums seiner Welt war, so lange, bis es wieder so weit war. Bis er wieder hinauskonnte, hinausmusste.

Im Dachgeschoss eines Vorstadthauses saß er, irgendwo zwischen Hessen und Franken, in den Zimmerecken lagerte Dunkelheit und für einen Moment hob er den Kopf. Ein Geräusch hatte ihn aufmerken lassen. Er war wachsam, war es immer gewesen, das hatte sich bewährt, sonst würde er hier nicht mehr sitzen und Unfug treiben können. Seine Mutter würde das so bezeichnen, wenn sie wüsste, was er hier machte. Sie würde ihm eine runterhauen und dann in die Arme schließen. Ihr guter Junge.

Er lauschte. Es hatte begonnen zu regnen, Tropfen fielen auf das Dachfenster, wurden mehr, ein Rauschen setzte ein.

Der Mann richtete sich kurz auf, seufzte, sank dann in sich zusammen und klickte auf sein Profil: DeinFels.

Hallöchen, du schöne, wie geht es dir?

Es war 23:26 Uhr, als dieser Satz auf ihrem Computer auftauchte.

Sie saß im Blaulicht des Bildschirms und griff routiniert nach den Gummibärchen. Ein kleines Gefühl von Aufregung tauchte auf. Jemand schrieb ihr. Endlich passierte etwas, da war einer, saß irgendwo, wollte sie kennenlernen.

Seit vier Tagen war sie online, unzählige likes hatte sie erhalten, aber keiner hatte ihr geschrieben.

»Nicht selber schreiben!« Das hatte Nicole gesagt, da hielt sie sich dran. All die Profile mit den likes hatte sie sich angeschaut.

Männer auf Motorrädern, Männer vor Wohnzimmerschränken, Männer mit Bauch in engen Rennanzügen auf Fahrrädern. Männer vor einer Sehenswürdigkeit, Männer mit einem Bier in der Hand, dem Betrachter zuprostend, Männer am Steuer eines Segelschiffes. Männer mit Sonnenbrillen im Gesicht, Männer mit Baseballkappen, Männer, auf deren Foto eine Dame abgeschnitten worden war, nur ein paar blonde Haare waren noch zu erahnen, manchmal lag da auch noch eine Frauenhand auf der Schulter. Männer vor ihrem Badezimmerspiegel, ein Selfie machend, Männer in gefliesten Wohnungsfluren, Männer neben Grünpflanzen kniend (warum?). Männer vor Springbrunnen, Männer in einem Weihnachtsmannkostüm, Männer, die durch ein Astloch guckten, Männer ohne Ende.

Die Betrachtung der Fotos hatte sie unerklärlicherweise traurig gestimmt. So viel Einsamkeit, die ihr aus dieser anonymen Welt entgegenströmte wie eine zweifelhafte Chemikalie, ungesund. Und: So viele Männer, die ihr nicht gefielen.

Nun hatte ihr also wirklich einer geschrieben. Das Foto: sympathisch, die Haare verwegen in der Stirn, im Hintergrund ein paar Flugzeuge, vielleicht hatte er sogar Geld.

Alter: passend, nur zwei Jahre älter als sie. Sonst suchten die 40-Jährigen ja bis maximal dreißig, aber der hier …

Hallöchen, na ja, vielleicht war das so auf diesen Plattformen, noch hatte sie nicht viel Erfahrung.

Hallöchen, du schöne.

Kein Foto von ihr drin und doch hielt er sie für schön. Das sprach doch für ihn, wirklich, das tat es. Er wollte einen guten Charakter und den hatte sie, das hatte er bestimmt beim Lesen ihres Profils herausgefunden.

Hallöchen, du schöne. Hallo hätte ihr besser gefallen, aber vielleicht sprach man jetzt so und sie hatte es verpasst.

Katrin beugte sich über ihren PC, studierte das Profil: 1,84, athletisch, Geschäftsführer. Nein, der war eine Nummer zu groß für sie. Andererseits, es gab doch diese Fälle: sehr attraktive Männer mit einer unscheinbaren, übergewichtigen Frau, die gab es doch, wenn sie sich nicht gerade doll irrte, das konnte doch sein.

Ihm wäre es vielleicht egal, dass sie nur bei einer kleinen Firma im Büro saß und der Sekretärin zuarbeitete. Ein stilles, zurückgezogenes Leben führte.

Als Fremde war sie in das Städtchen gekommen und fremd war sie geblieben. Eigentlich kannte sie nur die Leute aus dem Kirchenchor. Ein wundervoller Chor, und singen, das konnte sie. Sopran.

Sachte klickte Katrin in das offene Chat-Fenster, zögerte, tippte dann: »Hallöchen«.

Zack. Die Antwort war so schnell da, dass sie einen kleinen Schreck bekam.

Das ist schön, dass du antwortest, meine schöne. wie geht es dir?

Er wollte immer noch wissen, wie es ihr ging. Ein scheues Lächeln wanderte über Katrins Gesicht.

Es geht ganz gut und dir? Was schrieb man denn da, sie hatte keine Ahnung.

Ganz gut klingt aber nicht so richtig gut. was fehlt dir denn?

Diesen Satz, den hatte ihr Chat-Partner aus einer Aufreißerfibel. Kapitel drei: »10 Sprüche, bei denen Frauen weich werden«. Und hier der vierte Spruch: »Was fehlt dir denn?« Begleithandlung: Tief in die Augen gucken.

Ja, was fehlte ihr denn, das konnte sie doch jetzt nicht einfach so schreiben. Seit acht Jahren war sie Single und davor nichts, woran sie sich erinnern wollte.

Ihre Finger schwebten über der Tastatur.

Authentisch sein, offen, ganz man selbst.

»Ich suche nach der Liebe, der richtigen.« Das war bestimmt voreilig, aber alles war ja ganz anonym, ganz im Verborgenen. Ihre Finger bebten beim Tippen, nervös war sie, jetzt grub sich ihre Rechte in das Glas mit den Gummibärchen, ihr weicher Mund öffnete sich und nahm die süße Fracht auf, mechanisch begann sie zu kauen.

Die kanns du bei mir findn, meine schöne.

Hingeschludert, er hatte es wohl eilig. Oder: Er konnte es nicht besser?

Katrin richtete sich wieder auf, ihre Füße mit den Hummelhausschuhen zog sie unter den Stuhl, die Hummelfühler wippten sachte.

»Aber du kennst mich doch noch gar nicht.«

Das können wir leicht ändern. hast du kinder?

Komische Frage, einen Moment stutzte Katrin. Konnte man nicht erst mal über so Allgemeines reden? Also Reiseziele und so?

»Nein. Verreist du gerne?«

Mit dir bis ans ende der welt.

Katrin musste aufstehen.

War das Schicksal? Hatte sie ihn gefunden? So schnell?

Bist du noch da?

Ja, Katrin war noch da, fühlte sie aufsteigen, die, die sie sonst niederdrückte, mit Gummibärchen zum Schweigen brachte, die ganze Wucht ihrer Jungmädchenträume. Ein Mann mit Geld und eigenem Flugzeug, mit dem sie durch die Welt reiste und alles gezeigt bekam, was sie bisher nicht gesehen hatte. Vor ihrem inneren Auge lag ihr die Landschaft Cornwalls zu Füßen, Pilcher-Land.

Ja, ich bin noch da.

Der Mann im Dachgeschoss des kleinen Vororthauses lächelte. Er las diese Worte und konnte nicht anders.

Er rückte noch ein bisschen näher an den Bildschirm heran, tippte mit dem Zeigefinger auf ihr Profil, strich zart über den Profilnamen Sonnenschein38 und murmelte: »Nicht mehr lange, meine Süße, nicht mehr lange.«