Er hätte nicht benennen können, wie er sich fühlte, fragte eh keiner und wäre auch ungewöhnlich gewesen für ihn, also sich irgendwas bewusst zu machen, aber fast hätte Stefan seine Mutter doch noch angerufen. Dorothea war weg. Auch nach dem Aufwachen. Er war misstrauisch durch die Wohnung geschlichen, hatte den Kopf in die Küche gesteckt, nichts. Hatte zögernd ihre Schlafzimmertür geöffnet, vielleicht lag sie ja tot im Bett. Nichts.
«Blöde Scheiße hier.« Hatte noch ein bisschen auf die ordentlich über dem Bett ausgebreitete Steppdecke mit Rosenmuster geblickt, auf die Stoffkatze, die Puppe und den Harlekin, die am Kopfende zufrieden dasaßen und ihn ignorierten.
»Superblöde Superscheiße.« Dann hatte er die Tür sachte geschlossen und im Flur herumgestanden, dem Flur, auf dessen Fliesen er sonst das vertraute Klappern von Dorotheas Hausschuhen gehört hatte.
Da war sie wieder, die kalte Klammer, die seine Arme umschloss, ihn starr und seinen Atem kurz werden ließen.
Bezaubernde Jini. Sie war da, sie war auf dieser Insel. Sie saß in ihrer 18-Zimmer-Villa mit Panikraum und wartete auf ihn. Es half nichts, er musste unter Leute, sich in ein Café setzen, noch mal das Foto einprägen, gestern wollten sie sich ja treffen. Und dann? Dann, Stefan rieb sich über die Arme, dann wüsste er schon mal, dass sie da war und könnte Dorothea einschalten.
Aber wo war Dorothea?
Ein bisschen desorientiert trudelte der Serienkiller Stefan gerade durch seine Umlaufbahn.
Kornmaier wachte auf, weil sein Handy klingelte. Für Mateo hatte er einen Klingelton einprogrammiert. Er hob das Telefon vom Boden neben dem Bett hoch und registrierte, dass Julia angerufen hatte, Mist.
»Guten Morgen, Mateo.«
»Er sitzt nebenan«.
»Der Zombie?«
»Genau der.«
»Danke, Mateo!«
»Keine Ursache.«
Es nervte, dass er jetzt zwei Baustellen hatte, Mr. Reiht und das Geheimnis der Zisterne. Klang nach einem Edgar Wallace-Film, aber so musste er zumindest weniger an kalter Entzug, an Hibiskus und die Dame möchte nicht denken.
Also: Katze füttern, Aufbruch. Heute bretterte er den Feldweg herunter, eine Staubwolke hinter sich herziehend, nahm aber immerhin doch wahr, dass sein Nachbar mit verschränkten Armen in der Auffahrt stand und süffisant grinste. Wahrscheinlich wurde der langsam wahnsinnig, seines Ferraris wegen. Gestern Abend noch hatte Kornmaier sein Mietauto nach Hause gefahren und dabei diese rote Carbonschleuder passiert. Seltsamerweise hatte der Wagen verlassen an der dunklen Landstraße gestanden, mit ramponiertem Heck. Langsam sah der Ferrari aus wie ein Stockcar. Ein Rätsel reihte sich an das nächste.
Im Club angekommen wartete Matteo schon und deutete mit dem Kopf ein Haus weiter. Und wirklich, da saß er und tippte auf einem Laptop herum. Mr. Reiht sah verärgert aus, etwas war nicht so, wie es sein sollte. Kornmaier würde sich jetzt erst mal niederlassen, einen Espresso bestellen und zu sich kommen. Es gab keinen Plan für diesen Fall hier. Er musste auf eine Eingebung warten, die hoffentlich kommen würde.
Kurz vor Sonnenaufgang hatte Mitschke einen Ausflug gemacht. Den Zustand der Beute prüfen.
Die Schlampe hatte randaliert. Wunderbar. Jetzt lag sie zur Seite gekippt auf dem Steinboden und rührte sich nicht. Mitschke war in der Tür stehen geblieben und hatte noch mal die Umgebung gecheckt. Keiner zu sehen. Still und klar war der Morgen, eine kleine Herbstkühle hing angenehm in der Luft und Mitschke war von ungewohnter Zufriedenheit durchsonnt. Schon beim Verlassen des Ferraris hatte er den Strumpf über den Kopf gezogen. Er stank wieder entsetzlich, aber was tat man nicht alles für eine gute Tarnung und im Namen der Gerechtigkeit.
Julia hatte den Kopf gehoben, da kam einer, aber wer?
Ein fetter Typ stand da, Maske überm Kopf wie bei Aktenzeichen XY…Ungelöst, auf dem T-Shirt der Text: Einer geht noch, einer geht noch, einer geht noch rein. Olé.
Angst flutete über sie hinweg. Was wollte der?
»Losmachen, sofort!« Mal wieder krächzte es aus Julia, die nach wütendem Kampf immerhin Knebel und Augenbinde losgeworden war.
Und Mitschke freute sich, herrlich, offensichtlich hatte die Dame über Nacht ihre Stimme verloren, wie das wohl hatte geschehen können? Ein kleines Glucksen entfuhr ihm. Vorsicht, Vorsicht! Nichts sagen!
Gemächlich drehte er den Deckel einer Wasserflasche ab, ging die paar Schritte zu Julia und hielt ihr die Flasche hin. Ja, sie war durstig, verdammt durstig, aber von dem was annehmen? Andererseits, oder doch, oder nein.
Mitschke kippte die Flasche von rechts nach links, von links nach rechts, schaute auf die unentschlossene Dame, kippte die Flasche jedes Mal ein bisschen weiter, schon benetzte das erste kostbare Nass den staubigen Boden einer Finca, deren Dach bereits zum Teil eingestürzt war.
Julias Augen folgten dem Wasser, wie es da so tropfte, folgte der Hand, die von schwarzem Latex umschlossen die Flasche hielt und mit ihr spielte. Warum sprach der nicht mit ihr?
»Was wollen Sie denn von mir? Sagen Sie doch mal was!«
Irgendwie hatte sie nicht das Richtige gesagt. Der Fremde war aufgestanden, drehte die Wasserflasche um, besprengte weit ausholend den Boden, besprengte Julia, einer Segnung nicht unähnlich, und ging.
Draußen ließ er den Motor an und fuhr vorsichtig auf dem verwilderten Feldweg zurück in die Zivilisation. Zärtlich kratzten dabei Brombeerranken am Lack seines Wagens.
Der Zustand der Beute war eins a.
Das ökologische Gleichgewicht war aus den Fugen geraten. Dorothea war verschwunden und Stefan hing in der Luft wie Ikarus, der sich zu sehr der Sonne näherte. Und keiner da, der ihn warnen konnte.
Er saß krumm vor seinem Laptop, versunken in seiner virtuellen Welt, und erstellte ein neues Profil, obwohl er nicht durfte, aber jetzt war Dorothea weg, jetzt konnte ihm keiner mehr was sagen. Wo war KleineBlume38? Wo war seine Fahrkarte ins Glück? Es reichte ja noch nicht, oder reichte es doch schon?
Ein neuer Nick musste her. SugarDaddy, nein, vielleicht Panikraum, nein, er musste die ja irgendwie locken. BinSelberReich, keine neidischen Männer wollte die haben, Vermögend, wie wäre es damit, ja, das war gut, das würde er jetzt nehmen. Vermögend. Die Investition in seine geliebte Aufreißerfibel hatte sich inzwischen mehr als gelohnt. Vermögend.
Eine Vorfreude ergriff ihn. Ein eigenes Haus, eine große Mauer drumrum und keine Frau, er würde ganz so leben, wie er es wollte.
Und während Stefan routiniert ausfüllte und nach neuen Männerfotos suchte, solche mit Flugzeugen oder teuren Autos oder Segelschiffen, musste er aus irgendeinem Grund, er wusste nicht aus welchem, aus irgendeinem Grund also musste er nach links gucken, wie von einem Magneten gezogen, so als hätte jemand ein großes Schild mit einem Pfeil aufgestellt. Aus irgendeinem Grund also guckte er direkt in die Augen des Fremden, der vorgestern an ihm vorbeigesprintet war, um sich in etwas einzumischen, in das man sich nicht einzumischen hatte. Und so surreal war das, so ganz und gar unerwartet, dass Stefan länger guckte, als er es üblicherweise tat. Wenn es denn einmal vorkam, dass er von jemandem beim Gucken erwischt wurde, guckte er so schnell weg, dass es im Prinzip gar nicht stattgefunden hatte, das Gucken. Aber jetzt, jetzt guckte er wie hypnotisiert, konnte den Blick kaum lösen und all das ließ wieder die Neoprenklammer um seine Arme greifen.
Das konnte kein Zufall sein, er wurde verfolgt.
Abrupt erhob er sich, klappte den Laptop zu und suchte das Weite.
Und wirklich, jetzt rannte ein Typ hinter ihm her, rief Hallo, hallo und Stefan begann zu laufen und der andere auch. Schneller und schneller ging es dahin, um Ecken, durch Torbögen, treppauf, treppab und schließlich landete er in einer Sackgasse und dann war der andere da, boxte ihn in den Rücken und stieß schwer atmend »Zahl gefälligst, du Sackgesicht« aus.
Nicht der Fremde, nur der Kellner und auch der wieder kein Spanier und da bekam Stefan schon wieder Oberwasser und zahlte und trollte sich, beschloss aber, nie wieder den Plaça Mayor zu betreten.
Die Rote war gerissen. Angelika kroch auf den Terrakotta-Fliesen ihres Hinterzimmers herum und sammelte Perlen ein. Und während sie fluchte und sammelte und fluchte und sammelte und die kleinen Kugeln in ein Körbchen beförderte, ging die Ladenklingel.
Der Lieferant war da. Wenigstens etwas.
Und was machte sie jetzt mit Theo, nach der Abfuhr gestern? Nein, nicht dran denken, doch, dran denken, eine solche Kränkung, sie hatte schon alles en detail mit Josy durchgehechelt. Josy hatte was von: »Hätte ich dir gleich sagen können«, »Vergiss den Typen« und »Ist der doch gar nicht wert« gesagt. Hatte nicht wirklich geholfen. Wenigstens ein schlechtes Gewissen konnte sie ihm machen. Das war doch ein schwacher Punkt bei Theo.
Unaufmerksam war sie bei Annahme der Lieferung gewesen.
Zerstreut hatte sie dem jungen Mann zugenickt, zerstreut alles durchgesehen. Tage später hatte sie festgestellt, dass sie 800 Euro zu viel gezahlt hatte, egal.
Sie nahm den Schlüssel, schloss die Galerie ab und machte sich auf Richtung Club, vielleicht war er ja da.
Einigermaßen konsterniert hatte Kornmaier den hektischen Aufbruch von Mr. Reiht beobachtet. Verflucht noch eins. Der hatte ihn wiedererkannt. Verflucht, verflucht, verflucht.
Er hatte ja schon vorher keinen Plan gehabt, kurz dachte er an Mateo, ob der jetzt … Aber der war ja mit irgendeiner unsichtbaren Leine an diesem Restaurant festgebunden, also musste jemand anderes das in die Hand nehmen. Aber wer? Und da geschah das Wunder, Angelika tauchte auf. Kam die Treppenstufen vom Platz heruntergestiegen, unverkennbar in ihrer Tunika, mit ihren tausend Ketten und Kornmaier sprang auf, lief ihr entgegen, lud sie mit weit ausholender Geste an seinen Tisch ein, wappnete sich innerlich und würde nun erst mal eine unangenehme Phase überstehen müssen. Und wirklich, während Angelika diesen und jenen Vorwurf machte und er ernsten Gesichtes zustimmte und nickte und schuldbewusst guckte, dachte Kornmaier: »Das vermendelt sich im Laufe meines kleines Menschenlebens und erst recht, wenn man an die Evolution überhaupt denkt.«
Er bestellte Angelika einen Prosecco mit Limonen-Sorbet und dann noch einen und versuchte derweil zu bedenken, wie er Angelika für seine Mission – Wo ist Katrin? – würde einsetzen können. Und unvermeidlich musste er dabei an Julia denken, unseligerweise, und da endlich verzieh ihm Angelika, weil er so traurig guckte.
»Sag mal«, Kornmaier winkte nach Mateo für den dritten Prosecco, »das Haus, also das, wo ich wohne, hast du mal was drüber gehört?«
Er hätte schwören können, dass sie alarmiert guckte.
»Wie meinst du das?« Angelika hatte bereits diesen kleinen Schwung zu viel in der Bewegung, sie war über einen Schwips schon hinaus. Und Kornmaier seufzte, fast hatte er es schon vergessen, dass mit Angelika kein Informationsaustausch möglich war.
»So, wie ich es sage. Gruselgeschichten? Untote? Oder so was wie«, er machte eine kleine Pause, »stillgelegte Zisternen?«
Kornmaier ließ Angelika nicht aus den Augen. Drei Prosecco, da müsste sie jetzt doch, wenn da was war!
»Na ja.« Schweigen.
»Ja?«
»Also es heißt, dass in der Zisterne, also es ist nicht unbekannt, jeder im Städtchen weiß es«, aus Angelika kicherte es und sie holte weit aus, um dann mit dem Zeigefinger ein paarmal auf Kornmaiers Brust zu tippen, »das und das und das, ist für die Nase! Jedenfalls, da lagen früher Leichen rum«, Angelika schielte in ihr Glas, »schmeckt gut.«
»Wie, Leichen?«
»Na, tote Leute eben.«
»Und wieso? Und wer hat die da hingelegt und wer hat die wieder weggeräumt? Und könnte da jemand noch was suchen? Sag doch mal!« Am liebsten hätte er Angelika mal wieder geschüttelt, wie konnte man so umständlich sein? Angelika begann zu schmollen.
»Mir dreht sich’s ein bisschen, Theo-Hase, bringst du mich nach Hause?«
Grundgütiger! Ja, das würde er wohl machen müssen, vielleicht war noch irgendwas aus ihr rauszuholen, er machte sich eine gedankliche Notiz: Angelika verträgt keinen Alkohol. Da lag Kornmaier daneben, das konnte er aber nicht wissen.
Und während die beiden sich erhoben und Angelika kichernd an Kornmaiers Arm hing, und er versuchte, ihr die Stühle aus dem Weg zu räumen, saß einige Tische weiter Dr. Mabuse und traute seinen Augen nicht. Der Typ schleppte die Galeristen-Tusse ab und was war mit Schatzi? Offensichtlich war dem Typen ihre Abwesenheit noch nicht aufgefallen und die geniale Entführung war noch nicht gewürdigt worden. Mitschke warf einen Blick auf seine Rolex. Zwölf Stunden waren jetzt seit der Morgenkontrolle vergangen und vielleicht würde sich die Dame dazu herablassen, nun doch etwas zu trinken. Und bestimmt wollte sie aufs Klo, aber dafür würde es nun wohl zu spät sein. Bedauerlich.
Mitschke war mit seinen Überlegungen in irgendeinem Paralleluniversum gelandet. Meisterhaft übersah er den Zustand seines Ferraris, meisterhaft überhörte er die quietschenden Geräusche, die Äste und Zweige auf dem Autolack veranstalteten, und niemand würde in seiner Nähe sein wollen, wenn Mitschke aus diesem anderen Universum wieder auftauchen sollte.
Motor abstellen, Nylonstrumpf überziehen, aussteigen, strecken, mit dem Billig-Zeug eindieseln, T-Shirt überziehen, Olé, Kissen drunter stopfen, die ganze Arie, dann im Wagen abtauchen, die Wasserflasche rausholen, die klemmende Haustür mit einem Ruck öffnen und gucken. Wo war sie hin?
Dass sich die Dame irgendwie bewegen könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, wohin auch, wie auch? Zusammengeschnürt wie ein Paket, ging ja nicht. Die Abenddämmerung war angebrochen und Mitschke musste noch mal zurück zum Auto, eine Taschenlampe holen. Vorfreude war die schönste Freude. Im kalten Licht der Lampe würde die Dame gleich im Spot der Aufmerksamkeit herumliegen und er hoffte auf ein paar Ratten, die dort schon herumhuschten. Schon ganz am Ende würde sie sein und nun wohl etwas trinken und er überlegte schon, ob er ihr mit verstellter Stimme mitteilen sollte, dass ihr Schatz mit einer anderen abgezogen war. In der Tür stehend leuchtete Mitschke den Raum aus. War doch nicht möglich. Mitschke machte ein paar Schritte in die kleine Halle hinein, er drehte sich hierhin und dorthin, wie konnte das sein? Der Eingang in einen anderen Raum war vom eingestürzten Dach blockiert. War er im falschen Haus?
Für einen Moment erwog er das. Dann sah er sie, die durchtrennten Kabelbinder.
Somit war nun angerichtet, das Unheil konnte seinen Lauf nehmen. Ein jeder saß im Schwitzkasten seiner Lebenslage und nur ein kräftiger Schlag auf die Erdachse mit anschließender Verdrillung des Raum-Zeit-Kontinuums konnte noch irgendetwas aufhalten. Zu rechnen war nicht damit.
Kornmaier hatte Angelika nach Hause geleitet und währenddessen schon längst damit abgeschlossen, seine beschwipste Freundin irgendwie in die Jagd nach dem Phantom miteinzubeziehen. Völlig sinnlos. Kichernd hatte sie ihre Galerie aufgeschlossen, hatte Kornmaier mit sich gezogen, durch den dämmrigen Verkaufsraum, war mit ihm zum Hinterzimmer gewankt, zog und zog an ihm, was ihn irre nervte. Er verachtete dieses alberne Mädchengetue, jetzt war mal gut hier, Angelika ließ ihn mit einer Hand los, beugte sich zur Seite, um ins Ungefähre auf den Lichtschalter zu hauen und nach einer Schrecksekunde das Licht auch gleich wieder auszumachen. Lange genug, um Kornmaier Zeit zu geben, all das da auf ihrem Tisch zu bemerken.
»Äh, sag mal«, Kornmaier tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn auch, »was is’n das hier?«
»Danke und Tschüss.« Angelika war mit einem Mal überraschend nüchtern. Sie begann ihn aus dem Zimmer zu schieben.
»Ist das das, von dem ich annehme, dass es das ist?« Kornmaier leistete nur wenig Widerstand, verrenkte sich nur noch ein wenig den Hals, um auf den Küchentisch zu schielen. Nicht noch eine Baustelle bitte. Dafür brauchte sie also die Tüten.
»Nein, kann ja nicht«, Angelika stemmte sich weiter gegen Kornmaier und hatte ihn schon halb durch den Ausstellungsraum geschoben, »hast ja nichts gesehen.«
Und den Weihnachtsmann gab’s wirklich.
Jetzt war die Gelegenheit da.
»Du hast mir noch gar nichts von den Leichen erzählt.«
»Was für Leichen?«
»Jetzt ist mal gut hier«, Kornmaier war stehen geblieben, Angelika stemmte vergeblich weiter, »ich vergess das da eben und du erzählst mir jetzt mal gescheit, was mit dem Haus los ist.«
Schon wieder.
Schon wieder eine Kränkung übelster Art. Der Fisch hatte den Adlerhorst verlassen.
Ja, genau das dachte Mitschke. Krachend hatte er die Haustür zugeschlagen, sodass selbige nur noch in einer Angel hing, bereit zum endgültigen Absturz. Der Fisch, er trat nach einem Stein und verfehlte ihn, der gottverdammte Fisch, er trat nach und traf diesmal. Diese doofe Schlampe hatte, er ignorierte den Volltreffer auf sein Auto, hatte den Adlerhorst verlassen. Schwer atmend blieb er stehen und stützte sich mit beiden Armen auf der Kühlerhaube ab. Der hängende Kopf drehte sich von links nach rechts und zurück. Konnte doch nicht sein, gab es doch nicht, war doch nicht möglich. Der gottverdammte Fisch, konnte doch nicht sein. Irgendwer … aber wer? Der Typ hatte doch gerade noch auf der Plaça gesessen und war dann mit der Galeristen-Tusse abgezogen. Konnte es doch nicht gewesen sein. Aber wer dann? Hatte die Superschlampe Superkräfte? Ein Taschenmesser dabeigehabt? Unmöglich.
Aber wer dann? Wer?
So war das also. Mit den Leichen. Und mit Angelika.
Kornmaier fuhr zum gefühlt tausendsten Mal nach Südosten die Landstraße runter. Im Kofferraum rollten ein paar Wassermelonen herum.
Müde fühlte er sich, unendlich müde. Heute würde er keine Geheimgänge mehr suchen.
Angelika hatte ihn mit ihren Erzählungen an den Rand einer mittleren Krise gebracht, weil: irre umständlich. Und dann dieses ständige Befühlen ihrer Ketten. Am Schluss hatte er gesagt: »Angelika, wenn du noch einmal mit den Ketten klapperst, gibt es die nächste Tote.« Da hatte sie die Ketten abgenommen, als Vorsichtsmaßnahme.
Hatte hier nicht gestern die Schrottkarre gestanden? Kornmaier bremste, legte den Rückwärtsgang ein, lenkte in die Ausfahrt und stellte den Motor ab. Warum, hätte er später nicht sagen können. Er öffnete die Wagentür und lauschte in das übliche Grillenzirpen und vereinzelte Glöckchenbimmeln, sonst Stille. Erholsam, sehr erholsam.
Langsam stieg er aus, da lag sie doch wieder, die Nacht mit all ihrem Wissen, und gab nichts preis, auch wie üblich. Immerhin wusste er jetzt, was mit Angelika los war. Kornmaier kniff die Augen zusammen. Da hatten doch die Leute mal wieder ihren Müll entsorgt. Irgendwas aus dem Autofenster geworfen, die Welt wurde und wurde nicht besser. Ein Schuh lag da, eine Sandale. Wieso hatte er eigentlich damals seine Schuhe … Kornmaier trat näher an das Corpus Delicti heran, wieso also hatten seine Schuhe so ordentlich vor seinem Auto gestanden, so ganz und gar nebeneinander, das war doch gar nicht seine Art. Kornmaier ging in die Hocke, so ordentlich war er doch gar nicht. Diese verwaiste Sandale hier war gut in Schuss, wie neu, jemand hatte also vor einer Woche für ihn seine Schuhe am Auto abgestellt, Kornmaier blickte auf die Sandale, strich kurz mit der Hand über den feinen Schotter des Straßenrandes, er kannte die Sandale, Adrenalinschub, das war doch eine von Julia. Der Julia mit den hübsch lackierten Fußnägeln. Und wieso, langsam richtete sich Kornmaier auf, wieso hatte hier gestern diese Karre von dem Irren gestanden und wieso an dieser Stelle … Verwirrt blickte Kornmaier die dunkle Straße entlang. Stand und fühlte sich alarmiert und verlassen zugleich. Kalter Entzug, nicht drum kümmern, ein frommer Wunsch. Wenn der mit den toten Augen, wenn der … aus Rache, dem war alles zuzutrauen. Und jetzt? Kornmaier, was jetzt?
Eine Weile stand er so da, auf dieser dunklen Landstraße, auf dieser schönen Insel, die sich auch nur Ruhe wünschte, stand da, mit einer Sandale in der Hand, blickte in diese nächtliche Welt, die nichts preisgeben wollte, die nur eine Zumutung auf die andere türmte und er beschloss, jetzt und sofort seinem Nachbarn einen Besuch abzustatten.
An Mitschkes Haustür klingelte es Sturm. Er hatte gerade den Pool durchkämpft und legte jetzt neben dem Pool Kilometer zurück. Hin und her ging es, hin und her, ein Tiger im Käfig, so als könnte die Bewegung irgendetwas ändern. Sie hatte ihn nicht erkannt, auf keinen Fall, nie und nimmer. Und jetzt noch das. Irgendwer klingelte wie blöde, und das um diese Uhrzeit. War doch schon mitten in der Nacht. Zur Hausecke schleichen und um die Ecke gucken. Aha. Da stand der Typ von drüben, dieser Bigamist, dieser Trottel. Hatte die Kuh ihn etwa doch erkannt? Und jetzt eine Riesenwelle gemacht? Und wieso dann der und keine Polizei?
Er trat einen Schritt vor. Der Bigamist hatte begonnen mit der Faust gegen die Haustür zu wummern, eigentlich wollte Mitschke wieder hinter der Hausecke verschwinden, verbot sich aber selbiges.
Kornmaier ließ von der Tür ab und ging über den Rasen auf Mitschke zu, dynamisch könnte man dazu sagen, kurz vor ihm hielt er an: »Wo ist Julia?«
Die war also noch gar nicht bei Schatzi aufgetaucht, die Oberschlampe, mysteriös. Wo war sie dann?
Mitschke wollte alles, nur nicht noch mal sein Selbst verlieren.
»Und wer ist Julia?«
»Beleidige nicht meinen Verstand, du Zombie. Tu – es – nicht.« Das kam so zwischen den Zähnen hindurch, schon fast genuschelt, so vor lauter Wut.
Stille. Gegenseitiges Anstarren, ungerührt im Hintergrund das mediterrane Grillenzirpen, laut und klar, wie in einer Kathedrale.
»Wieso …«
»Tu – es – nicht.«
»Ey, du Bigamist, das ist Hausfriedensbruch«, Mitschke war zwei Zentimeter dichter an Kornmaier herangetreten. Alles, was jetzt zählte, war sein Selbst: »Verpiss dich.«
»Wo – ist – sie?« Hatte Kornmaier da gerade gebrüllt? Später würde er sich mal wieder winden müssen: Wie hatte er sich so gehen lassen können?
Und Mitschke brüllte zurück: »Keine Ahnung! Hau ab jetzt hier!«
Da knallte die Sicherung durch, da geschah, was geschehen musste, Kornmaier landete einen schönen Treffer in den Mitschke’schen Solarplexus, drehte sich um, aus Vernunftgründen, um nicht noch mehr Unheil anzurichten, und strebte seinem Haus zu.
Kurz blickte er in den Garten zurück, sah, wie der Delinquent auf allen vieren auf dem Rasen verweilte und nach Luft rang. Was, wenn sich Kornmaier getäuscht hatte? Nachher war alles ein blöder Zufall gewesen? Aber irgendwie hatte es so oder so den Richtigen getroffen. Und kurz musste Kornmaier an die Pistole denken. Wo die wohl abgeblieben war? Und dann: Wo war Julia?
Und damit unweigerlich: Wo war Katrin?