DER ZEHNTE TAG

Am Herd in der Küche sprangen die Zahlen soeben auf 00:16.

»Otto?«

»Ja, ganz und gar und höchstselbst.«

»Wie geht es dir denn so?« Kornmaier machte sich auf die Suche nach einem Gecko. Rumlaufen, irgendwie Boden unter die Füße kriegen.

»Gibt wohl Stress, Theo?«

»Kann man so sagen.«

»Die Dame?«

»Irgendwie auch, habe eben einem Typen auf dessen Grund und Boden eine verpasst.«

»Oh! Anlass?«

»Der muss die entführt haben.« Und noch während Kornmaier das sagte, hörte er selbst, wie meschugge das klang. »Also, die Julia.«

»Theo?«

»Ja?«

»Nimmst du Drogen oder so? Blei in den Leitungen? Neue Medikamente? Fieber?«

»So in der Richtung, also nein, eher nicht, eventuell ein bisschen.«

»Heißt?«

»Quatsch mir jetzt nicht rein, Otto, ich fasse mal zusammen.« Kornmaier musste sich setzen und zählte an den Fingern ab: »Also, erstens: Meine alte Schulfreundin Angelika handelt mit Koks, die lebt gar nicht von ihren Bildern.«

»Was?«

»Zweitens: Meinem Nachbarn habe ich schon zweimal eine reingehauen, erst hat er Julia mit einer Pistolen-Attrappe bedroht, dann hat er sie entführt.«

»Was???«

»Ruhe. Julia geht nicht ans Telefon, ihre Sandale liegt auf der Landstraße. Genau da, wo die Schleuder von dem Irren nachts rumgestanden hat. Zufall?« Kornmaier konnte sich selbst kaum zuhören. »Dann gibt es hier eine stillgelegte Zisterne, also hier unterm Haus, da wurden schon zu Piratenzeiten Tote gestapelt, bevor man sie begraben konnte, war schön kühl da unten. Du verstehst.«

»Äh …«

»Nichts sagen, Otto, geht noch weiter. In der Zisterne ist jetzt einer, wenn ich nicht da bin, keine Ahnung wer und warum. Da ist dann jedenfalls Licht da unten.«

»Äh …«

»Nee, noch nicht zu Ende.« Kornmaier guckte auf seine Handfläche, vier Finger waren schon gestreckt worden. Vier Finger des Unheils.

»Der Typ, der neulich mich, also KleineBlume38, treffen wollte«, für einen Moment hatte Kornmaier das deutliche Gefühl gleich so was wie einen hysterischen Lachanfall bekommen zu müssen, »der weiß irgendwie, dass ich ihn verfolge.«

Schweigen.

»Hast du gerade gekichert?«

»Auf keinen Fall.«

»Du nimmst mich nicht auf den Arm oder so?«

»Nein, Otto, bei meiner Whiskysammlung.«

»Und sonst? Fertig?«

»Fertig. Nee, Moment, und die Katrin, was ist mit der, jede Wette, dass die hier irgendwo vergraben rumliegt. So, und jetzt: Ich habe fertig

Schweigen. Otto paffte.

»Theo, komm nach Hause. Das bekommt dir da nicht.« Ein wenig bangte Otto jetzt doch um Kornmaiers Verstand, musste an dieser Julia liegen. »Komm nach Hause und erhol dich von deinem Urlaub.«

»Kann ich nicht, Otto, ich muss hier noch was erledigen, weiß nur nicht so richtig, wie und was genau.«

»Piraten, Entführung, Leichen. Wirklich, Theo«, ein Geräusch klang durchs Telefon, als wäre etwas vom Tisch gefallen, Otto war kurz nicht zu hören.

»Weiß ich doch selbst, aber hier stimmt etwas nicht.«

»Was hast du gesagt?«

»Hier stimmt was nicht, komplett überhaupt nicht.«

»Theo, was willst du jetzt machen, hast du einen Plan. Dein entzückender Nachbar wird dir deine Julia nicht an die Haustür liefern.«

»Das ist nicht meine Julia, Otto Hubertus. Also: Die Tür zur Zisterne finden, den Psychopathen heimlich verfolgen, Mr. Reiht heimlich verfolgen, das Feld noch mal absuchen nach der Leiche«, Kornmaier war wieder aufgestanden, hatte seine Runden durch die Halle erneut aufgenommen. Die Geckos versteckten sich heute, vielleicht hatten die keine Lust darauf, von einem Verrückten betrachtet zu werden.

»Klingt kein bisschen irre, Theo. Außerdem: Wieso hast du dich nicht an den kalten Entzug gehalten?«

»Ich leg gleich auf, Otto.«

»Ich sag ja bloß.«

»Und ich such jetzt den Eingang zur Unterwelt. Wird ein Zerberus davor sitzen, daran erkenn ich den dann.«

»Theo, pass auf dich auf«, Ottos Stimme klang jetzt ernst: »Komm nach München und lass diese unselige Insel Insel sein.«

Ein frommer Wunsch von Otto, das hätte sich die Insel auch gewünscht.

Vergeblich. Beide legten auf. Kornmaier ging in die Küche, zog eine Schublade auf und holte eine erfreulich leistungsstarke Taschenlampe heraus. An Schlaf war eh nicht zu denken.

Am nächsten Morgen hatte Stefan lange auf der Bettkante gesessen.

Hatte auf seine Füße geschaut, auf die Steinfliesen, auf ein paar Scherben, die an der Wand lagen und von Dorotheas Besen übersehen worden waren. Still lag die Wohnung und Dorothea war immer noch nicht da.

Er würde Kontakt aufnehmen müssen, auch wenn er es nicht wollte. Alles würde sie wieder besser wissen und für ihn entscheiden und sagen, wo es langging. Und aufpassen und rumschubsen und böse gucken. Dabei hatte er jetzt wirklich genug getan. Mit den flachen Händen strich Stefan links und rechts von sich das Laken glatt. Eine Hin-und-Her-Bewegung, dieses Frotteelaken tat ihm gut, dieses Weiche und Raue und so saß Stefan und suchte nach Halt und Orientierung und dieses Weiche und dieses Raue, die gaben sie ihm und dann hörte er sie, die Taxe vor dem Haus. Vorsichtig stand er auf, trat ans Fenster und guckte raus, hinaus auf das Gässchen und wirklich, da war sie, seine Mutter, auf zwei Krücken, unkaputtbar.

Er hasste und er brauchte sie, und so war er froh und wütend zugleich und beschloss noch heute auszuziehen, er hatte ja noch seine »Kinderzimmer«.

Wo war Julia?

Kornmaier war hellwach und übermüdet zugleich. Kein Auge hatte er zugetan, eine blöde Scheiße, eine saublöde war das doch alles.

Kalter Entzug, ja, sobald mit Julia alles in Ordnung war, bestimmt.

Und ja, er wusste, was Otto dazu sagen würde.

Kornmaier blinzelte in die gleiche Morgenröte, in die auch alle anderen hätten blinzeln können, wenn sie denn gewollt oder gekonnt hätten. Die Sonne erwärmte ausgekühlte Körper und ließ diejenigen in dunklen Verstecken verschwinden, die das Tageslicht scheuten.

Kornmaiers Hände umschlossen die Eisenbrüstung des Balkongeländers, lösten sich, schlossen sich wieder, lösten sich, schlossen sich. Diese Rastlosigkeit machte ihn wahnsinnig, irgendetwas musste er tun. Sein Blick wanderte über die vertraute Umgebung, das Feld, die Schafe, die Kontur der Berge im Dunst, den Feldweg. Und er versuchte, Ordnung in seinen Kopf zu bringen. Ein paarmal hatte er Julia angerufen, nichts, Sprachbox, sie ging immer noch nicht ran. Kurz hatte er an die Polizei gedacht, witzlos, ganz und gar witzlos.

Und Angelika? Die hatte so was von wirklich den Draht zu richtig und falsch verloren. Hatte die früher schon Drogen vertickt? Auf dem Schulhof? Er konnte sich nicht erinnern. Da hatte sie nun also gestern Abend eine Beichte abgelegt.

»Bilder verkaufen, Theo, guck dir die doch an, davon kann keiner leben«, und dabei hatte sie wirklich furchtbar mit ihren Ketten herumgearbeitet und geklappert. Herrschaftszeiten.

Unten stand Nanita und hypnotisierte ihn mit ihren grünen Katzenaugen. »Katze, wenn du jetzt meckerst, gibt’s nie wieder was!« Bestimmt wusste die Katze, wo es zu dieser Zisterne ging.

»Gibt nur was, wenn du mir sagst, wie man in die Unterwelt gelangt.« Nichts sagte die Katze, guckte nur, na typisch.

Seine nächtliche Aktion hatte nichts gebracht, gar nichts. Keine Tür zu dieser Leichenhalle aus grauer Vorzeit. Der Eingang musste außerhalb des Gebäudes liegen, ein unterirdischer Gang vielleicht. Irgendwo da draußen musste der sein, in der Wildnis, die sich hinter der Finca den Berg hinaufzog, bis ganz oben hin, dorthin, wo das Kloster lag. Vielleicht gab es einen Gang vom Kloster zu diesem Haus, ein alter Fluchtweg. Mönche, die schnaufend endlose Stufen hinaufstiegen oder betrunken hinunterpurzelten. Piraten, die Schätze schleppten und Ringe verloren, die jetzt noch dort lagen, vom Staub der Jahrhunderte überzogen. Hetären, die die Röcke rafften und fluchend mit einer Fackel hinauf- und hinabstiegen. Und wenn man nur lange genug sein Ohr an die Steine dieses alten Ganges legte, dann würde man all diese Stimmen wispern hören und man würde vieles erfahren können …

Kornmaiers Gedanken sprangen herum wie die Zicklein auf der Weide.

Wieso hatte ihn der Irre von drüben gestern eigentlich als Bigamist bezeichnet? Wie kam der darauf? Der hatte ihn also gestern Abend mit Angelika beobachtet? Verfolgte der ihn?

Es gab deutlich zu viele Baustellen und unten, da maunzte die Katze.

Mr. Reiht war verschwunden. Was, wenn es Katrin gar nicht gab? Nicht mal das war sicher, nachher war das ein Vorwand von Julia gewesen, um ihn kennenzulernen? Aber konnte man das nicht einfacher haben? Kornmaier seufzte. Und was war mit seinen Schuhen, warum der Filmriss? Kornmaier betrachtete die Katze, die Katze guckte zurück, schloss die Augen, öffnete sie wieder und miaute anklagend.

Er würde jetzt zu Julias Wohnung fahren.

Und der Rollmops und das SOS, doch nur ein Traum? Und wieso war der mit dem Schrottferrari überhaupt so schräg drauf? Und Angelika, na ja, abgehakt, erledigt. Wo hatte er eigentlich diese ominöse Knarre gelassen? Bei den Keksen?

Kornmaier ließ das Geländer los und beschloss, dass er nun handeln musste.

Also: Katze füttern, dann zu Julias Wohnung.

Beim Verlassen des Hauses beugte er sich über den Brunnen. Feuchte Kühle stieg da hinauf, und als er in die Hocke ging und lauschte, meinte er etwas zu hören. Vielleicht das Tropfen von Wasser, unregelmäßig, wie Morsezeichen und wirklich versuchte Kornmaier Worte zu erkennen.

Sxmckn, lroskyins. Nein, das wurde so nichts.

Unangenehmerweise fühlte er so was wie eine, er wagte es nicht mal, das zu denken, eine Sehnsucht: Wo war Julia?

Und dann, in all dem inneren Drunter und Drüber vernahm er ein Geräusch, ein vertrautes Geräusch, jemand rüttelte am Gartentor.

Kornmaier schloss die Augen, nicht schon wieder, nicht schon wieder Angelika oder Angelika oder eventuell Angelika. Und wenn es Julia war? Vorsichtig lugte Kornmaier um die Hausecke, für einen winzigen Moment taumelte er in eine fremde Realität. Da stand, unfassbar, breit grinsend und fröhlich den Strohhut lüpfend, da stand doch wirklich und wahrhaftig: Otto.

Stefan umklammerte die vertraute Gardine und beobachtete, wie diese dumme Mutter da, wie die mit ihren Krücken hantierte und wie dieser dumme Taxifahrer da, wie der unwillig den Koffer zum Haus zog, war bestimmt ein Deutscher, schlimmer, ein Berliner, Stefan musste plötzlich in Deckung gehen. Er hatte die Gardinenhalterung aus der Wand gerissen.

Vor ihm krachte die Stange zu Boden.

Er würde einfach nicht aufmachen, dabei hatte sie ihn schon gesehen, hatte ihn gemustert wie man einen Fisch im Aquarium mustert, unlesbar ihr Gesicht. Also: Einfach nicht aufmachen.

Die Türklingel schrillte in die düsteren Räume, so wie ein Alarmsignal in einer verlassenen Feuerwache schrillen würde, ganz genauso. Stefan ging in die Küche, holte Leiter und Lappen, den, der ein wenig vergammelt roch, stieg die Trittstufen hinauf und stopfte mit dem Lappen der Klingel das Maul.

Ja, so alt war diese Klingel und so alt war der Hass auf die Mutter.

Klingeln, Klopfen.

»Meine Güte, ich hab dich doch gesehen! Mach gefälligst auf!« Draußen die Mutterschlampe. Stefan hielt sich die Ohren zu.

»Stefan!« Klopfen, Bummern. »Ich hol die Polizei!« Stille.

Stefan löste die Hände vom Kopf, trat an die Tür und guckte vorsichtig durch den Spion. Da stand sie, die mit dem pfeifenden Atem, die, die seine Zimmertür ausgebaut hatte, damals, als er niemanden mehr zum Spielen einladen durfte, da stand sie, die, die sein Leben ruiniert hatte, die, der schon lange mal ein Schal um den Hals gelegt werden musste, dringend.

Die Polizei, die würde sie nie rufen, das war mal sicher.

»Stefan! Wo ist Dorothea?« Und weiter schielte Stefans Auge durch den Spion. Die dumme, dumme Mutter, ein schwarzes Tuch wäre passend. Hatte er eines?

»Weiß ich doch nicht!«

»Stefan …«

»Hau ab!«

»Jetzt mach doch mal die Tür auf!«

»Nein!«

Die Mutter war aus dem Blickfeld verschwunden, war abgetaucht, saß jetzt bestimmt zusammengekauert vor der Tür, darauf würde er nicht hereinfallen. Stille.

Stefan wartete, konnte sich nicht lösen, musste die Tür bewachen.

Die Minuten vergingen, dann ein Geräusch, als würde ein Stock zu Boden poltern. Wieder Stille.

Und dann plötzlich ihre Stimme, ein Flüstern, ganz dicht an seinem Ohr: »Lebt sie noch?«

Stefan war zusammengezuckt. Er saß mit dem Rücken an der Tür, die Beine von sich gestreckt und drehte den Kopf zur Seite, dorthin, wo die Stimme herkam, dorthin, wo ihn nur fünf Zentimeter Holz von der Mutter trennten.

»Hast du sie getötet? Stefan? Du musst mir das sagen.«

»Nein.«

»Lass uns doch kurz mal reden.«

Statt einer Antwort stand er auf, trat gegen die Tür und brüllte. Dann ging er in sein Zimmer, öffnete seine Schreibtischschublade, nahm die zwei He-Man-Figuren heraus, steckte sie in eine Hosentasche, öffnete das Fenster, sprang aus dem Hochparterre auf die Straße und verschwand.

Noch hatte er ja zwei andere Zimmer auf der Insel. Sollte die dämliche Kuh doch vor der Wohnung verschimmeln.

Kornmaier war zur Gartentür geeilt und hatte sich schlicht und ergreifend gefreut.

»Nee, oder?«

»Doch, mein Lieber.«

Dann musste Otto über den Gartenzaun steigen. Irgendwo war der Schlüssel, aber wo? War doch eben noch da gewesen.

»Lass doch, geht ja auch so«, Otto stemmte sich am Tor hoch und rollte sich über den Bauch auf das Grundstück.

»Sag mal …« Kornmaier beobachtete Ottos lange Windhundgestalt und war gerührt und wunderte sich, dass er so gerührt war, und freute sich und hatte das Gefühl, dass da nun einer war, der ihn in die Realität zurückholen würde. Und dass nun Julia ganz klein werden würde und dass es keine Katrin gab, nie gegeben hatte und dass er einem Mann zweimal eine reingehauen hatte in den letzten Tagen, das war sicher auch nicht so gewesen und eine Zisterne mit Untoten gab es eh nicht, nur einen alten Brunnenschacht, Ende.

Otto klopfte sich die helle Kleidung sauber und richtete sich auf. »Du hast echt mies geklungen«, aus blauen Augen guckte Otto freundlich unter seinem Hut hervor, »und ein bisschen verrückt.«

»Stimmt.« Kornmaier grinste von Ohr zu Ohr.

»Und ich sage dir«, Otto wandte sich dem Haus zu und blickte die Steinfassade empor, »schuld an allem sind mal wieder die Frauen, wirste sehen.«

Stimmte, konnte Otto aber noch nicht wissen. Ebenso wenig, dass den guten Freunden das Schlimmste noch bevorstand.

Vier Anrufe, alle von Theo. Gut, das war gut, sehr gut.

Eine halbe Stunde hatte Julia unter der Dusche verbracht. Alles abwaschen, den widerlichen Typen, den Geruch, die Entführung, den Staub, die Demütigung, weg damit. Wie hatte ihr das passieren können? Nie hätte sie damit gerechnet, das passierte nur anderen, ihr nicht. Bei dem Gedanken hatte sie das Wasser noch ein bisschen heißer gedreht. Ekelhaft. Und was hatte der gewollt? Wen hätte er erpressen können? Doch nur den Theo? Sonst war da doch keiner, nicht dass sie wüsste. Musste dann einer sein, der das wusste, dass sie und Theo …?

Julia wusch sich zum dritten Mal die Haare, shampoonierte, ließ das Wasser über ihre Haare laufen, legte den Kopf in den Nacken, ließ es gleich wieder, kleines Schleudertrauma. Vergessen wollte sie das alles und gleichzeitig wollte sie wissen, wer da auf diese absurde Idee gekommen war. Julia drehte das Wasser ab und stieg aus der Dusche, wer da also auf diese absurde Idee gekommen war, konnte doch nur … oder vielleicht im Auftrag? Die toten Augen von Mallorca fielen ihr ein, konnte nur der sein, alles andere ergab keinen Sinn. Höchstens noch: Angelika? Die war doch bis zum Anschlag eifersüchtig und missgünstig und alles auf einmal. Andererseits, dieses Motorengeräusch, aber war der Entführer so dämlich mit so einem auffälligen Auto herumzukurven. Der mit den toten Augen, wo wohnte der genau? Julia öffnete ihren Kleiderschrank.

Theo, sie würde versuchen, Theo anzurufen.

»Man wird uns für Mitglieder einer Sekte halten, Otto.«

Kornmaier guckte an sich herunter. Beide in sandfarbenen Leinenanzügen mit einem Panama auf dem Kopf. Nur Otto hatte Leder-Loafer an den nackten Füßen, Schicki-Micki-Latschen hatte Kornmaier vor zwei Jahren gespottet und Otto hatte tatsächlich gekränkt ausgesehen und gemeint, Theo sähe aus wie ein mieser Kolonialist vom Nil und dann hatten sie sich zugeprostet und sich wieder ihrem Schachspiel zugewandt.

»Von welchem Ausflug halte ich dich denn gerade ab, Theo?«

»Ich zeig dir erst mal das Haus.« Kornmaier überhörte die Frage geflissentlich.

»Weichen mir der Herr aus, was?« Otto war nicht blöd.

»Mann, Otto, lass mich mich doch in Ruhe erst mal über deinen Besuch freuen.«

»Okay, Theo, okay.« Beide schritten am Haus vorbei und Kornmaier zeigte alles, nur den Brunnen, den ließ er vorerst aus.

Haus, Aussicht und Katze wurden gewürdigt und Kornmaier dachte plötzlich, dass er all das aus den letzten Tagen nur geträumt habe und eigentlich alles in Ordnung sei und beide nun die Zeit mit Ausflügen und Schachspielen und mit Am-und-im-Pool-Herumliegen verbringen könnten.

Leider hatte Otto ein gutes Gedächtnis.

»Und wo ist jetzt diese Zisterne?«, Otto stand, die Hände in die Hüften gestemmt am Pool und schwor bei sich, noch nicht nach Julia zu fragen.

Es ächzte aus Kornmaier.

»Wenn ich Ihnen hier mal den Weg weisen darf?« Er zeigte zur Finca und nahm Kurs auf die Haustür. Neben dem Brunnen blieben beide stehen. »Sekunde, bin gleich zurück.« Kornmaier verschwand im Haus und Otto beugte sich über den Brunnenrand und blickte in schwärzeste Nacht. Nichts zu erkennen, nur ein Hauch von Feuchte und Kühle schlug ihm entgegen und … Otto schnupperte, und sonst nichts.

»So, da bin ich wieder.«

Otto schreckte hoch.

»Otto, jetzt mach mir meine heile Welt nicht kaputt.« Kornmaier hatte ihn beobachtet, wie er da so hochgeschreckt war, hatte es ja befürchtet, aber mal so zehn Minuten aus der Realität raus sein, das war doch schön gewesen.

»Leuchte mal runter.« Er hatte die Taschenlampe in Kornmaiers Hand entdeckt.

»Da ist was, da unten, jetzt weißt du, was ich meine.« Beide beugten sich über den Brunnenrand und folgten mit den Augen dem Lichtkegel, der über den Steinboden glitt, über die tote Ratte, die Moose auf den Schachtwänden und dann auf einem nagelneuen Spielzeugauto verharrte.

»Ui, das ist neu«, Kornmaier beugte sich weiter vor, »das war neulich noch nicht da.«

»Sicher?«

»Blöd bin ich noch nicht.«

»Nur verrückt.«

»Stimmt.« Kornmaier richtete sich auf und sprach zu Ottos Rücken. »Schön, dass du gekommen bist.«

Otto lehnte immer noch über dem Brunnenrand, drehte kurz den Kopf und nickte und tat dann das, was Kornmaier jetzt nicht in den Sinn gekommen war: »Haaaalloooo!«

Als sich der Nachhall gelegt hatte, wieder Stille.

»Sekunde mal.« Kornmaier ging in die Hocke.

»Was is’n jetzt?«, Otto wunderte sich.

»Wenn man was hört, dann hier.«

»Aha? Wieso denn da?«

»Geduld, junger Mann.«

Beide schwiegen, Otto hatte sich zusammengefaltet, hockte jetzt neben Kornmaier und guckte zweifelnd. In der Ferne die Poolpumpe, irgendwo eine Kreissäge, und aus dem Brunnen ein Geräusch, wie fallende Wassertropfen. Sonst nichts.

»Hier gibt es keine Kinder?«, Otto flüsterte.

»So was von überhaupt nicht.« Kornmaier flüsterte zurück und konzentrierte sich auf diese Welt, die da unten lag, dunkel und stumm und von Wesen belebt schien, die nachts an den Wänden kratzten und schabten und was, zum Henker, da eigentlich machten?

»Wir rufen die Polizei.« Otto richtete sich auf.

»Na, dann mach mal.« Kornmaier fand das sinnlos. Aber bitte sehr, lieber Otto Hubertus, versuch dein Glück.

Kornmaier setzte sich auf die Stufen neben dem Brunnen und war irritiert. Ein Spielzeugauto, verrückt, völlig verrückt. Vielleicht hatte das ein Tier dahin verschleppt, eine Krähe in den Brunnen fallen lassen, Kinder, die hier gespielt hatten, während er in der Stadt war, alles abwegig.

Vor der Finca war Otto mit dem Handy am Ohr auf und ab gegangen, hatte genickt, den Hut auf dem Kopf herumgerückt, ein wenig gestikuliert, wieder genickt, das Handy eingesteckt und dann Kornmaier informiert.

»Erstens: Kein Kind vermisst, eine Frau übrigens auch nicht«, Otto schlug ein Kreuz vor der Brust, wenn auch aus Unkenntnis falsch herum. »Zweitens: Großeinsatz am Ballermann, keine Kapazitäten frei.«

»War ja klar.«

»Gibt es hier ’ne Strickleiter?«

»Nee, aber gute Idee.«

»Wir gehen eine kaufen.«

»Machen wir.«

»Und wo wolltest du jetzt eigentlich hin?«

»Frag nicht …«

»Verstehe.«

Kornmaiers Handy klingelte. Welcher Depp … er starrte auf das Display: Julia.

»Geh ruhig ran.«

Meine Güte, war das so offensichtlich? Dieser Blick von Otto, oh Mann.

»Julia?« Kornmaier fielen zehn Steine vom Herzen, sie lebte.

»Theo, ich wollte mich mal melden, also das mit unserem Treffen neulich, das war ja ein bisschen … und da wollte ich … wir könnten uns ja … also wenn es passt für dich …«

»Geht es dir gut? Hat dich der Affe von drüben entführt?«, und schon während er das sagte, war doch wieder offensichtlich, wie absurd das war. Wie konnte er denn aus einem Zufall eine feste Überzeugung machen? Und gleichzeitig tauchte das Bild von diesem kleinen weißen Spielzeugauto auf, da unten auf dem Brunnengrund, noch ganz und gar frisch und von keinem Staub der Vergangenheit überzogen, und er blickte rüber, dorthin, wo Otto stand und an ein paar Blumen schnupperte und so tat, als würde er nichts hören, und der sich seinen Teil dachte und gern hätte er das da gerade eben zurückgenommen. Angespannt lauschte er. Was würde jetzt kommen?

»Äh, Theo«, eine kleine Pause, wahrscheinlich, weil sie sich wunderte, dass Theo nun auch verrückt geworden war, wo er doch bisher so souverän gewesen war. Souverän, bei dem Wort wäre Kornmaier gern im Boden versunken und biss sich auf die Fingerknöchel. Dann wurde er von Julias Stimme erlöst: »Lass uns doch erst mal treffen, da redet es sich doch besser.«

Otto mitnehmen? Otto nicht mitnehmen?

»Ich habe Besuch.«

»Ach.«

»Ein guter Freund.«

»Bring ihn halt mit.«

»Er kann sich auch allein …«

»Mich stört er nicht.« Da sank dem Kornmaier das Herz schon wieder. Es war ihr schnuppe, ob sie ihn für sich hatte, also war sie sicher nicht wirklich … nur so war das zu verstehen.

»Bis später.«

»Ja, bis später.«

»Keine guten Nachrichten?« Otto schlenderte herbei.

»Na ja, doch, im Grunde, ja.« Was Schönes und was Blödes. Konnte die Welt nicht einfach mal durch und durch nett sein? Nee.

»Otto, wir kaufen jetzt mal ’ne Strickleiter, ich will da runter.«

»Und die Dame?«

»Heute Nachmittag«, Kornmaier wusste nicht, wie er das finden sollte. »Wir zu dritt.«

»Ach.«

»Wehe.«

»Nie! Weißte doch.«

Nein, da waren sie sich bisher nie in die Quere gekommen mit den Frauen, Ehrenkodex. Aber eine kleine Warnung so zur freundlichen Erinnerung konnte nicht schaden.

»Strickleiter?«

»Strickleiter.«

Erste herbstliche Kühle liegt an diesem Morgen über der Insel, Tau glitzert unter den Olivenbäumen. Eine Frau kämmt sich die Haare, eine andere betrachtet den zitternden Zeiger einer Küchenwaage.

Ein Totengräberchen sitzt unter der Erde und wartet auf die Nacht, ein großes Kind möchte endlich etwas finden.

Zwei Männer kaufen eine Strickleiter. Und ein Dritter liegt im Wasser und starrt auf ein Mosaik.

Eine Katze läuft vorbei und weiß alles, kann aber nicht sprechen.

Eine digitale Waage und dann, was hätte sie davon? Nichts. Wer wog schon nach, keiner.

Angelika wog und raschelte mit den Tütchen und wog und kostete die kleinen Ungeschicke mit dem angefeuchteten Zeigefinger vom Tisch weg.

Ab und zu schaute sie aus dem Fenster, in den sonnengefluteten Innenhof und all der Frieden hätte sie heiter stimmen können, aber heute nicht. Heute hatte sie sich von Kornmaier verabschiedet, so innerlich und sie funzelte mit der Taschenlampe der Erinnerung in ihre Schulzeit und wie da das Leben noch so nagelneu vor ihr gelegen hatte und sie irgendwie gedacht hatte, sie käme mal ganz groß raus, unklar womit, aber auf alle Fälle ganz groß. Und wie das Leben sie dann rund und genügsam geschliffen hatte. Nur der Traum vom Mann des Lebens, der war geblieben und das war gar nicht Kornmaier gewesen, das war ja mehr ein Unvermögen, so von innen heraus, nämlich überhaupt einen in ihr Leben zu lassen und das war ihr versagt geblieben. Da hatte sie lange an ein Phantom denken können und bitte sehr, schlecht hatte sie damit nicht gelebt, und während sie all das dachte, hörte sie die Ladentür und Josy kam herein und brachte frische Ensaimadas vorbei und tippte auch ihren Finger in die kleinen Ungeschicke und half ihrer Freundin beim Eintüten, ein bisschen wie Heimarbeit, nur eine sehr lukrative eben.

»Er hat dich gar nicht verdient.« Josy biss in eine Ensaimada und musste aufpassen, dass sich der herabrieselnde Puderzucker nicht mit dem Koks vermischte, beide guckten auf diesen kleinen Fastunfall und dann auf ihr Gegenüber und Angelika meinte: »Wenn man mal strecken muss, keine schlechte Idee«, und: »Er ist abgehakt.« Prüfend hielt sie eine Tüte gegen das Tageslicht.

»Doch, doch, kannste mal glauben. Ich kauf mir jetzt eine Katze.«

Und so saßen die beiden und heimarbeiteten und sprachen über das Leben und seine Widrigkeiten und wieder schaute Angelika in den Innenhof, in dem die Sonne schon weitergewandert war und nun den Hibiskus leuchten ließ und da war ganz unerwartet ein kleiner Moment von Zufriedenheit aufgetaucht und das war es doch, mehr konnte man nicht erwarten vom Leben. Und sie seufzte und wog das nächste Tütchen ab und nickte Josy zu: »So eine getigerte Katze, was meinst du?«

Keine Ahnung hatte Kornmaier, dass er gerade eine Bewunderin verloren hatte, wäre ihm auch sehr recht gewesen. Er schaltete krachend in den dritten Gang und bedachte mit einem Seitenblick seinen Freund, der sich am Türgriff festhielt.

»Was rast du denn so, Theo?«

»Ich rase nicht, lieber Otto Hubertus, ich habe den siebten Sinn und meine, Grund zur Eile zu haben.«

Erst jetzt war die Freude über Ottos Besuch so richtig angekommen.

»Aha, und was meldet dir dein siebter Sinn gerade so?« Otto hatte beschlossen, sich doch anzuschnallen, und fingerte nach dem Gurt.

»Ich will in diese Zisterne, ich möchte gucken, ob Julia heile ist und ich freu mich, dass du da bist.«

»In der Reihenfolge?«

»Nein, natürlich andersrum.«

»Dein Glück!«

Eine Strickleiter zu finden war gar nicht so einfach.

Sie hatten etliche kleine Läden durchforstet, hatten auf der Straße mit einer Coladose gekickt und waren dann schließlich bei einem Bauern fündig geworden. In dessen Garage warteten unter einer von Spinnenweben verhangenen Neonröhre alte Reifen, Batterien, Zinkwannen und allerhand anderer Schrott auf neue Besitzer. Otto hatte die Strickleiter triumphierend aus einer Wanne gezogen.

»Und nun zu Mateo, auf einen Kaffee.«

Kornmaier schloss mit Schwung den Kofferraum, in dem jetzt das lag, was alles dramatisch verändern würde.

Eigentlich hätten jetzt schon Kornmaiers Alarmsysteme anspringen müssen.

Nun saß die Mutter-Schlampe vor Dorotheas Wohnungstür und blockierte alles. Seine Bleibe, seine Zukunft, sein Leben. Alleine kam die gar nicht mehr von der Erde hoch, das war das Gute. Klopfen und rufen würde sie, bis irgendein Nachbar … Stefan fuhr sich einmal mit dem Daumen quer vor dem Hals her, ein gut gesetzter Schnitt und weg war sie, die Mutter.

Sein Auftauchen hatte nur verhaltene Begeisterung ausgelöst, jetzt saß er in seinem neuen Zimmer und umfuhr mit beiden Händen die Kontur des PCs, liebevoll, ein wenig mit Andacht. Die letzten Tage waren einfach übel gewesen und das war jetzt ein Ankommen, das er so gar nicht hätte benennen können, aber fühlen konnte er das in einem Eckchen seines Seins.

Ein paar Gewichte würde er noch kaufen müssen und neue Halstücher und Coladosen.

Stefan streckte sich, jetzt würde alles gut werden, nein, würde es nicht, die blöde Mutter! Und wo war Dorothea? Er stand auf und warf mit routinierter Bewegung einen Schuh an die Wand, keiner hielt ihn auf, keiner sagte was.

So war es also, das Paradies.

Mateo hatte das Reserviert-Schildchen entfernt, hatte Otto und Kornmaier zugenickt und, die Serviette über dem Arm, abgewartet, was es da an Neuigkeiten gab, was er allerdings nie zugegeben hätte, also neugierig zu sein.

»Mateo, das ist mein guter Freund Otto Hubertus aus München. Otto, das ist der beste«, er wollte nicht Kellner sagen, das klang so, das passte nicht: »Der beste Whiskykenner dieser Insel: Mateo.«

Man setzte sich, war höflich, freute sich unter höflichen Menschen zu sein, alles schien so friedlich und freundlich und normal und die Strickleiter im Kofferraum wurde schon wieder absurd und Otto fühlte sich angesteckt von dieser Annahme des Absurden, so ohne Worte und sagte nichts dazu, sondern stattdessen: »Guck mal, ist das deine Julia?« Kornmaier warf einen vernichtenden Blick auf Otto und war sich plötzlich klar, dass das eine doofe Idee gewesen war, Otto mitzunehmen, diesen alten Spötter. Über Wochen würde der ihn noch aufziehen, den Kopf schütteln und überhaupt lästig sein.

Otto konnte Gedanken lesen. »Soll ich gehen?«

»Nee, nee, alles gut.« Du meine Güte, Theo, wirklich.

Aber nun war Julia schon da, strahlend mit schwingendem Haar und einem knielangen Kleid, das mit riesigen blassrosa Rosenblüten bedeckt war und irgendwie an anderen Frauen keine Punkte erhalten hätte, also von Otto und Kornmaier, aber so und mit Julia in diesem Kleid, doch, durchaus. Und schon war es aus mit Ottos Spottlust.

Kornmaier und Otto erhoben sich, Kornmaier stellte vor, rückte den Stuhl für Julia zurecht, fühlte Ottos Blicke auf sich, hätte ihm gern gegen ’s Schienbein getreten, winkte aber stattdessen nach Mateo.

Kaffee und Wasser wurden gebracht, Mateo ließ seinen Blick wieder länger als notwendig schweifen, und während sie die Tassen und Gläser hoben, sahen alle die roten Striemen um Julias Handgelenke und irgendeiner musste ja was sagen, weil alles andere wäre einfach albern gewesen.

»Deine Handgelenke, Julia …«

»Ja, das kann man nicht abstreiten.«

»Hast du eine Ahnung …?«

»Nein, ein dicker Typ, der nach billigem Parfum stank und eine Strumpfmaske aufhatte.«

»Und kannst du dir vorstellen …?«

»Keine Ahnung, was der wollte, der hat auch nichts gesagt.« Julias Finger schlossen sich fester um ihr Glas, schon wurden die Knöchel weiß und Kornmaier beschloss, nicht weiter zu fragen.

»Und wie bist du wieder frei gekommen?« Otto hatte da weniger Hemmungen.

»Ich habe immer ein kleines Nagelnecessaire dabei, zum Glück.«

Eine Pause trat ein. Sonst quasselte es aus Julia, Kornmaier erinnerte sich daran, meine Güte, sorglose Stunden. Ein Trauma, sie hatte ein Trauma und er keine Ahnung, was man machte oder nicht machte. Otto hatte damit keine Mühe.

»Erzähl doch mal ganz genau, dann finden wir was, dann kriegen wir den.«

»Ich weiß gar nichts mehr so richtig.«

»Na, wo zum Beispiel?«, Otto winkte nach Mateo, es wirkte, als würde er sich gleich Popcorn bestellen wollen: »Auf welcher Straße, oder war er etwa in deiner Wohnung?«

»Otto, wirklich, wenn Julia nicht möchte …«, jetzt hatte Kornmaier Otto doch unterm Tisch gegen das Schienbein getreten, konnte nicht schaden.

Otto kniff kurz die Augen zusammen, aber war zu begeistert, um abzulassen.

»Bist du Auto gefahren?« Otto rückte vorsichtshalber ein bisschen mit seinem Stuhl von Kornmaier weg.

Erwartungsvoll blickten alle auf die schweigende Julia, auch Mateo, der jetzt am Tisch stand. Schauten also auf diese schöne Frau in ihrem Rosenkleid, wurden sich ihrer Neugierde bewusst und schämten sich ein bisschen. Rührten sich aber trotzdem nicht.

Dann blickte Julia auf: »Ach, können wir nicht über etwas Schönes sprechen? Heute?« Und dabei legte sie eine Hand um das Handgelenk der anderen und alle nickten, auch Mateo, und Otto bestellte eine Runde Champagner, einfach, weil Julia hier heil saß und die Sonne schien und es nicht mehr so elend heiß war und ein feiner, sanfter Oktobernachmittag golden auf dieses entzückende alte Städtchen Pollença blickte.

Nun würden sie diesen Nachmittag hier verbringen und Otto und Theo würden Anekdoten aus Ottos Münchner Club für Exzentriker zum Besten geben und Julia ein wenig Normalität schenken. Und doch konnte Kornmaier nicht anders, er sah es, fast transparent und im Sonnenlicht des Nachmittags nur schlecht zu erkennen, seine Signallampe war angegangen.

Pulste sachte über den Platz, huschte über Bäume und Menschen, über Marktstände und Sonnenschirme, unsichtbar für alle und jeden, nur Kornmaier musste mit diesem Geleuchte die Laune vermiest werden.

Nichts war, wie es schien.

Stefans Mutter hatte es nicht alleine geschafft.

Ein indigniert blickender Nachbar hatte ihr aufgeholfen, ihren Redestrom mit nach außen gekehrten Händen und hochgezogenen Schultern quittiert und war verschwunden. Der gerufene Schlüsseldienst ließ sich nicht bewegen zu öffnen, sie möge die Polizei rufen. Da hatte sie geschwankt, wenn nun der gute Junge etwas angestellt hatte und wenn nun die Schwester hilflos in der Wohnung lag, es war doch wirklich … sie rief die Polizei.

Die Wohnung wurde geöffnet, zwei Polizisten liefen gelangweilt durch die Zimmer, dachten sich innerlich so ihren Teil und besahen sich den Ausweis dieser vorgeblichen Schwester. Beide denselben Nachnamen, wohl nie geheiratet, merkwürdig, aber so waren sie, die Deutschen, was sollten sie sich da einmischen. Hungrig und müde waren sie, diese Polizisten und so überließen sie dieser Schwester, dieser Gudrun, die Wohnung, damit sie auf Dorothea warten könne, und fuhren davon.

In der plötzlichen Stille konnte Gudrun eine Uhr ticken hören und sie lauschte, sonst war da nichts und so begann sie humpelnd die Zimmer zu durchstöbern. Ein paar Tage schon war nicht gelüftet worden, sie riss die Fenster auf. Eine kleine Küche gab es, säuberlich glatt gestrichen türmte sich ein Stapel lachsfarbener Plastiktüten neben dem Kühlschrank. Im Wohnzimmer lagerte eine dunkelgrüne Couch, davor ein Tisch aus Rauchglas, obendrauf ein dicker Stapel Rätselhefte. Gudrun blickte in ihr eigenes Leben und nur heute konnte sie die Einsamkeit sehen, die in diesen Räumen wohnte und die auch ihr eigenes Leben begleitete. Wäre es nicht viel schöner gewesen, wenn die Schwestern hätten zusammenleben können. Und ohne es recht zu bemerken, liefen ihr die Tränen herab, Stefan hatte es verhindert, undankbar und renitent war er, dieser gute Junge. Gudrun wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, sie hätte ihn nie hierherreisen lassen dürfen, das war ein Fehler gewesen. Alles war ein Fehler gewesen. In eine Anstalt hätte er kommen müssen, damals, in eine geschlossene Anstalt. Ihr Leben hatte sie für ihn geopfert, Gudruns Atem rasselte und pfiff mit neuer Inbrunst und sie musste sich erst mal setzen.

»Doro, wo bist du denn hin, sag mal, wo?«

Meine Güte, Otto holte doch wirklich seinen ganzen Bonvivant-Charme raus. Mit leichter Skepsis betrachtete Kornmaier seinen guten Freund und fragte sich, was das jetzt hier werden sollte. Otto bemerkte Kornmaiers Blick, lehnte sich zurück und ließ ein »Ach ja« hören, was nach Aufbruch klang und verstummte dann. Wirklich mal hier. Da konnte er sich später was von Theo anhören. Aber er war ja selber schuld, merkwürdig abwesend hatte er immer wieder über den Platz geblickt, als würde er was suchen.

»Also, Damen und Herren, ich breche dann mal auf.« Otto guckte auf seine Armbanduhr und ignorierte Julias überraschten Blick.

»Wir geleiten dich aber gern noch nach Hause, Julia.« Jetzt wachte Kornmaier doch noch auf und dachte an die Strickleiter, er wollte da runter.

»Das ist aber nicht nötig.«

»Julia, dieser Wer-auch-immer, meinst du, der lässt das auf sich beruhen?«

»Na gut, aber nur heute.«

»Nur heute.«

Mitschke trocknete sich ab und brütete am Poolrand über der griechischen Göttin, deren Gesichtszüge sich nur langsam glätteten. Vergurkt war das doch mal hier. Eine Abfolge an Niederlagen, ein Gedanke, den Mitschke nur schwer zulassen konnte, aber irgendwie war er so angeschlagen, dass alle Abwehrmechanismen schlappgemacht hatten. Prüfend fuhr er sich mit der Hand über den Bauch, ja, da war noch was zu spüren. Dass er überhaupt was spürte. Er hing dem Wort nach, Grundschule, die Klasse, seine Mutter beim Direktor, hatte er da noch was gespürt außer kalter Wut und Machtfantasien und Hass? Ja, und jetzt würde er bald einen Yogakurs bei Vollmond buchen, angewidert spuckte er ins Wasser.

Alles würde sich zurechtrücken, wenn er es dem Typen von drüben zeigen würde, und das würde er, ganz sicher. Wie sich das wohl anfühlen würde? Ein Überraschungsangriff, rübergehen, nach Milch fragen und eine reinhauen, oder am Pool nicht mehr aus dem Wasser lassen, vielleicht sollte er sich einen Elektroschocker kaufen. Ach, das klang doch Erfolg versprechend und die ganze Zeit am Pool sitzen und lachen und um den Pool herumlaufen und auf die Finger treten und von der Leiter wieder runterschubsen.

Mitschke richtete sich vorsichtig etwas auf, das war ein guter Plan, wo kriegte er jetzt einen Elektroschocker her?

»Was war denn das vorhin, Otto Hubertus von Langenstein? Eine Flirt-Attacke, was? Vor meinen Augen?«, Kornmaier klang so mittelernst.

»Mea culpa, ich werfe mich in den Staub, ich …« Otto wagte einen Seitenblick auf Kornmaier, der unlesbar neben ihm saß und mit dem Wagen die Landstraße runterbretterte. War der wirklich sauer? Otto konnte ja einen guten Grund vorbringen: »Aber …«

»Höre ich da ein Aber? Wirklich jetzt?«, Kornmaier bog mit quietschenden Reifen in den Cami ein und warf routinemäßig einen Blick auf die lädierte Mauer.

»Ja, ein Aber! Weil: Ihro Gnaden waren mit dem Platz beschäftigt und nicht mit unserem Gast, der lieblichen Julia.«

»In der Tat.« Kornmaier schwieg, Otto schwieg.

»Der Irre von drüben hat die Mauer an der Kreuzung ramponiert.«

»Aha?«

»Genau das.«

Kornmaier war verstimmt, war sonnenklar.

»Tut mir leid, Theo.«

»Hm.«

»Wie kann ich …«

»Gar nicht.«

»Aber jetzt mal ehrlich, was hast du da die ganze Zeit auf dem Platz gesucht?« Otto stützte sich angesichts der wilden Fahrt über den Feldweg mit einer Hand am Armaturenbrett ab und schielte zu Kornmaier rüber.

Kurz vor dem Zaun bremste Kornmaier ab und schaltete den Motor aus.

Er hatte sich zurückgelehnt und betrachtete die Staubschichten im Wageninneren.

»Die Signallampe hat gesendet.«

Stille.

»Oh.«

»Ja, oh.«

»Irgendeine Ahnung?«

Kornmaier fuhr mit einem Finger durch den Staub auf der Mittelkonsole.

»Irgendwas mit Julia. Oder diesem Rosenüberbringer. Oder dem Nachbarn mit der Schrottkarre. Irgendwas, aber ich seh nichts, kann nichts erkennen und vielleicht liegt die Lösung da unten, in der Zisterne. Mich irritiert ja nichts so schnell, Otto, weißte ja, gut, vielleicht Gelnägel, die ja«, und wenn man ehrlich war, noch etliches mehr, »aber dieses Spielzeugauto da unten, das hat mir einen Schrecken eingejagt, einen heiligen Schrecken und ich kann nicht mal sagen, warum.«

Hatte Kornmaier schon mal so viel gesprochen? Also am Stück? Selten.

Otto zog die Mundwinkel runter und nickte. Blickte geradeaus, schaute auf die Finca, die sonnenwarm im Abendlicht lag, betrachtete Nanita, die ohne Eile den Weg herunterkam, und musste zugeben, er hatte da auch was gefühlt oder geahnt, jedenfalls: Da unten stimmte was nicht. Sie mussten da jetzt runter, da war was und er wollte das auch wissen und mit Kornmaier an seiner Seite konnte eh nichts schiefgehen.

Dachte er sich so, konnte man ja auch schnell mal falsch liegen, mit so einer Annahme.

In der Küche hatte Kornmaier ein paar Oliven eingeworfen, dazu trockene Käsekekse. Otto hatte mit den Augen gerollt und Tomaten zerschnitten, zierlich auf einem Weißbrot drapiert und mit dem fertigen Brot Kornmaier zugeprostet. Beide standen in der Küche, lehnten an den Arbeitsplatten und sahen auf Nanitas schrägen Katzenschädel, lauschten ihrem Geschmatze und dann hatte Kornmaier feierlich die Strickleiter ausgerollt und überlegt, wie und wo man die wohl am besten befestigen könne, und Nanita hatte sich auch gleich in den Pappkarton gerollt und die Katzenaugen zu schmalen Schlitzen verengt und mitten in der Betriebsamkeit stellte Otto fest: »Wir brauchen eine zweite Taschenlampe.«

»Nee jetzt.«

»Doch jetzt.«

»Kannst meine haben.«

»Nee, du gehst voran.«

»Und wieso?«

»Wenn dir das Monster die Taschenlampe aus der Hand schlägt, will ich das noch sehen können.«

»Jesus.«

»Genau.«

»Dann, in Gottes Namen.«

»Du wartest aber!«

»Logo.«

Kornmaier überreichte Otto seinen Autoschlüssel und setzte sich seufzend auf die warme Treppenstufe vor dem Haus.

In zartem Rosa lag durchsichtig und milde der Abendhimmel über dem Tal. Begann der Duft der Datura die Luft schwer und süß werden zu lassen und aus der Vielgestalt der Welt wurde nur noch ein schwarzer Scherenschnitt. Die Tiere der Dämmerung begannen aus ihren Verstecken zu kriechen.

Ein Aufschub. Und dann? Warum sollte das Böse dort unten wohnen? Er steigerte sich in was rein, sah Geister, verstand nichts, erhoffte sich was und fürchtete sich zugleich davor, wirklich etwas zu finden.

Und was würde das dann sein?

Ein Skorpion eilte über den Steinboden, wo der wohl hinwollte, meine Güte, all dieses ständige Irgendwohin-Wollen. Konnten denn nicht alle einfach mal still sitzen.

Kornmaier sah auf seine Uhr, stand auf und leuchtete in den Brunnen.

Wo blieb Otto? Das Licht der Taschenlampe tastete über Moose, Steine und Ratte und … Kornmaier leuchtete hierhin und dorthin, das Spielzeugauto war verschwunden.

Er ging in die Knie und lauschte durch das kleine Tor in diese andere Welt, die da unten lag. Stille. Nichts, gar nichts.

Langsam stand er auf, nahm die Strickleiter und zog kräftig an der Verankerung, kam ihm stabil vor. Otto würde sauer sein, ein gerechter Ausgleich im Grunde zu vorhin. Selbst schuld.

Kornmaier spürte seinen Herzschlag, ein Abenteuer und vielleicht doch etwas anderes. Abenteuer, das hatte so einen positiven Beigeschmack und der war hier nicht garantiert.

Vorsichtig stieg Kornmaier über den Brunnenrand und tastete mit den Füßen nach den Stufen der Strickleiter.

Dann begann er den Abstieg.

Otto fluchte. Der Bankautomat war außer Betrieb.

Nur Bargeld wollte der Ladenbesitzer für die Taschenlampe sehen, dass es so was noch gab, Schwarzgeld kassierte der hier ein, alles Betrüger. Otto hatte dem Verkäufer tief in die Augen geguckt, mit dem Zeigefinger auf die Taschenlampe gedeutet, mehrmals importante gesagt und sich dabei mit der anderen Hand auf die Brust geklopft. Sollte jetzt wohl klar sein, er wollte dieses letzte Exemplar einer Eins-a-Nato-Taschenlampe. Stand da jedenfalls drauf.

Regungslos hatte der Verkäufer geguckt, ein bisschen Kaugummi gekaut und dann die Lampe unter dem Ladentisch verstaut und genickt.

Also in die Bank und in der Bank eine Schlange, was sonst.

Otto stand und wartete. Wehe, wenn Theo schon allein runterstieg, weil ihm die Warterei auf den Keks ging, war ihm zuzutrauen. Langsam ging das hier voran, sehr langsam, bald würde der Schalter schließen, oder das Geld wäre alle. Eine Blondine stand jetzt vor ihm am Schalter, ein netter Käfer. Sagte man doch so, früher, ganz früher jedenfalls. Blond, leider kurze Haare, aber konnte auch nett sein. Aber das Outfit: Bonjour tristesse, eine lange schwarze Hose, eine dunkelbraune Bluse, ach, und ein Schlapphut, wie den 70ern entsprungen. Jetzt setzte sie den Hut wieder auf, hatte wohl eine Gesichtskontrolle gegeben, Ausweis, größere Summe und so, schade, würde er ihr gar nicht zulächeln können, sehr schade, und merkwürdig, auf alle Fälle sehr auffällig … Ottos Gedankenstrom wurde unterbrochen, er war an der Reihe und der Käfer hatte sich entfernt, ohne den Kopf zu heben. Otto sah ihr nach und wunderte sich, runzelte die Stirn und nur etliche »Next«, »Nächster«, »Next«, »Hello«, holten ihn zurück und ließen ihn 100 Euro abheben.

Nun hatte Kornmaier die fremde Welt da unten betreten, die mit der anderen Dimension und dem nächtlichen Klopfen und Schaben. Diese Dimension, in der längst verstorbene Geister Spielzeuge herumliegen ließen und auch wieder mit spinnenfeinen Fingerchen einsammelten.

Kurz überkam ihn der unangenehme Eindruck, jemand könnte oben stehen und die Strickleiter einfach hochziehen, aber da oben war nur das Rund des schwindenden Tageslichts zu sehen. Wo blieb eigentlich Otto?

Kornmaier stand und sog vorsichtig die Luft ein und lauschte. Nichts war zu hören. Klamm war es hier unten und in die modrige Kühle mischte sich der süße Duft der Verwesung. Ganz schwach pulste seine Signalleuchte in den Gang, der vor ihm lag, glomm nur kurz und matt auf und ein anderer hätte dieses feine Signal erst gar nicht bemerkt. Kornmaier hob die Taschenlampe. Jetzt galt es! Es hatte ein bisschen was von Geisterbahn, jederzeit rechnete er damit, dass eine Leiche von der Decke stürzte und, an unsichtbaren Drähten federnd, vor ihm hängen blieb. Eine Spottleiche nur für ihn, weil ja sonst hier keiner runterkam. Kornmaier rollte die Augen. Fantasie abstellen, umgehend!

Hier hatte mal in grauer Vorzeit Wasser gestanden, die Steinwände waren glatt behauen und Kornmaier registrierte eine erstaunliche Deckenhöhe. Der Lichtstrahl glitt über Wände und Böden, erfasste flüchtende Ratten und hin und wieder deren verstorbene Angehörige. Immer wieder waren an den Wänden merkwürdige Spuren zu sehen, jemand hatte hier versucht, die Wand aufzustemmen. Hatte ein Loch gemeißelt, aufgegeben und an einer anderen Stelle weitergemacht. Dieser Jemand hatte hier was gesucht und würde bald weitersuchen. Für einen Moment stand Kornmaier still und lauschte, leuchtete zurück, die Strickleiter hing noch da, wo, verdammt, blieb Otto? Er schaute wieder nach vorne und bemerkte zur Linken eine Öffnung in der Wand. Vielleicht ein weiterer Gang, die Verbindung zum Kloster, ein Was-auch-immer. Kornmaier hatte den deutlichen Eindruck, dass er gleich etwas finden würde, ein Sog war da, etwas, das ihn dorthin zog und gleichzeitig wollte er es doch nicht so genau wissen und er ahnte, dass Otto irre sauer sein würde, weil er diesen Moment verpasste und kurz erwog er doch noch zu warten. Aber das war irgendwie unmöglich geworden und so trat Kornmaier in den Raum und ließ den Lichtkegel über eine Welt wandern, die ihn dazu brachte, sich an der Wand abzustützen, einfach um sich zu vergewissern, dass er den Kontakt zu seiner eigenen Welt noch nicht verloren hatte.

Otto wäre ihm noch lieber gewesen, wo blieb Otto?

Und da war sie wieder, als ferne Erinnerung, diese Frage: »Wo war Katrin?«

In diesem Raum lag die Antwort.

Eine kleine Tüte baumelte an Ottos Handgelenk. Darin die famose Nato-Taschenlampe, sie war wirklich irre hell, der Verkäufer war ihm fast in den Arm gefallen und bedeutete ihm, nie, nie, nie, nada, nada, nada und unter keinen Umständen damit jemandem in die Augen zu leuchten. Gütiger, das Ding war die reinste Waffe.

Otto fühlte sich beflügelt und so kam es ihm sehr gelegen, dass gerade Julia um die Ecke bog und ihm in die Arme lief. Otto blieb stehen und strahlte sein Bonvivant-Strahlen unter dem Panamahut, breitete die Arme aus und konnte nicht anders, als zu rufen: »Julia, was für eine Freude!«

Und Julia war stehen geblieben und lächelte zurück und war doch in Eile, aber unhöflich wollte sie auch nicht sein: »Ach, Otto, du schon wieder hier?«

»Ja, musste noch was kaufen«, Otto deutete auf sein Handgelenk. »Habe übrigens vorhin einen Leidenszwilling getroffen.«

»Einen was?«

»Einen Leidenszwilling. Bei der Bank. Hatte so malträtierte Handgelenke, wie du.«

Instinktiv griff Julia nach einem Handgelenk.

Und Otto fühlte direkt Kornmaiers Tritt an seinem Schienbein, ja, war doof, war nicht nötig gewesen.

»Tut mir leid, ich wollte jetzt nicht …« Er guckte zerknirscht.

»Ach, alles gut«, Julia lächelte wieder, »bin ja nicht aus Zucker, also sozusagen.«

Hatten Otto und Kornmaier Julia nicht gerade erst nach Hause begleitet?

»Musst du nach Hause, Julia? Ich begleite dich gerne noch mal.«

»Das wäre mir wirklich ganz lieb, ist ja doch schon dunkel, aber ich musste noch mal weg.« Julia hakte sich bei Otto ein, was ihn überraschte und sofort fühlte er noch einen Tritt am anderen Schienbein.

Angenehm war diese leichte Hand Julias und Otto scherzte so vor sich hin und hatte Kornmaier schon fast vergessen.

»Und was hast du da Schönes gekauft?« Julia sah schon ihr Wohnhaus auftauchen.

»Eine Taschenlampe für den Brunnen.«

»Eine Taschenlampe für den Brunnen?«

»Ja, Theo vermutet irgendwas Sinistres da in der Zisterne. Ist natürlich Unsinn.«

Sie waren vor dem Haus angekommen und Julia hatte sich Otto zugewandt.

»Du, Otto, würdest du noch mit nach oben kommen?« Julia blickte die Straße runter: »Da würde ich mich doch sicherer fühlen.«

Für einen Moment verstummte Otto, Julia würde doch nicht etwa … und Theo wartete ja und überhaupt … aber er musste ja nicht, er konnte ja auch wirklich einfach wieder gehen.

»Gerne, Julia, mach ich gern.«

Und so stieg er mit Julia die mit Granit belegte Treppe hoch und glaubte sie hier in Sicherheit und oben angelangt sah er zu, wie sie die Tür aufschloss und die Wohnung betrat und sah sich selbst, wie er da so vor der Wohnungstür herumstand und sich dämlich vorkam und dann erlöste Julia ihn und sagte: »Na, jetzt kannst du auch schnell noch von meinem guten Grappa kosten.«

Und schon waren die Würfel gefallen, und noch während sich Otto sagte, dass er ja gleich wieder gehen und nun endlich zu Theo fahren würde, während er das also noch so dachte und sich kurz im Spiegel ansah mit der ganzen Grandezza eines dichtenden Filmregisseurs von Film-Noir-Kunstwerken, da gingen dem Otto Hubertus die Lichter aus.

Jemand hatte ihn niedergeschlagen.

Theophil Kornmaier checkte erst mal, ob die Strickleiter noch da war, sie war noch da. Dann lauschte er, nichts, Stille. Also wieder in dieses Kuriositäten-Kabinett, das war Kornmaiers erster Gedanke gewesen.

Ein Sammelsurium von, ja, wovon?

Wer hatte das hier alles angesammelt? Wer saß hier unten und stopfte seine Höhle voll, wie eine Elster ihr Nest vollkramte? Und wer schlug hier Löcher in die Mauern? Und wieder kroch Kornmaier ein Schrecken über den Rücken und er rechnete jede Sekunde mit einem Horror-Clown, der sich aus dem Gang zu ihm hereinbeugte und seinen taumelnden Bewegungsapparat mit einem riesigen Schlüssel selbst wieder aufzog.

Aber immer noch lag der Gang still und wo, verflucht noch eins, blieb Otto?

Kornmaier hatte begonnen alles ein wenig genauer anzuschauen, da war eine Carrera-Rennbahn, eine Burg mit Playmobil-Figuren, Kastanien-Männchen standen auf Lego-Schiffen herum, einige Coladosen, so was wie ein Arbeitstisch war da, mit Papierschnipseln, Papierfliegern, einer Mauer aus Zuckerwürfeln, getrockneten Blumen, ein Strauß Plastikrosen hing an der Wand, daneben klebten Fotos von Frauen, von einer Datingseite heruntergeladen und ausgedruckt. Unter jedem der Fotos hing an einem Nagel ein Seidentuch, und ein paar Haare waren über die Fotos wie eine Frisur drapiert, anscheinend mit Heißkleber fixiert. Drüber ein kleines Zettelchen mit kindlicher Hand beschriftet: Peggy, Christa, Adele, Katrin.

Kornmaier musste sich setzen. Hier war Katrin. Und immer weiter ließ er die Taschenlampe wandern. Postkarten, geschrieben und nie abgeschickt.

»Liebe, böse Mutter, du kannst mich mal, du Stromerhexe. Dein Nichtkind.«

»Liebe, böse Mutter, sollst schmoren im Höllentopf. Dein Junge.«

»Liebe, böse Mutter, bist eine böse Schachtel, stirb doch mal.«

»Liebe, böse Mutter, bist gar nicht die richtige Mutter, bist nur die falsche. Ende.«

Kornmaier drehte und wendete die Karten, ein ganzer Stapel lag da noch, er würde die alle mitnehmen, nachher. Und weiter wanderte der Lichtstrahl, da hingen Fotos an der Wand, wieder mit Heißkleber befestigt, zwei Kinder, zwei Frauen vor einem weißen Fertighaus, eine Frau war mit einem schwarzen Filzer mit einem Totenkreuz versehen worden. Die Frauen in Blümchenkitteln und Hauspuschen, sich an den Händen haltend, der kleine Junge im Ringelpulli und kurzen Lederhosen, das Mädchen mit lockigem Pferdeschwanz und einer Puppe im Arm. Keiner lächelte, ernst blickten sie in die Kamera. Ein zweites Foto zeigte einen Jungen, der auf einem Dreirad fuhr, der Oberkörper nach vorne gebeugt, um ordentlich Geschwindigkeit zu bekommen.

Über den Fotos hing eine riesige Schatzkarte, wie aus dem Bilderbuch, an den Rändern ein bisschen angesengt, Mallorca war zu sehen. Kornmaier stockte, Pollença und dann ein kleines Kreuz genau da, wo seine Finca stand. Im Licht der Taschenlampe sah er die Spiegelung auf diesem Kreuz. Wer immer hier unten hauste, hatte dieses Kreuz dort selbst eingezeichnet. Ganz unten rechts in der Ecke tauchte das Logo von Gasolin auf. Die Firma gab es nicht mehr, aber diese Schatzkarte, die mal der Werbung gedient hatte, die hatte es in diesen Keller geschafft, und an diese Schatzkarte glaubte irgendein Kind, ein Kind, das, nein, konnte kein Kind mehr sein, was machten die Frauenfotos hier? Langsam streckte Kornmaier die Hand aus und nahm das Foto von der Wand, das mit den vier Gestalten, drehte es um und las: Julia, Stefan, Tante Gudrun und Mutti Doro 1985.

Kornmaier war froh, dass er saß.

Es hatte ein bisschen gedauert, bis das alles in Kornmaiers Kopf eingesickert war. Was, wenn Otto Julia getroffen hatte in diesem winzigen Städtchen und dieser Depp, dieser eitle Fatzke, dieser Obertrottel, vom Brunnen erzählt hatte und dass er und Otto da runterklettern wollten … Kornmaier war aufgesprungen, war zur Strickleiter gestolpert und war, immer wieder die Stufen verfehlend, die Leiter hoch. Er hasste Strickleitern und diese besonders. Oben sah er: vier Anrufe von Julia. So, kein Auto da. Julia anrufen, nee, erst ruhig atmen, dann Julia anrufen. Wo kriegte er jetzt ein Auto her? Nein, vorher Otto anrufen. Otto ging nicht ran, komplett untypisch, da stimmte was nicht. Wieso ging Otto nicht ran? Kornmaier widerstand dem Impuls, noch mal anzurufen. Schon begann sich ein Horror-Szenario in seinem Kopf zu formen, Julia wusste das mit dem Brunnen, und wenn er jetzt öfter bei Otto anrief, würde sie das wiederum dazu bringen, Verdacht zu schöpfen. Mann, mann, mann.

Für einen Moment stand Kornmaier unschlüssig im Garten herum. Er musste Julias Stimme hören, versuchen, etwas herauszuhören, vielleicht schoss seine Fantasie mal wieder übers Ziel hinaus. Er starrte auf sein Handy. Also: Julia anrufen.

»Julia? Du, ich hab gesehen, du hast angerufen?« Es war dunkel geworden und Kornmaier lauschte in das Handy, das jetzt der Mittelpunkt der Welt war.

»Bist du gerannt?«

»Ja, zum Telefon. Ein Freund hat angerufen. Und jetzt habe ich erst deine Anrufe gesehen. Du, ich sitz hier ganz gemütlich auf der Terrasse und trink einen schönen Roten. Ich warte auf Otto, den hast du nicht zufällig …?«

Und wieder lauschte Kornmaier und hörte diese kleine Schärfe in ihren Worten, etwas Fremdes, so ein bisschen nach Rechtfertigung klang das. Mit Julia stimmte was nicht. Kornmaier legte den Kopf in den Nacken und besah sich das Weltall und nahm Abschied von dieser Frau, von der er gedacht hatte, dass sie vielleicht mal wieder eine Liebe hätte werden können, und ihm fiel ein, dass er irgendwann mal gedacht hatte, dass sich freuen und bereuen so arg reimen würden.

»Nee, leider nicht, ist er nicht bei dir?«

Kornmaier verzog das Gesicht und bemühte sich, sich das nicht anhören zu lassen.

»Komisch, na, ich trink noch ein Gläschen und warte einfach auf ihn. Schlaf gut, Julia.« Ihm war danach zu weinen, letzte Worte in ein altes Leben gesprochen, nicht mal Zeit fürs Abschiednehmen war da, er musste jetzt Otto retten. Aber wenn sie und das stumme Gesicht wirklich Otto ausschalten wollten, wo würden sie ihn hinschaffen? Er musste was machen, irgendwas. Kornmaier suchte nach seinen Autoschlüsseln, quatsch, das Auto hatte ja Otto. Jetzt nicht reinsteigern, ruhig bleiben, den Überblick bewahren. Wie kam er jetzt an ein Auto? Irgendwo würden die den Otto hin verfrachten, aber wohin? Und wieso eigentlich? Otto hatte doch gar nichts … nein, es war keine Zeit zum Nachdenken, dem Instinkt folgen, am besten mit kaltem Herzen. War die einzige Option.

Kornmaier fiel in einen Wolfstrab und sah nur eine Möglichkeit. Sein Nachbar musste ihm den Ferrari leihen.

Heilige Mutter Gottes, nein, im Beten war er immer schlecht gewesen, lieber nicht. Kornmaier bog auf das Grundstück ab, hob die Faust und wummerte mal wieder gegen die Tür von dem Bekloppten. Dabei brüllte er »Notfall«. Nichts rührte sich. Also ums Haus rum und da stand Mitschke, mit erhobenen Fäusten, alarmiert und offenbar bereit, sich zu verteidigen.

»Ich brauch Ihr Auto.« Kornmaier war zum Siezen zurückgekehrt. So als könne das die Faustschläge vergessen machen.

»Äh …«

»Ein Notfall, ein Verbrechen verhindern. Also Sie, Sie können ein Verbrechen verhindern.«

»Sie sind wohl …«

Kornmaier machte zwei Schritte auf Mitschke zu, der instinktiv zurückwich.

»Keine Zeit für Gequatsche. Möchten Sie ein Verbrechen verhindern, ja oder nein?«

»Äh …«

»Gut, dann den Autoschlüssel, schnell.«

»Ich fahre aber.« Mitschke guckte störrisch.

Einen Moment zögerte Kornmaier, wollte er wirklich diesen Psycho dabeihaben?

»Gut, wenn Sie schnell fahren.«

»Was sonst.«

»Dann los.«

»Und wohin?«

Tja, das war die Frage der Fragen.

Kornmaier starrte auf die Straße, neben ihm Mitschke, der den Ferrari aufbrüllen ließ und den Cami runterjagte. An der Kreuzung musste er die Richtung angeben. Zu Julias Wohnung? Da waren die doch schon längst weg, aber wohin dann?

»Sie haben die Julia, also die Frau von der Sie dachten, es sei meine, also die haben Sie doch entführt. Das spielt jetzt übrigens keine Rolle mehr, niemand wird Sie anzeigen. Da müssen wir hin. Also dahin, wo Sie die festgehalten haben.«

»Okay.«

Aha, dachte sich da der Kornmaier, ein kleiner Nebenerfolg, war ihm egal, war ein Versuch wert, war eine Idee, dass sie Otto dahin schaffen würden, das reizende Geschwisterpärchen. Da wusste Julia schon, da würde keiner hinkommen. Abgründe, Kornmaier hielt sich am Türgriff fest. Der Irre gab wirklich Gas.

»Darf man erfahren …«

»Die ehemalige Dame und ihr Bruder sind Serienkiller und jetzt haben die meinen besten Freund.«

Das war selbst für Mitschke ein wenig überspannt, wahrscheinlich wohnte er gerade einem psychotischen Schub seines Nachbarn bei, da war es ja am besten, einfach mitzumachen, nicht, dass der noch mehr durchdrehte. Und ein unbekanntes Gefühl beschlich den Mitschke, eines, das er gar nicht kannte und von dem er nicht hätte sagen können, was es war, aber unangenehm war es nicht.

Und mit wachsender Begeisterung donnerte er über Bürgersteige, rammte Absperrungen und ließ seinen PS freien Lauf.

Otto dämmerte an einem unbekannten Ort, in einer unbekannten Verfassung, dem Wachzustand entgegen. Fest verschnürt und geknebelt lag er auf der Erde und atmete den Staub eines unbefestigten Weges ein.

»Stefan, du musst das jetzt auch mal lernen.« Julias Stimme war zu hören. Julias liebliche Stimme, die jetzt eine fremde Härte hören ließ.

»Ich kann das ja, aber mach noch mal vor.« Eine Männerstimme, die er nicht kannte.

»Du mit deinem Seidentuchscheiß, das dauert viel zu lange.« Julias Stimme. »Hier, mit einer Gitarrensaite.«

»Mach noch mal vor.« Die Männerstimme klang ein wenig klagend.

»Mutti ist verschwunden, du musst jetzt auch mal Verantwortung übernehmen.«

»Wieso ist Mutti weg? Die ist gerade angekommen, die blöde Kuh!«

»Doro ist unsere richtige Mutter und die aus Deutschland, das ist Tante Gudrun.« In Julias Stimme schwang etwas wie grausame Selbstgerechtigkeit. »Wird Zeit, dass du das mal erfährst.«

»Was?« Lageveränderung der männlichen Stimme, der Typ war aufgestanden und ein paar Meter weggegangen.

Otto wagte es nicht, sich zu bewegen. Bloß keine Aufmerksamkeit, sollten die sich streiten, aber wer stritt sich schon ewig, eine aussichtslose Lage und was war das mit der Gitarrensaite? Und wer musste hier was lernen?

»Deinetwegen, Stefan, deinetwegen.« Zufrieden klang Julias Stimme.

»Was is’n das hier für eine Oberscheiße?« Der Typ kam zurück. »Was erzählst du denn da für einen Obermist.«

Stille.

»Was jetzt, Jule, jetzt sagst du nichts mehr, oder was. Jule, sag was!« Die Stimme fast über Ottos Kopf. »Gleich krieg ich ’ne Wut, Jule.«

»Das ist das Problem, du Volltrottel, deine Wut!« Julias Stimme entfernte sich und hatte die kühle Selbstbeherrschung verloren: »Deine bescheuerte, bekotzte Wut.«

»Ach so? Ach ja? Na und?«

»Das Jugendamt hätte dich doch einkassiert, damals.«

»Hä?«

»Und da hat Gudrun auf dich aufgepasst und Mutti hat das Land verlassen, nur damit du Pfeife nicht ins Kinderheim musstest.« Julias Stimme war zurückgekehrt.

Stille.

Dorothea war seine richtige Mutter, hatte er das nicht immer geahnt? Die fiepende Kuh mit den Lockenwicklern war nur die blöde Tante. War das nicht viel schöner? Eine viel, viel bessere Mutter war das doch, die Dorothea. Und: Wieso hatte er das so komplett vergessen?

»Wieso denn ins Kinderheim?«

Stille.

»Wieso ins Kinderheim?« Der Typ war Julia gefolgt, Otto konnte nichts sehen, alles spielte sich hinter seinem Rücken ab. Sachte bewegte er sich, prüfte die Fesselung, nichts ging, gar nichts. In was für eine Scheiße war er hier reingeraten? Wo war Theo, wenn man ihn mal brauchte? Und wieso war Julia so abgedreht? Und wer war der Typ und was wollten die mit einer Gitarrensaite …?

»Weil du den Tuppi umgebracht hast.«

»Den Tuppi.«

»Den Tuppi, genau den.«

»Wer ist Tuppi?«

»Wer war Tuppi, du Vollidiot.« Julia umrundete Otto und ihre Schuhe tauchten vor seinem Gesicht auf. »Tobias Huppenrieder.« Julia warf einen kurzen Blick auf den still daliegenden Otto. Einen Mann hatte sie noch nie erdrosselt, ob das wohl anders war? Länger dauerte? Sie hoffte nicht.

Stefan war Julia gefolgt. »Und was war jetzt mit diesem Tuppi?«

»Hab ich doch gerade gesagt, den hast du mit deinem Roller erschlagen.«

»Hä?«

»Dorothea und Gudrun hatten eine Heidenangst, dass du so was noch mal machst.«

Otto zuckte zusammen.

Der Typ hatte begonnen zu brüllen. So ein Wutgebrüll, so als hätte man sich gerade so richtig mit dem Hammer auf einen Finger gehauen und das zum dritten Mal, auf die gleiche Stelle.

Dann hörte Otto Julias Metallstimme.

»Jetzt bist du wütend genug, Stefan, hmm? Jetzt machen wir das zusammen, so wie ich es sonst immer mit der Dorothea gemacht habe. Einer links, einer rechts.«

Aus dem Augenwinkel konnte Otto sehen, wie sich Julia neben ihn hingekniet hatte mit einer Gitarrensaite in der Hand, an beiden Enden war die Saite um ein Holzstöckchen gewickelt. War das nicht … das kannte er doch aus Mafiafilmen, das war doch jetzt nicht etwa …? Und aus war es mit dem Sich-tot-stellen und Otto versuchte sich aufzurichten und irgendetwas zu sagen und schrapste mit den Füßen auf dem Schotterweg herum, wie um im Liegen davonzulaufen. Ein Fisch an Land in seinen letzten Zuckungen.

»Stefan, schnell, er ist aufgewacht!«

»Der ist wach, da will ich nicht.« Die Männerstimme drohte aus der Wut in die Ängstlichkeit zu kippen.

»Stefan, verdammt noch mal, du Memme, du blöder Versager, jetzt komm sofort hierher!« Julia stand auf und trat einen Schritt von Otto zurück. »Was würde Spiderman denn jetzt machen?«

»Der würde die Fesseln abmachen und dich festnehmen.«

»Stefan, das hier ist der Böse, wir sind die Guten!«

Otto glaubte sich immer mehr in einem Albtraum zu befinden, in einem absurden Albtraum.

Die Unerbittlichkeit in Julias Stimme war eindeutig.

»Der hier muss weg, sonst ist nämlich auch dein Geld weg.«

Wieso musste er denn weg, warum denn, liebes Leben, warum denn? Vor Otto lief der Film ab, von dem immer gesprochen wurde: Otto als Knabe schweinebaumelnd an der Klimmzugstange. Otto in Plattenläden wippend mit Kopfhörern auf den Ohren, Otto vor dem Spiegel die gewellte Tolle akkurat in Form bringend, Otto und Theo einen Rollschrank aufbrechend, um die Abiturarbeiten zu kopieren, Theo …

Wo zum Henker bist du, Theo?

Theophil Kornmaier betete nun doch.

Vielleicht würde sich der Psychopath mit dem Ferrari doch noch als nützlich erweisen. Autofahren konnte er.

Kornmaier konnte nur hoffen, dass Julia Otto wirklich dahin gebracht hatte, irgendwo dorthin in die Walachei, wo keiner etwas sah oder hörte, dorthin war sie entführt worden, dort war sie aus der Welt gewesen.

»Noch weit?«

»Nee.«

Der Ferrari röhrte jetzt im zweiten Gang den Feldweg rauf.

Julia erkannte das Motorengeräusch sofort.

»Verdammte Scheiße, Stefan, wir müssen weg.«

»Und wieso?«

»Hörste doch!«

Julia hatte sich einen Ast gesucht, vielleicht ging das schneller, oder war irgendwo ein Stein?

»Stefan, das hier ist ein Scheißzeuge, der muss weg!«

Julia versuchte mit dem Ast Ottos Kopf zu treffen und Otto rollte um sein Leben, nach links, nach rechts, versuchte, mit beiden Beinen Julia zu Fall zu bringen, trat nach ihr. So war das also, wenn es ums Leben ging, sehr unkoordiniert, komplett unelegant, ineffizient und verzweifelt.

Julia drehte sich um, die Scheinwerfer waren schon zu sehen.

Jetzt gab es nur noch eins: Das Geld retten und untertauchen.

»Stefan, wir hauen ab, sofort.«

Stefan war um die beiden Kämpfenden herumgesprungen, hatte Drohgebärden gemacht und Scheinangriffe gestartet. Und er hatte versagt. Jetzt stand er da und starrte wütend auf diese ewig Ansagen machende Schwester.

»Zu Fuß, du Hirni«, Julia zog an Stefan, »unser Auto passt nicht an dem anderen vorbei.«

»Nicht anfassen, nie anfassen.« Stefan sehnte sich nach seinen Gewichten.

»Dann bleib doch da«, sagte Julia und ward verschwunden.

Der Ferrari kam schleudernd zum Stehen.

Kornmaier stieß die Autotür auf und sah im Scheinwerferlicht etwas liegen, auf dem Weg, etwas, das nach Mensch aussah, etwas, das sich bewegte: Otto. Kurzer Sprint, dann war Kornmaier da.

»Mann, Otto …«, nein, jetzt war nicht die Zeit für Scherze, »Otto, ich hatte wirklich Angst, dass dir was passiert ist.«

Otto antwortete nicht, wie auch.

»Otto, Otto, Otto.« Kornmaier löste die Verschnürungen, dauerte.

»Echt mal hier.« Und dauerte.

»Tape machste selber ab.« Kornmaier kniete neben dem erschöpften Otto.

Dann der erste Satz von seinem Freund: »Der liebe Gott hat mir ganz schön eine reingehauen.«

»Wie?«

»Na ja, fast hätte ich … ich dachte jedenfalls … also ich hätte, wenn nicht alles sehr anders gekommen wäre.«

»Muss ich das jetzt verstehen?« Kornmaier streckte Otto die Hand hin, um ihm aufzuhelfen.

»Nee, besser nicht.« Otto starrte auf Kornmaiers Hand. »Ich bin ein eitler Fatzke.«

»Meine Worte, Otto, meine Worte.«

»Ich gelobe …«

»Nee, besser nicht. Gelübde zu brechen ist noch schlimmer als was-auch-immer.«

»Gut, ich gelobe nicht«, und wirklich wollte Otto ab heute ein besserer Mensch werden, wie immer das aussehen würde. Aber man weiß ja um den menschlichen Faktor der Vergesslichkeit und um sich mit etwas Einfacherem zu befassen, fragte Otto: »Und wo sind jetzt Bonnie und Clyde?«

»Abgehauen.«

Wie ein Jagdhund schnüffelnd war Mitschke herumgelaufen, wusste nicht wo oben, wo unten, wusste nur, irgendwas war anders als sonst und dafür hatte er keine Gebrauchsanleitung.

Unschlüssig stand er da und besah sich die Szenerie. Für einen kleinen Moment hatte sein Herz eine Rührung erfahren beim Anblick der beiden Freunde und sofort schloss sich dieses kleine Tor wieder, denn das durfte, konnte und sollte nicht sein.

Dann nahm er sein Handy heraus und telefonierte mit der Polizei.

Stefan hatte die kleine Luke geöffnet, eine Bodenplatte, die in den Untergrund führte, hinter sich Julia, die ihn zur Eile trieb. Vor der Finca wartete der Taxifahrer. Dass sie gleich eins bekommen hatten, war ein echtes Wunder gewesen. Man musste auch mal Glück haben.

»Schneller, meine Güte!« Julia würde gleich auseinanderknallen, warum ging alles schief? Sie mussten jetzt untertauchen und das war das Letzte, was sie sich für ihr Leben gewünscht hatte.

»Gleich mach ich gar nichts mehr.« Stefan begann zu trotzen, nicht auch das noch.

»Wo ist das Geld, das Versteck, die sind hinter uns her«, Julia folgte Stefan in die Dunkelheit, in den Gang, der ihre Schritte widerhallen ließ. »Was würde denn jetzt Spiderman machen?«

»Er würde schneller sein.«

»Also.«

Stefan begann zu traben, Julia folgte und dann standen sie in Stefans Kinderzimmer, in seinem Reich, hier lag komprimiert sein Leben, sein Hoffen, das Überbordende, das nur hier Platz gefunden hatte, und Julia stockte für einen Moment. Das hier kannte sie nicht und da sie alle Sentimentalitäten hasste, fragte sie nur: »So, jetzt, wo ist das Geld, Spiderman?« Und während sie das sagte, begann sie die Fotos der vier Frauen von der Wand zu reißen und zusammenzuknüllen und den Tisch zu checken, ob da noch mehr Verräterisches herumliegen könnte, und derweil wies Stefan mit großer Geste auf eine umgekippte Schachtel unter seinem Tisch, eine Schachtel mit Autobildchen beklebt und einem Totenkopf, der den Deckel der Schuhschachtel zierte und den Inhalt bewachte. Der Deckel hatte sich vom Karton getrennt, warum?

»Gib her.«

»Nee, meine.«

»Lass mich mal reingucken.«

Und dann geschah es und gleichzeitig war oben schon etwas zu hören. Stimmen waren da und Automotoren und eine der Stimmen hallte jetzt vom Brunnen her in den Gang und Geräusche waren da, so als würde jemand einen Schacht heruntersteigen und sich nähern, und anstatt loszulaufen, hatte sich Stefan hingesetzt und in die Schachtel gestarrt, die ganz und gar leer war. 145.870 Euro. Einfach weg.

Und Julia war losgelaufen, direkt in die Arme eines spanischen Polizisten, der gerade noch verhindern konnte, dass Julia etwas in den Mund stopfen konnte, was sie eben noch in der Hand gehalten hatte.

Marathon auf der Polizeistation. Ottos Kopf sackte immer wieder gegen Kornmaiers Schulter, was dieser geschehen ließ, leise mit dem Kopf schüttelnd.

Man habe Stefan S. schon befragt und nun stelle sich die Frage, ob er, Kornmaier, sich da was vorstellen könne: Das Geld sei weg. Ob er da eine Idee habe. Nein, leider überhaupt gar nicht.

Ob er denn gewusst habe, dass da Gräber vor seinem Haus lagen. Immerhin vier Stück, davon habe der Herr S. berichtet. Vier! Warum hatte Kornmaier das von Katrin nicht gefunden?

Und ob er sonst noch irgendwas von Señora Julia S. wisse?

Nein, nichts.

Ein Arzt hatte in Ottos Augen geleuchtet und nach Kopfschmerzen und Übelkeit gefragt.

Dann durften sie los.

Und als wäre nichts geschehen, hatte sich die Nacht über die Insel gesenkt, saßen die Menschen in den Restaurants und Cafés und murmelten und lachten. In der Ferne kreischten Kinder, die längst ins Bett gehörten und brausten Mopeds durch schmale Gassen.

Mateo räumte das Reserviert-Schild weg und nahm die Bestellung auf.

»Unsere liebliche Julia …« Kornmaier kippte seinen Whisky mit einem Zug runter.

»Unsere liebliche Julia …« Otto prostete Kornmaier zu und das war nur die gerechte Strafe, dass er sich jetzt unter seinem schlechten Gewissen krümmte.

»Otto, du siehst so richtig …«

»Sag’s nur, Theo, sag’s nur.«

»So richtig scheiße siehst du aus.«

»Wie euch beliebt.« Otto winkte nach Mateo für eine neue Runde.

»Alkohol ist auch keine Lösung, Otto.«

»Lass mich in Ruh’.«

»Das komische ist …«

»… dass man eigentlich nichts verstanden hat.«

»Aber ich weiß jetzt, wo Katrin ist.« Kornmaier runzelte die Stirn. Ja, das wusste er jetzt.

»Bist du zufrieden, Theo?« Otto nickte Mateo zu und hob sein Glas.

»Zufrieden?«

»Also den Umständen entsprechend?« Otto lehnte sich zurück und vermisste seinen Strohhut, der war bei all dem drunter und drüber verloren gegangen und die Taschenlampe auch. Vorsichtig befühlte er die Beule am Hinterkopf.

Und gleichzeitig dachte er, dass Theo nun mal wieder eine mögliche Liebe zu Grabe getragen hatte und das unter bittersten Umständen.

»Otto, ich fühl mich mies. Das hübsche Vögelchen ein Geier.«

»Eine Geierin.«

»Ja, mach dich nur lustig.«

Kornmaier hob den Kopf und sah in den Nachthimmel über Pollença, die Platanen leuchteten im Licht des Städtchens und alles war so wie immer, sehr irritierend, denn es war ja nichts so wie immer und für einen Moment hatte Kornmaier Lust aufzustehen und das laut herauszuschreien. Machte er natürlich nicht.

Contenance. Möglichst immer. Meistens. Im Regelfall.

»Was gibt es zu grinsen, Theo?«

»Ich bin doof.«

»Hin und wieder, aber gut doof.«

»Alles liegt in uns selbst: Rettung und Untergang.«

»Meint?«

»Nur das.«

Kornmaier und Otto nahmen einen Schluck und blickten in eine unbestimmte Ferne, alles war gesagt.

Julia hatte noch 10.000 Euro abgehoben. Kontoinhaberin: Peggy Müller-Seitz. Perfekte Verkleidung, perfekte Unterschrift. Das Geld fand man in einem Kästchen unter etlichen Haarbürsten und Perücken versteckt.

Während Julia mauerte, plapperte Stefan wie ein Gebirgsbach. Im Lichte der Aufmerksamkeit, die ihm gezollt wurde, erfuhr er endlich die ihm angemessene Wertschätzung.

Es hatte vor zwei Jahren begonnen.

Da war Dorothea damit gekommen, er könne doch mal nach Frauen suchen, ob er das wohl hinkriegen würde. Nach reichen Frauen. Nach solchen, die alleinstehend waren. Natürlich könne er das, aber in den Clubs der Insel habe er dann doch eher … also seins war das nicht. Und da hatte er lieber heimlich im Internet gesucht.

Er hatte sich ein Buch gekauft, da stand Die Aufreißerfibel drauf, da war alles drin, was Frauen hören wollten, das war einfach gewesen. Jeder Satz ein Volltreffer. Also fast immer. Und Stefan hatte sein Kichern geschnaubt.

Und Julia dachte auch, er suche nicht im Internet, das hatte er nicht verraten. Und da waren die auf ihn reingefallen, die Damen. Stefan zog das Wort »Damen« in die Länge wie Kaugummi. Diese »Damen« waren doch selbst schuld. Und erst hatte er ja mithelfen wollen, also mit dem, er hatte gestockt, mit dem Zugreifen, aber mit den Seidentüchern, das war mehr so eine Idee gewesen und dann hätten Dorothea und Julia, die hätten dann ordentlich jeder an einer Seite gezogen, da habe das geklappt. Na ja, man habe das dann mit der Zeit verfeinert, mit so einem Drahtdings. Und er, er habe dann die Beerdigungen erledigt. Das konnte er gut. Das war dann ja doch Männersache. Einmal habe er es selbst versucht, aber da habe seine Tante, nein Mutter, doch helfen müssen und Geld habe die Daaame auch keines gehabt, da habe er sich vielleicht was anhören müssen.

Dann hatte Stefan eine Pause gemacht und still vor sich hingeguckt. Und dann aufgeschaut und in das Gesicht des freundlichen Beamten geblickt, der so was Ermunterndes ausstrahlte, aber mehr wisse er jetzt auch nicht. Und das Geld, das war ja für ihn gedacht, damit er sich mal selbst und alleine und weg von der Mutter … und auch da stockte Stefan, weil das mit der Mutter hatte er noch nicht verkraftet.

Jedenfalls, und nun war das Geld weg. Das ganze viele Geld. Und dann stand Stefan auf und warf seinen Verhörstuhl gegen die Wand und der freundliche Beamte zuckte kurz zusammen und war im Grunde mit dem Verlauf des Verhörs sehr zufrieden.

Die Fortbildung zum Thema Verhör hatte sich gelohnt. Das würde er heute Abend seiner Frau berichten können, und während Stefan mit Polizeigriff wieder auf seinen Stuhl befördert wurde, überlegte der fortgebildete Beamte, was es wohl heute Abend Schönes zu essen geben würde.

Der Rosen-Bettüberwurf war weich und fadenscheinig, wie um sich unter der Last der Jahre demnächst aufzulösen. Gudrun saß auf diesem Bettüberwurf und tastete darauf herum, folgte mit den Fingernägeln den Nähten, die die Decke in Quadrate einteilte und wartete.

Sie lauschte ihrem fiependen Atem und sah auf ein kleines Foto, das auf Dorotheas Nachttisch stand. Doro und sie in Kittelschürzen und vor den beiden Schwestern die Kinder, Stefan und Julia. War das davor oder danach gewesen?

Im Flur tickte eine Uhr und kürzte mit jedem »Tick« Gudruns Lebenszeit.

Davor oder danach? Es musste davor gewesen sein, diese Aufnahme, da hatte Stefan noch ein Dreirad und keinen Roller.

Tick-Tack.

Der gute Junge. Hatte ihr das Leben gestohlen. Und doch war er der gute Junge, was konnte man da tun?

Tick-Tack.

Gudrun ließ sich nach hinten sinken und hörte ihren Atem, vielleicht rasselte er ein wenig mehr als sonst, sie drehte sich zur Seite, zog die Knie an und zog diese wundervolle, anschmiegsame und liebweiche Rosendecke über ihren alten Leib.

Tick-Tack.

In diesem Kokon würde sie warten, bis jemand käme.

Bei der Autovermietung waren dem Geschäftsführer die Augenbrauen so weit hochgekrochen, bis sie fast im Himmelblau verschwunden waren.

Was war mit dem Auto passiert? Dem Portofino? Dem Paradepferd des Verleihs? Er war den Tränen nahe.

Immer wieder umrundete er das Fahrzeug, kniete neben dem Wagen, fuhr mit großer Zartheit über Schrammen, Kratzer, Beulen, fluchte, flüsterte Trostworte, glaubte es selbst nicht, wandte sich gelegentlich mit einem vernichtenden Fluch an Mitschke, sprach wieder Trostworte, um sich abschließend aufzurichten und dicht vor Mitschke hinzutreten.

Mitschke hatte nur dagestanden und gewartet, ab und zu auf die Uhr geschaut und wie in großer Müdigkeit die Augenlider gesenkt.

Der Autoverleiher stand jetzt vor Mitschke und versuchte sich groß zu machen, ja heimlich hatte er sich ein wenig auf die Zehenspitzen erhoben.

»Du bist tot.« Und schon nach dem Wort »bist« gruselte es dem Autoverleiher beim Blick in Mitschkes Augen und nur matt kam noch das »tot« hinterher.

»Ich bin nicht tot, ich bin versichert.«

»10.000 Euro Eigenbeteiligung.«

»5.000 reichen.« Mitschke zog seine Brieftasche heraus und zählte das Geld auf das Dach des Ferraris. Dann drehte er ab und ging davon. Ohne Eile und recht zufrieden.

Hinter ihm bekreuzigte sich der Autoverleiher und murmelte ein kurzes Gebet.