Kornmaier lauschte in die Nacht, die das Haus mit Dunkelheit erfüllte, lauschte und hörte was. Er schaute auf die Uhr: 03:37. Ein Zimmer weiter rotierte Otto in seinem Bett. Die Pfosten knarrten von dem Herumgewerfe, Otto brauchte noch einen Whisky. Jetzt in diesen schwarzen Stunden der Nacht würde das ein wenig helfen. Alkohol war zwar auch keine Lösung. Jaja. Aber half erst mal übers Schlimmste hinweg.
»Otto?«
Stille.
»Otto, ich bin’s, der gute alte Theo.« Kornmaier war aufgestanden und horchte an Ottos Zimmertür.
»Okay.« Klang piepsig, Kornmaier vernahm ein Räuspern.
War ein bisschen am Ende, der Otto, kein Wunder.
Die Nacht war gerade so auf der Kippe, fast noch mild und fast schon kühl. Den Grillen war es zu kühl zum Zirpen, die Schafe waren samt Glöckchen verschwunden, das Feld vor ihnen lag aufgewühlt. Vier Gräber hatte man gefunden, akribisch waren sie mit Erdbrocken und Steinen abgedeckt gewesen. Kornmaier hatte keine Chance gehabt, sie zu finden. Die Freunde saßen auf dem Balkon, blickten ins Dunkel und hoben ihre Gläser. Und so wie dieser Ausblick hier, so sah es in ihrem Gemüt aus, die Orientierung in ihrem Weltensystem war gerade aus der Spur geraten. Wo war links, wo rechts und weshalb überhaupt?
»Auf uns.«
Otto hoffte auf das Morgenlicht, das brachte ja oft alles wieder ins Lot.
»Auf uns und dass wir leben.«
Kornmaier nahm einen Schluck und schaute in sein Glas. Ein blasser Mond zitterte auf dem milden Whisky und Kornmaier musste an ein Minzblättchen denken, das sich in seinem Wasserglas gedreht hatte. Ewig lange kam es ihm vor und wie er Trottel sich in Julia verguckt hatte. Kleid, Hibiskus und Sommersprossen.
»Kann man das mit dem Vergessen irgendwie beschleunigen?« Otto legte den Kopf in den Nacken.
»Ja, neuen Unfug anstellen«, Kornmaier lehnte sich zurück, »am besten noch schlimmeren, der überdeckt dann den alten.«
»Noch schlimmeren …«, echote Otto und nahm einen Schluck.
»Was ich nicht verstehe, Theo …«
»Ja?«
»Wieso hat Julia dich überhaupt auf Katrin aufmerksam gemacht?«
»Tja.«
»War doch blöd.«
»Tja.«
»Du willst nicht dran denken.«
»Nee, morgen. Frühestens.«
Ein paar Scheinwerfer krochen den Cami hoch, dem Motorengeräusch nach der Nachbar. Um die Uhrzeit. Beide lauschten auf das Röhren des Motors in dem stillen Tal, musste ein neuer Wagen sein, klang anders.
Das Donnern des Motors erstarb, Autotüren klappten. Eine Frau kreischte.
»Muss eine Bordsteinschwalbe sein, eine kurzsichtige ohne Brille.«
»Echt mal, Otto, das ist irgendwie politisch nicht korrekt. Das sagt man nicht mehr.«
»Hört, hört.«
»Und: Ohne die Pfeife hätten wir dich nicht gefunden, Otto.«
»Ich werde da morgen mal rübergehen und mich bedanken.« Otto versuchte seine Füße auf dem Balkongeländer abzulegen, was misslang.
»Ja, mach das. Komisch, sich bei so einem Durchgeknallten bedanken zu müssen. Hast du sein Auto gesehen?«
»Dazu war gestern irgendwie nicht die Gelegenheit, wenn ich daran erinnern darf.«
»Stimmt auch wieder.« Theo blickte über den altvertrauten Feldweg, das Kreischen der Frau war verstummt, man konnte nur hoffen, dass der Mitschke mal eine kleine Freude hatte.
»Was ich auch nicht verstehe«, jetzt wollte Kornmaier doch dran denken, »wieso haben die damit angefangen. Das waren doch einfach Leute wie du und ich, also ganz entfernt wie wir, aber unauffällig, oder eventuell auch nicht …«
»Ja, und jetzt noch mal im ganzen Satz?« Otto war verwirrt.
»Na ja, waren die schon immer so drauf?« Kornmaier hatte sich nach vorn gebeugt, die Unterarme ruhten auf den Oberschenkeln, so, als würde das Sitzen sonst einfach zu anstrengend werden.
»Wissen wir ja nicht, oder?« Otto goss sich noch was ein und begann sich langsam besser zu fühlen, therapeutisch wertvolle Traumabewältigung auf schottisch.
»Ich meine, sind das alle? Die vier Frauen, meine ich, oder gibt es noch mehr, also Tote?« Bei der Frage griff dem Kornmaier mal wieder eine kalte Hand in den Nacken.
»Äh …«
»Ja, äh, jetzt denk mal mit, Otto.«
»Nun …«
Kornmaier verdrehte die Augen. Die Nacht lag jetzt still, stiller als sonst, das war merkwürdig, so als habe jemand den Ton abgedreht. Den Ton, der der Landschaft ihre Bedeutung gab. Süden und Wärme und Urlaub und Strand, alles weg. Kein Zirpen, kein Bimmeln.
»Kein Zirpen, kein Bimmeln, Otto.«
»Kein Zirpen, kein Bimmeln, verstehe.«
»Gleich nehm ich dir die Flasche weg.«
»Das tust du nicht.«
»Das tu ich doch.«
»Bist ein böslicher Mensch.«
»Böser heißt das.« Kornmaier stand auf und linste über das Geländer, ob wohl Nanita unten herumsaß?
»Bös, böser, Mallorca.« Otto hörte sich etwas unrund an in der Aussprache.
»Gütiger!« Kornmaier nahm die Flasche vom Tisch und stellte sie neben seinen Stuhl.
»Weißt du, Otto, nicht mal auf die Lampe ist Verlass.«
»Deutlich, Theo, du musst einfach deutlicher mit mir sprechen, so, dass ich’s verstehe.« Otto ließ abrupt den Kopf auf die Brust fallen und blickte gleich wieder auf.
»Meine Signallampe, andere nennen es Instinkt, Otto, Instinkt, den hab ich doch, oder?«
»Also bei Frauen …«, Otto wagte es nicht, den Satz zu beenden.
Schweigen.
»Okay, da nicht, da hast du recht, aber sonst so?«
»Wenn du meinst?«
Es war ja sinnlos. Und nun auch noch dieser Schlager im Kopf: Und wenn ein neuer Tag erwacht und die Sonne wieder lacht, ist die längste Zeit der Einsamkeit vorbei. Das war ja jetzt mal echt das Letzte.
Kornmaier geleitete Otto in dessen Zimmer, zog die Bettdecke zurecht, warf einen letzten Blick auf eine der wenigen Konstanten in seinem Leben. Otto, auf den war Verlass! Und trat noch mal auf den Balkon. Er würde hier nicht noch einmal hinfahren können, hier war alles vergiftet. Das Böse hatte hier gewohnt, ein Gräberfeld hatte sich vor dem Haus erstreckt, während Urlauber nichts davon ahnend kreischend in den Pool gesprungen waren oder auf der Terrasse Tango getanzt hatten. Und unter dem Haus die Zisterne mit dem Spielzimmer eines erwachsenen Mannes, der immer Kind geblieben war. Ein Kind, das die Fotos ermordeter Frauen wie Trophäen an die Wand gepinnt hatte.
Kornmaiers Gedankenstrom brach ab: Wo war jetzt eigentlich das Geld hin?
Mitschke hockte neben seinem Miet-Maserati und hauchte gegen den Lack. Mit einem Mikrofasertuch polierte er eine Stelle, die verdächtig aussah, der Schatten eines Schmutzes, der musste weg.
Er war zurück in seinem alten Leben. Ordnung, gebügelte Hemden und Hosen, das Boss-Käppi makellos, selbst auf der Innenseite.
Mit dem Pool-Jungen hatte er gleich morgens die Venus an Land befördert und jede Woge seines Seins hatte sich in jeder Beziehung geglättet.
Frieden war es nicht, der sich über Mitschkes Gemüt gelegt hatte, eher Befriedigung, die aber wie immer nicht zur Befriedung führen würde, aber immerhin.
Mitschke erhob sich, umrundete den Wagen und hörte was: Schritte auf der Kieseinfahrt.
Die Dampframme von drüben und sein jämmerlicher Freund bogen soeben um die Ecke, beide in diesen lächerlichen Anzügen.
Aha, ein schwarzer Maserati stand jetzt da, wie frisch aus der Fabrik.
Man sah es ihm an, der Mitschke hatte keine Lust auf Besuch, aber Otto war entschlossen, seinen Dank loszuwerden.
»Herr …«, einen Moment wartete Otto, es kam aber nichts: »Also, ich wollte mich sehr herzlich bei Ihnen bedanken. Ohne Sie …«
»Ja, ja, war mir eine Freude.« Mitschke bot ein Bild der Abwehr.
»Otto, lass dir doch mal den Maserati zeigen, das ist doch dein Traumauto«, Kornmaier blickte auffordernd, »Autokenner unter sich, nicht wahr?« Dann wandte er sich an Mitschke: »Sie würden meinem Freund eine große Freude machen.«
Konnte man Mitschke, alias Dr. Mabuse, alias Die toten Augen von Mallorca, irgendwie erweichen? Autokenner unter sich, Mitschkes Bollwerk wankte: »Kurz.«
»Selbstverständlich: kurz.«
Otto wusste nicht, wie ihm geschah, er hasste Maseratis, eine schöne Pagode oder ein Jaguar E-Type, ja, das wäre was gewesen, aber diese Luden-Kutsche?
Die Motorhaube wurde geöffnet, der Motor angelassen, man kroch auf die Sitze, alle Bedienelemente und jeder Firlefanz wurden an- und ausgestellt und nun ließ es sich nicht vermeiden, eine kleine Fahrt, den Cami hoch und runter stand an, Otto gestikulierte irritiert hinter Mitschkes Rücken in Richtung Kornmaier, der nur freundlich auffordernd nickte und mit der Hand bedeutete, er möge da jetzt mal mitmachen. Otto vorher einzuweihen, das wäre schiefgegangen, weil das Schauspielern, das lag dem Otto nicht.
So stand Kornmaier und winkte und wartete, bis die beiden hinter der nächsten Kurve verschwunden waren.
Dann wanderte er hinter das Haus und wartete. Auf irgendwas. Ein Gefühl, eine Signallampe, nichts. Noch in der Nacht hatte er gemeint, dass vielleicht dieser Herr, der immer noch keinen Namen hatte, dass der das Geld vielleicht irgendwie geklaut haben könne. Wieso lebte der auf derart großem Fuße? Kornmaier stand da, aber es kam einfach nichts, sein fabelhafter Instinkt hatte ihn gefoppt, eine Sackgasse war das hier.
Und jetzt? Den Typen einfach so davonkommen lassen? Mit der, Kornmaiers Herz sank, der Entführung von, von der da, der, die ihn und seine Arglosigkeit ausgenutzt hatte und auf die er voll reingefallen war, wie ein Schulbub, wie ein … Etwas wollte in Kornmaier zerspringen und damit das nicht geschah, blieb ihm nur eins: Er breitete die Arme aus und ließ sich in den Pool fallen. Langsam auf den Grund sinken, Julia, diese als Lamm getarnte Megäre, Julia, diese … Kornmaier fuhr mit der Hand über das Gesicht der Mosaikgöttin, knapp wurde es langsam mit der Luft, einfach hier unten bleiben, ein paar Minuten aushalten, dann wäre alles vorbei, so ganz und gar. Dann hörte er was, Otto rief seinen Namen, okay, für Otto wäre das wirklich doof, also nach oben treiben lassen, zur Leiter schwimmen und rausklettern.
Da standen sie, Otto und der Psycho und starrten ihn an.
»Bin wohl ausgerutscht.« Kornmaier griff nach dem Poolkescher, fischte seinen Hut heraus und setzte ihn auf. Dann ging er an den stumm Dastehenden vorbei, stoppte, drehte sich noch mal um.
»Herr XYZ, von mir erfährt keiner was, wie versprochen, habe die Ehre«, lüpfte den Hut, aus dem noch Wasser tropfte, und machte sich auf den Heimweg.
Otto schloss auf.
»Nichts sagen, nichts fragen.« Kornmaier hatte nicht die Kraft, Otto anzusehen.
»Okay.« Otto musste doch was sagen, aber das richtige immerhin: »Ich geh mal vor, lass dir Zeit.«
Kornmaier nickte, blieb stehen, hier, rechts auf dem Feld, da hatten sie gelegen, die vier Leichen. Elend. Und Julia, was hatte er ihr noch gesagt? Liebe ist eine Schimäre. War das ein bisschen Koketterie gewesen? Wollte er nicht eigentlich gerettet werden? Wie das klang, eigentlich rettete er ja, aber das war ein anderes Retten, und jetzt auf keinen Fall an seinen Bruder denken, auf keinen Fall. Kornmaier sah über das Feld, blickte auf das Haus, hinter dem Otto rücksichtsvoll verschwunden war, auf den war Verlass. Verlass und verlassen, wie dicht das beisammenlag und er war verlassen worden, so fühlte sich das an. Verlassen von, er wollte ihren Namen nicht mal mehr denken, verlassen von einer vagen Hoffnung. Und dann kam es doch, stieg auf, das aus grauer Vergangenheit, wie seine Eltern ihn verlassen hatten, nachdem sein Bruder in den Bergen abgestürzt war, das hatte er doch schon überwunden geglaubt. Denkste, war immer noch da.
Das Leben war eine Zumutung und ein Geschenk, beides, und Rettung und Untergang, und dann war es aus mit dem Rationalisieren, Kornmaier setzte sich auf ein Mäuerchen, legte sein Gesicht in beide Hände, spürte die schmerzende Stirn und dass nun die Tränen nicht mehr aufzuhalten waren.
Julia war nach Palma verfrachtet worden. Jetzt saß sie in ihrer Zelle und starrte die Tür an. Irgendwann müsste die sich ja mal öffnen, dann würde sie nach einer Haarbürste verlangen.
Ohne ihre Haarbürste war sie im Grunde nicht vernehmungsfähig. Ein Anwalt war bei ihr aufgetaucht, hatte sie über ihre Rechte aufgeklärt und dass er sie jetzt bei dem weiteren Verfahren begleiten würde und dass es ja ganz schlecht für sie aussähe.
Und Julia mauerte weiter und rückte mit nichts raus. Wollte nur ihren Bruder sprechen, was natürlich nicht möglich war, und verfluchte den Tag, an dem sie ans Telefon gegangen war, damals. Und die Liebe zu ihrer Mutter Dorothea, die sie gleichzeitig hasste, die verfluchte sie auch und Stefan, den auch. Ohne die beiden wäre das alles nicht passiert. Sie alleine hätte ja gar nicht … niemals und wieso auch. Dorothea mit ihrer abgöttischen Liebe zu Stefan und irgendwie ahnte die, sie würde nicht mehr lange leben, und der Junge sollte doch versorgt sein. Meine Güte, hatte Julia oft geflucht, aber nein, Stefan, Stefan, Stefan.
Sie hätte auch Nein sagen können. Julia hypnotisierte weiter die Zellentür. Sie hätte auch wirklich Nein sagen können. Aber es hätte ja auch gut gehen können.
Und im Grunde, hatte man nicht all diesen alleinstehenden Frauen einen Gefallen getan? Dieses Töten war so leicht gewesen, also war es wohl das Richtige. Und ein bisschen Geld konnte sie ja wirklich auch selbst gebrauchen. Ein Leben ohne Liebe, das war doch … für einen kurzen Moment registrierte Julia, dass sie auch alleinstehend war. Hätte sie sich eine Gitarrensaite um den Hals gewünscht? Warum nicht? Und dann dachte sie an Kornmaier. Der merkwürdige Moment eines Geborgenheitsgefühls mit ihm, flüchtig und vorbei.
Abrupt stand Julia auf, hämmerte gegen die Zellentür und schrie nach einer Haarbürste.
Otto hatte am Pool gewartet, hatte auf dem Liegestuhl gesessen und in das Knallblau des Wassers geblinzelt. Den Theo, den hatte es ja doch umgeworfen. Theo am Poolgrund, das war schon etwas, ja was war das gewesen, erschreckend war das gewesen. Theo im Ausnahmezustand und sein Gesicht, nachdem er aus dem Wasser gestiegen war, so kannte Otto ihn nicht. Theo, das war der Fels in der Brandung, stabil und nicht umzuhauen. Und jetzt das.
Otto hörte Schritte, Kornmaier tauchte auf, kam näher, blieb vor ihm stehen.
»Otto, jetzt reicht es, jetzt will ich’s wissen.«
Otto blickte hoch, Theos Anzug war schon fast trocken, so lange hatte der da am Wegesrand verbracht.
»Alles, Theo?«
»Alles.«
»Und wie?«
»Ich besuche die Dame im Knast.«
Das nun fand Otto komplett daneben, würde aber erst mal nichts sagen.
»Wenn du meinst? Wir gehen jetzt ins Städtchen, ich brauche einen neuen Hut.« Otto klappte sich auseinander und schüttelte die Beine aus. »Ich fahre aber.«
Der gleiche Mann, der noch gestern die Schultern gehoben hatte und einer Frau mit Krücken vom Boden hochgeholfen hatte, dieser gleiche Mann machte wenig später den Fund. Das Fenster im Hochparterre hatte nun eine Nacht und einen Tag offen gestanden. Das war ungewöhnlich, das war merkwürdig und so hatte er sich einen Hocker geholt, war auf den Hocker gestiegen und hatte in die Wohnung geguckt. Und da konnte er was sehen. Auf der anderen Seite des Flurs stand eine Zimmertür offen und da konnte man auf ein Bettende gucken. Es waren ein paar Beine zu sehen, so halb bedeckt mit einer Decke. Nachdem diese Beine sich bis zum Nachmittag so gar nicht bewegt hatten, den ganzen Tag über also und überhaupt alles suspekt war und er keine Lust auf Leichengestank hatte, da hatte er die Polizei gerufen.
Und wirklich, wie schlafend hatte die Tote auf dem Bett gelegen, umhüllt von fadenscheinigen Rosen und hätten alle gewusst, was da so passiert war, dann hätte man das anrührend finden können, dass nun diese Schwestern zumindest zeitversetzt auf dem gleichen Bett gelegen hatten. Eine späte Begegnung in Geborgenheit, der sie zu Lebzeiten immer entsagt hatten, und so hatte leider nur die schwesterliche Rosendecke Gudrun umarmt.
Das Schicksal hatte da mit der Wiedergutmachung sehr schlampig gearbeitet, aber immerhin.
Dann hatte Julia doch ausgepackt, vor allem, weil neben dem Polizisten verlockend eine Haarbürste gelegen hatte. Die würde sie am Schluss bekommen. So fuhren ihre Finger unablässig durch ihre Haare und drehten und wickelten eine Strähne um den Zeigefinger. Ab und an warf sie den Kopf nach hinten, ließ die Haare über den Rücken schwingen und dachte an die kleinen weichen und zugleich stabilen Borsten, die ihre Kopfhaut bald liebkosen würden.
Und auch hier, in diesem schmucklosen Verhörraum, saß ein fortgebildeter Beamter, der freundlich nickte und Julia ermunterte, verständnisvoll, mitfühlend, einem gütigen Beichtvater nicht unähnlich.
Sie hatte ja gar nicht mitmachen wollen, aber dann hatten ihr die Frauen doch leidgetan und da habe sie mitgeholfen, weil ihr Bruder sei zu blöd für so was, der habe das mit dem Erdrosseln ziemlich ungeschickt gemacht. Also, damit es schneller ging, habe sie mitgeholfen. Reiche Frauen waren das, aber alle alleinstehend und ohne Kinder, denn Kindern die Mutter nehmen, das ging ja nun gar nicht. Und dann habe sie die Ausweise genommen und sich verwandelt in diese Frauen, so mit Perücken und so, und dann konnte sie das Geld abheben, mal mehr, mal weniger. Ihr Bruder habe dann das Geld gehortet, irgendwo unter der Finca, wo der Herr Kornmaier gewohnt habe. Und einmal habe ihr Bruder das Versteck vergessen, da haben sie schon Angst bekommen. Der kleine Bruder eben, ein ewiger Tölpel, bei dem Wort hatte Julia lachen müssen und musste das Wort ein paarmal wiederholen, ein Tölpel also. Der Beamte hatte währenddessen ein bisschen die Augen zusammengekniffen, aber das hatte Julia gar nicht bemerkt.
Und der Kornmaier, der habe sehr gestört, da hatten sie immer Angst, dass der was hört aus der Zisterne, wie der Stefan da das Geld sucht und womöglich was mitkriegt. Und wie sollten sie denn da die Leichen vergraben, wenn der da war, das war doch der beste Ort da. Die Erde schön weich, und nicht so weit weg von der Stadt und keiner, der aufs Feld gucken konnte.
Und da habe sie ihm gleich beim ersten Treffen K. o.-Tropfen in den Wein gekippt, leider habe er den nicht ganz ausgetrunken, aber Autofahren konnte er nicht mehr und Stefan habe alle Zeit der Welt für die, nun, die Bestattung gehabt. Und wieder lachte und kicherte es aus Julia, und während die Mundwinkel des Beamten konstant nach oben wiesen, gingen die Augenbrauen ein bisschen nach unten. Also der Leiter des Fortbildungslehrgangs wäre nicht ganz zufrieden gewesen mit seinem Schützling.
Und mit einem Mal hatte Julia sich nach vorn über den Tisch geworfen, blitzschnell nach der Bürste gegriffen und sie mit Kinderschnute an die Brust gedrückt.
»Die behalte ich jetzt aber!«
Und der Beamte hatte die Augen länger als notwendig geschlossen und ein »ja« genickt.
»Da hat man es Ihnen ja recht schwer gemacht, das war bestimmt nicht einfach für Sie.« Der Beamte sehnte sich nach einer Tasse Kaffee, aber in dieser brisanten Phase lieber keine Irritation welcher Art auch immer.
»Ja, besonders dieser Theo, der war …«, Julia brach ab, hörte auf zu bürsten, besah sich die Bürste und entfernte einige Haare, hielt sie sinnend in die Luft und öffnete dann die Finger, verfolgte den Sinkflug der Haare bis zum Linoleumboden hinab und blickte dann den Beamten an, »der war sehr lästig. Sehr, sehr lästig. Aber ein schöner Mann, im Grunde, also nicht schön, das kann man nicht sagen, anziehend, das wohl eher. Anziehend und lästig war er. Im Weg war der, die ganze Zeit. Den wollte ich ja in mein Apartment locken, damit der Stefan in der Zisterne mal in Ruhe Krach machen und suchen konnte, aber dazu musste ich ja erst mal an den Herrn rankommen. Musste ich also da immer rausfahren zu dem und der, einfach nicht ranzukommen an den.«
Julia verstummte und bürstete.
Dann flüsterte es aus ihr: »Einfach nicht ranzukommen war an den.«
Für einen Moment unterbrach Julia die Bürsterei und saß still da.
»Ich möchte jetzt nach Hause.«
»Und hat Ihr Bruder das Geld gefunden?«
»Ja, hat er.«
»Und wo ist das Geld jetzt?«
»Es ist weg.«
»Geld, das gibt einem ja Sicherheit.«
»Nein, nein, es ist weg.«
»Sie müssen mir auch nicht sagen, wo es ist.«
»Verdammt noch mal, es ist weg!« Julia schlug mit der Haarbürste auf die Tischkante. »Und nach Hause will ich jetzt auch!«
»Eine Sache noch, wieso haben Sie den Herrn Kornmaier auf Ihre Bekannte Katrin aufmerksam gemacht? Die hatten doch gerade Ihre Mutter und Ihr Bruder und Sie, nun, erlöst?«
»Das ist ja wohl klar.«
»Weil …«
»Na, Stefan hat doch behauptet, er lernt die Frauen in Palma kennen, und nicht übers Internet«, Julia guckte den Beamten lauernd an, ob der wirklich so begriffsstutzig war? »Da dachte ich natürlich, das wird wohl ein anderer sein, der da tätig ist. Logisch, oder?«
»Tätig ist.« Der Beamte schloss wieder länger als notwendig seine Augen und seufzte vollkommen logisch.
»Wir machen mal eine Pause.«
Die Menschheit war verrückt, das war doch mal wieder ein schönes Beispiel. Der Beamte stellte sich vor den Toilettenspiegel und versuchte die freundlichen Mundwinkel wieder in Ruheposition zu bringen. Augen auf bei der Berufswahl. Vier Morde begehen und dann nach Hause wollen. Das Geld würden sie schon noch finden.
Keine Ahnung hatte der Beamte, dass das nur sehr eingeschränkt würde stattfinden können.
»Das willst du nicht wirklich.«
»Doch.«
»Warum?«
»Klarheiten«, Kornmaier fuhr sich über die Stirn, »ich will Klarheiten.«
»Das wird dir nicht guttun, Theo.«
»Doch, wird es.«
»Stur wie drei Maultiere.«
»Wenn du meinst.«
Otto sah seinen Freund an, es war sinnlos, Theo von dieser Idee abbringen zu wollen, also seufzte Otto, klopfte Theo auf die Schulter und nickte ihm zu. »Na, denn mal los.«
Kornmaier hatte eine kleine Liste gemacht, er würde sowieso alles erfahren, aber ein paar Sachen, die würde keiner fragen, das würde nur ihn interessieren und für seinen Seelenfrieden wollte er das einfach wissen.
Im grau getünchten Besuchsraum saß Julia an einem Tisch und wickelte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Endlich würde ihr Bruder zu Besuch kommen.
»Besuch für Sie.«
Die Zellentür war geöffnet worden und eine schlecht gelaunte Frau hatte mit dem Schlüsselbund geklappert und ihr den Weg gewiesen.
Besuch für Sie.
Bald würde sie nach Deutschland fliegen dürfen, ihr altes Leben in der Kleinstadt wieder aufnehmen, Mittwochs Chorprobe, Sonntags Lobpreisung im Gottesdienst, hübsch im Halbkreis, neben dem Altar. Katrin fiel ihr ein, das war ein Fehler gewesen, ein Fehler von Stefan. Die hatte doch nichts, die war doch gar nicht infrage gekommen. Mit Dorothea hatte er das ohne ihr Wissen durchgezogen und sie hatte ahnungslos den Theo damit belämmert.
Nun saß sie hier in diesem schmucklosen Raum, in dem hinter der Heizung schon ein wenig die Farbe abblätterte.
Die mit dem Schlüsselbund hatte neben der Tür Stellung bezogen und dann das: Theo stand in der Tür.
Kornmaier stand da und sagte nichts.
Stand in der Tür und wäre am liebsten wieder umgedreht.
Da saß sie, die Julia. Ganz in Schwarz, Räuberkluft. Hatte aufgehört, ihre Haare um einen Finger zu zwirbeln und guckte. Wie guckte sie denn? Kornmaier schaute auf den Boden. War das noch wichtig?
Nur ein paar Fragen wollte er beantwortet haben. Dann würde er wieder gehen. Ohne sich umzudrehen.
»Theo.« Julia hatte sich zurückgelehnt und guckte ein bisschen im Raum herum.
Kornmaier war in das Besuchszimmer getreten, nahm sich einen Stuhl, drehte ihn mit der Lehne nach vorne und setzte sich. Die Lehne als Schutzwall.
»Julia.« Schweigen. Abwarten. Kommen lassen.
Hinter Kornmaier klingelte leise der Schlüsselbund der Beamtin, die von einem auf den anderen Fuß gewechselt hatte. Schweigen.
»Tja.« Jetzt musterte Kornmaier Julias Gesicht. Da waren sie noch, die Sommersprossen, die kleine Narbe, die grünen Augen, alles noch da und doch alles anders.
»Du wolltest meinen Freund töten.« Hatte er gar nicht sagen wollen, gleich würde sie im Schneckenhaus des Trotzes verschwinden.
»Welchen Freund?«
Kornmaier betrachtete Julia, wie die ihre Haarsträhne betrachtete. Echt jetzt? Frau Sollenhauer hätte gewusst, was das jetzt hier war. Irgendwas mit Dissoziation oder so.
Am liebsten hätte er was getan, was man nicht tat. Einer Frau eine reinhauen: streng verboten! Kornmaier stand auf, drehte sich um und lief bis zur Wand, hier mal mit der Stirn gegen die Wand schlagen, war auch verlockend. In den Hosentaschen ballte er die Fäuste und zählte bis zehn. Blaugraue Wandfarbe, schlampig gestrichen, drunter konnte man noch ein Grün erahnen.
Julia belauerte ihn, vergaß darüber ihre Haare, begann ein bisschen mit dem Stuhl zu kippeln.
Kornmaier drehte sich um, er musste die Strategie wechseln.
»Und? Wie ist es hier so? Das Essen? Okay?«
»Furchtbares Essen.«
»Das ist ja betrüblich, ganz und gar betrüblich.«
Schweigen.
»Ich könnte ja was für dich tun.« Kornmaier lehnte immer noch mit dem Rücken an der Wand.
»Ah ja?«
»Gibt so zwei, drei Sachen, die ich verstehen müsste, da kommt keiner drauf, die zu fragen, aber die könnten dich entlasten.«
»Entlasten?«
Kornmaier stieß sich von der Wand ab.
»Ja.« Er merkte, dass es da eigentlich gut war, er wollte gar nicht näher an Julia heran, also ließ er sich zurücksinken an diese trostvoll blaugraue Wand.
»Ich muss ja eh nicht mehr lange hier sein.« Julia hatte aufgehört zu kippeln und begann wieder mit der Haarwickelei.
»Jeder Tag, den du früher rauskannst, ist doch gut? Und, Julia, ich bin ja Anwalt, ich habe da einen gewissen Einfluss.« Mit aller Macht dachte Kornmaier an sein Dackelgesicht, das ihm schon immer geholfen hatte.
Dackel, ich bin ein Dackel, ganz im Hier und Jetzt.
»Na gut, was möchtest du denn wissen?«
»Das ist für den strategisch-empathischen Verteidigungsansatz von größter Bedeutung, verstehst du das?«
»Wieso denn verteidigen?«
Meine Güte, er hatte es immer noch nicht kapiert.
»Natürlich, ist bei dir ja gar nicht nötig.« Kornmaier schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »So, lass mal sehen, wie kommst du schneller raus.« Kornmaier warf einen kurzen Blick auf Julia.
Die saß da und lauerte vor sich hin, mit schmalen Augen und einem unangenehmen Gefühl der Desorientiertheit.
»Erstens: Julia, warum hast du bei unserem, unserem …«, Kornmaier fehlten die Worte, »unserem Treffen, bei dem Angelika gestört hat, wieso bist du da weg, ohne mir was zu sagen?«
»Na, typisch Mann, immer so empfindlich.« Julia besah sich ihre Fingernägel und begann an einem der mickrigen Nägel zu kauen.
Kornmaier schwieg.
»Meine Güte!«, Julia guckte genervt.
Kornmaier wartete.
»Weil der dumme, dumme, dumme Stefan im Restaurant nebenan saß. Am Laptop. Der sollte doch nicht mehr online suchen!«
»Das verstehe ich natürlich.«
»Da hab ich ihn erst mal rundmachen müssen. Das war kein guter Abend. Ein Scheiß-Abend war das!«
Aber nur, weil Julia an dem Abend verschleppt worden war – eine immense Kränkung. Und weil eine Zweisamkeit in ihrem Haus mit Kornmaier mal wieder unmöglich gemacht worden war, dabei hätte doch Stefan endlich mal richtig suchen können in der Zisterne. Aber, und das war das Gute, Julia hatte ihren Bruder mal wieder anschreien dürfen, aus vollem Herzen, das war direkt eine Freude gewesen.
»Noch fünf Minuten.« Die Beamtin klapperte mit dem Schlüsselbund.
»Noch eine Frage: Wieso hat dir dein Bruder nicht geholfen, als dich der Typ mit der Knarre bedroht hat?«
Und jetzt sah Julia auf, hörte auf mit Kauen und Wickeln, schaute Kornmaier voll ins Gesicht.
»Weil Stefan keiner Fliege was zuleide tun kann. Und ein erbärmlicher Angsthase ist, der war eigentlich nicht einsetzbar, ein Versager, der Spiderman, der doofe. Ein Memmerich, komplett!«
»Aber ich dachte …«
»Ach Quatsch, nur Doro und ich, na ja, bis auf das eine Mal. Eine Memme, mein Bruder, ein Versager, ein jämmerlicher Waschlappen.« Julia war aufgestanden, begann auf und ab zu tigern.
»Hinsetzen!« Die Beamtin war wach geworden.
»Eine Nullnummer, ein Volldepp, ein Doppelwaschlappen, Spiderman, ha!«
Und schon hatte die Beamtin sich Julia geschnappt, Handschellen angelegt und verschwand mit der Lamentierenden in einem Labyrinth von Gängen, Schleusen und Zellen.
Kornmaier war im Besuchsraum geblieben, stand da und lauschte auf Julias Verwünschungen, dann klappte eine Tür und es wurde still.
Bei Lichte betrachtet war er in Julias Augen wahrscheinlich ein Doppel-Voll-Schaf.
Otto saß am Pool und reckte den Kopf, als Kornmaier auftauchte.
Wie guckte der jetzt? Vernichtet?
Irritiert guckte der. So nach innen gekehrt irritiert.
Jetzt merkte Kornmaier auf und sah Otto am Pool sitzen und auf einen Bericht warten.
Erst mal auf die Liege neben Otto setzen und die Gedanken sammeln, was gab es da zu berichten?
»Otto, das Schlimmste ist ja«, Kornmaier nahm ein Steinchen von den Steinplatten und warf es in den Pool, würde er nachher wieder rausfischen müssen, »das Schlimmste ist ja: Ich habe es nicht gerafft. Also, alles.«
»Ja, du warst eben benebelt.«
»Benebelt, ja, so könnte man sagen.«
»Und wer benebelt ist, der kann eben nicht, wie auch.«
Kornmaier nickte und warf noch ein Steinchen in den Pool.
»Mit den Frauen, das ist doch wirklich …«
»Meine Rede, Theo. Meine Rede.«
»Sie hat so getan, als würde sie sich an nichts erinnern.«
»Ui. Glaubst du das?«
»Weißt du, Otto, es ändert nicht wirklich etwas. Ich muss damit klarkommen, ein Satz von der da kann mich nicht retten.« Klang nach einem Spruch von Frau Sollenhauer, er war doch wirklich ein braver Patient.
Weil, so tief drinnen, konnte er das noch nicht glauben. Gerne wäre er irgendwie gerettet worden, aber nein, nicht mal das war ihm vergönnt.
»Rettung und Untergang liegen in uns selbst, Otto.«
»Hast du schon mal gesagt, Theo.«
»Weil’s stimmt.«
»Kommen wir zu den wirklich wichtigen Dingen. Wie findest du meinen neuen Strohhut?«
»Du siehst damit aus wie ein Schnösel bei einer Ruderregatta in Oxford.«
Otto grinste und klopfte Theo sachte auf die Schulter.
»Ich seh schon, Theo, es geht dir langsam besser.«
Ein Totengräberchen kämpft sich über einen leeren Acker und möchte sich beschweren.
Ein Mann mit dem Hang zu teuren Autos ordnet seine Uhren.
In einer Gefängniszelle sitzt eine Frau und kämmt sich die Haare, sie denkt darüber nach, sich ein neues Kleid zu kaufen.
In einer anderen Gefängniszelle sitzt ein altes Kind und führt eine Schlacht zwischen einem Teller und einer Tasse, die Tasse gewinnt.
Ziegen leisten einer toten Frau Gesellschaft, die nie gefunden werden wird.
In einer Galerie klappt eine Frau einen Bilderrahmen auf und zieht ein paar Gefrierbeutel hervor.
Ein Kellner blickt über einen Platz und würde nie verraten, ob ihm der Club gehört, oder vielleicht noch ein paar andere Restaurants auf der Insel, nie!
Einige Frauen bemerken, dass der Kauf eines Bastprodukts ihre Ehe nicht verändert hat.
Einige Männer merken, dass der Kauf eines Bastprodukts nur kurzfristig die Laune der Gattin heben konnte.
In einer Speisekammer liegt eine Pistole, die wie echt aussieht, sie ist hinter ein Brett gerutscht. Eines Tages wird sie von einem Kind gefunden werden. Man darf froh sein, wenn nichts Schlimmes damit passiert.
In einer einsam liegenden Finca gibt es recht viele hübsch ausstaffierte Kinderstuben. Ratten und Wiesel haben sie liebevoll mit feinsten Geldscheinen ausgepolstert.
Und: Eine Katze ist zufrieden.
Mehr kann man nicht verlangen.