DER ERSTE TAG

Kornmaier war mit den Gedanken woanders.

Immer dann, wenn er sich langweilte, also z. B. unter Leuten, da langweilte er sich schnell mal, immer dann war er mit den Gedanken woanders. Und so dachte er gerade an die Ratte, die musste aus seinem Haus raus. Hatte auf dem Esstisch gesessen und Obst geklaut und nur verschlagen geguckt, als er auftauchte. Wirklich mal. Wo war die Katze?

Er hatte einen breiten Streifen Mehl vor die Terrassentüren gestäubt zur Spurenkontrolle. Auf kleine Rattenspuren hatte er gehofft, die aus dem Haus herausführen würden, aber: nichts …

»Das Bild hat ein herrliches Blau, was meinen Sie?«

Eine Frau war neben Theophil Kornmaier aufgetaucht, hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen, wollte mit ihm über das Bild reden, vor dem er stand. Oder schlimmer noch: wollte ihn kennenlernen. Das passierte ihm ja öfter mal, dass er angesprochen wurde, es musste einen Grund geben, irgendeinen, aber wollte er den wissen?

Nicht wirklich. Missgünstige hätten es ihm als Arroganz auslegen können. Doch tatsächlich interessierte es ihn einfach nicht.

Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und deutete mit seinem Weinglas auf das Bild:

»Diese Transzendenz des Absoluten erinnert mich an einen Satz Hegels: Nur das Seiende ist.« Dann schielte er ein bisschen nach rechts. Mal gucken, was kam.

Da stand so eine. Eine, mit der er auf keinen Fall reden wollte. Eine, die auf Vernissagen ging, um Männer in ihr Leben zu zerren. Eine, die sich langweilte, oder der das Geld ausgegangen war, oder beides. Eine der deutschen Auswanderinnen auf Mallorca.

Und immer hoffte er auf die Frau, die antworten würde: »Aber der Satz stammt doch von Heidegger.« Und er fürchtete sich davor. Was wusste er schon von Philosophie.

Er hatte die Trauben so hoch gehängt, dass er nie die Richtige finden würde und wenn dann doch die Heidegger-Kennerin auftauchen würde, wäre es auch wieder nicht recht. Und so suchte er mit sechsundvierzig Jahren immer noch nach diesem Phantom.

Was, zum Teufel, stimmte nicht mit ihm?

Er schaute auf die langen Fingernägel der Frau neben ihm, die ihr leeres Weinglas umkrallte, als wollte sie es gleich zermalmen, Glasstaub würde zurückbleiben, sonst nichts. Orange waren diese Krallen und mit türkisfarbenen Steinchen beklebt. Noch schwieg sie. Würde er jetzt kommen, der magische Satz? Wären ihm die Fingernägel dann egal?

»Oh, ich sehe dort hinten einen Freund, entschuldigen Sie mich bitte.« Weg war sie.

Nur Angelikas wegen stand er hier herum, in Pollença, in ihrer Galerie zwischen dem Plaça Mayor und dem Kalvarienberg. War einfach zu höflich gewesen, um Nein zu sagen, eine unausrottbare Angewohnheit, ein genetischer Defekt, irgendwas in der Art. Gelegentlich bäumte er sich mit Erfolg auf. Trotz oder Dank seiner Therapie bei Frau Sollenhauer, das galt es zu würdigen. Weniger Höflichkeiten, mein lieber Theo, einfach mal ausprobieren.

Auf dem Pollençer Wochenmarkt hatten sie sich getroffen, nein, Angelika hatte ihn getroffen, hatte ihn erkannt, obwohl bald achtundzwanzig Jahre vergangen waren seit der gemeinsamen Schulzeit.

Und jetzt stand er in diesem sonst stillen Sträßchen, stand ein wenig abseits, trank kühlen Weißwein, den Angelika spendierte, besah sich die Vernissage-Besucher, und registrierte mal wieder, dass nur wenige sich die Bilder ansahen, man traf sich, um in Kontakt zu bleiben, das Setting war nicht so wichtig.

Je mehr Alkohol floss, desto öfter wurde ein Bild verkauft. Ach, Micha, das Rot passt so schön über unser neues Sofa. Das reichte, die Preise mussten exorbitant sein, Angelika lebte auf großem Fuß.

Die Abenddämmerung hatte sich über das Städtchen gesenkt, es war Anfang Oktober und noch immer strahlten die Steine die Wärme des Tages ab, der Wein und das Murmeln der Menschen stimmten Kornmaier milde, ließen ihn großzügig auf Männer in kurzen Hosen und Frauen mit langen Fingernägeln blicken und für einen Moment legte er den Kopf in den Nacken und bewunderte den Anblick des Vollmondes, der stetig und kugelrund über den Hausdächern aufstieg.

Friedvoll war es und Kornmaier wünschte sich, dass dieses Gefühl der Milde bleiben möge, eine Art von Versöhnung mit der Welt.

Angelika hatte sich neben ihn gestellt und blickte abwechselnd auf den Mann, den sie immer noch nicht durchschaute und auf die honigfarbene Himmelsscheibe.

»Es sind bestimmt deine Unterarme, Theo.«

»Wie?«

»Ach, nichts.« Auch sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt. »Und, hast du wieder deinen Hegel-Satz angebracht?«

»Heidegger, Angelika, Heidegger.«

»Weiß ich doch inzwischen, nett ist das nicht, sag ich dir mal.« Und wieder sah sie Kornmaier an, taxierte ihn, einen Mann in Leinenhose und einem sandfarbenen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, so, als müsste er nun ein wenig Holz hacken gehen und fragte sich, was seine Anziehung ausmachte.

»Ach, Angelika, sei friedlich. Schau, wie schön der Mond …«

»Jaja, schön. Ich geh jetzt mal ein Bild verkaufen.«

Hätte Kornmaier die Ohren eines Luchses gehabt, hätte er ihn gehört, den Todeskampf einer Frau, die für die große Liebe nach Mallorca geflogen war.

Nur zweihundert Meter entfernt schlug diese Frau um sich, verstand nichts und begriff doch, dass das hier existenziell war. Der Seidenschal um ihren Hals wurde enger und enger gezogen und ihr letzter Gedanke war: Mama, hilf mir.

Mama war ihr schon lange vorausgegangen, und während ihr Körper langsam kalt wurde, trank die große Liebe zwei Schnäpse.

Dann öffnete der tödliche Irrtum ihren Koffer.

Kramte ein wenig herum und hielt schließlich ein paar Hausschuhe in die Luft, die wie dicke Hummeln aussahen, darüber würde sich vielleicht die Mutter freuen.

Der Rest war diesmal ein Reinfall. Abhaken, abreisen, und zwar umgehend.

Von alledem ahnte Kornmaier nichts, Grillen zirpten das Lied des Südens, der Mond stieg höher, wurde heller und strahlender, flutete die Nacht mit seinem Licht, eine Katze strich an seinen Beinen vorbei und verschwand in einem Hauseingang.

Kornmaiers Welt lag in friedvollem Glanz.

Noch.

Der Asphalt unter Kornmaiers Füßen war warm und angenehm.

Nicht ganz freiwillig durfte er diese Erfahrung machen, er hatte einfach vergessen, wo er geparkt hatte, möglicherweise hatte das mit Angelikas Wein zu tun. Ganz vielleicht. Schwankte er? Höchstens ein bisschen.

Das würde eine lange Wanderung zu seiner Finca geben, aber das kümmerte ihn nicht. Drei Kilometer. Gerade erst hatte er die Alpen überquert, da würde das jetzt ein Witz sein.

Wo die wohl abgeblieben waren, die Schuhe?

Hin und wieder musste er die Arme heben, dann, wenn es über spitze Steinchen ging, so, als könnte er sich auf diese Weise leichter machen.

Der Mond stand jetzt weiter im Süden und malte dicke schwarze Schatten auf das Sträßchen. Ab und an wurde die Luft süß und schwer vom Duft eines Affenbrotbaums, Grillen zirpten immer noch unermüdlich und mal nah, mal fern klingelte eines der Glöckchen, die hier die Schafe um den Hals trugen.

Ansonsten herrschte Stille.

Es zog sich, vielleicht auch, weil Kornmaier ein wenig in Schlangenlinien lief und weil er öfter mal stehen bleiben musste, um die Affenbrotbaumluft zu würdigen oder das Flutlicht zu bewundern, dass da großzügig vom Himmel strahlte und die Schafe weiß, wie kleine Geister, leuchten ließ.

Und dann war er am richtigen Abzweig vorbeigewankt, blieb stehen und mit einem mann, mann, mann drehte er um, mäanderte zurück, bog nach links ab, rein in den Cami de Can Musquaroles, fühlte eine Müdigkeit in sich, der er folgen wollte, eigentlich gleich, war doch schön hier, eine wunderherrliche Nacht und da lagen doch ein paar Säcke für die Olivenernte, ganz und gar gemütlich. Und so legte sich Kornmaier ganz zufrieden nach zwei Stunden Fußweg auf ein Feld in den Schatten eines Baumes, wurde selbst Teil des Schattens und fiel in einen merkwürdigen Schlaf mit merkwürdigen Träumen.

Er träumte vom zischenden Geräusch eines Spatens, der in die Erde gestoßen wurde, immer wieder, und von einem sehr großen Rollmops, der in dieser Erde versenkt wurde. Und er träumte, dass ein Leuchtturm Zeichen sendete, wobei es sich viel später herausstellen würde, dass es wohl nur das Metall des Spatens im Mondlicht gewesen war, das Morsezeichen sendend, immer wieder aufleuchtete.

Und immer noch hatte Theophil Kornmaier keine Ahnung, dass es nun vorbei war mit den wohlig-ereignisarmen Ferien.