DER ZWEITE TAG

»Was hast du denn da wieder veranstaltet.« Das würde seine Mutter wohl sagen, wenn sie es wüsste.

DeinFels saß wieder auf dem heimatlichen Dachboden, das lächerlich wenige Geld hatte er in einem Loch hinter der Tapete versteckt.

Vor langer Zeit schon hatte er diese Tapete abgefriemelt, darunter den Putz weggekratzt, einen Ziegelstein entfernt, das alles war mühsam gewesen. Am Anfang hatte er dort kleine Ritterfiguren versteckt, später waren es Heftchen mit nackten Frauen gewesen und jetzt, jetzt war es Geld. Vor seiner Mutter war sonst nichts sicher.

»Vor deiner Mutter ist ja nichts sicher«, das hatte Kevin mal zu ihm gesagt, damals, als er schon keinen Besuch mehr bekommen durfte.

Er hatte beschlossen, dass er ein eigenes Haus brauchte. Ein schönes Haus mit einem hohen Zaun und einer großen Garage für ein großes Auto. Und das war teuer. Ganz einfach.

Seine Mutter durfte nichts davon erfahren. Weder von seiner Geldquelle, noch von dem, was der gute Junge auf Mallorca so veranstaltete. Und erst recht nicht, und das auf keinen Fall, dass er ausziehen wollte.

Das wäre dann eine … ihm fiel kein Wort dafür ein, Überraschung?

Kurz tauchte vor seinen Augen ein Bild auf, wie er seiner Mutter einen Seidenschal um den Hals legte, ein Geschenk für dich, schön, nich? und aus Versehen ein bisschen zu fest daran zog.

Vielleicht aus reiner Gewohnheit.

Vielleicht auch nicht.

Julia kämmte ihre Haare.

Lang, braun und am Ende mit einem kleinen Schwung nach innen. Stetig und langsam zog die Bürste ihre Bahn. Am Scheitel ansetzen, dann langsam runterziehen. Als Kind hatte sie Locken gehabt, das war nun der kümmerliche Rest. Als Kind hatte sie auch an den Weihnachtsmann geglaubt. Hatte keine Ahnung gehabt, wie sich die Welt noch so entwickeln würde.

Hier nur sitzen und die Haare kämmen, das reichte doch eigentlich.

Julia richtete sich auf. Irgendwann mal, da würde das reichen. Jetzt lag ja noch ein halbes Leben vor ihr.

Sein Bein wurde auf eine heiße Herdplatte gedrückt und er konnte nichts dagegen tun, war der Hitze ausgeliefert, wollte weg, er begann zwischen den Welten zu wandern, der des Traums und der des Wachseins. Versuchte sich zu orientieren.

Wo war er?

Für eine kleine Sekunde hatte Kornmaier das Gefühl, sein Gedächtnis verloren zu haben. Auf einem Sack lag er, vor seiner Nase rote Erde, und immer noch diese unangenehme Wärme am Bein. Vielleicht war er angeschossen worden, und während er hier untätig herumlag, floss in aller Seelenruhe und unwiederbringlich das Blut aus seinem Körper.

Langsam richtete er sich auf, langsam begann sein Verstand wieder zu arbeiten.

In was für ein Besäufnis war er denn da hineingeraten. Genau auf dem Feld vor seinem Haus hatte er die Nacht verbracht. Vorsichtig zog er sein Bein weg, schüttelte den Kopf, ließ das gleich wieder, der Schmerz.

Nanita lag da. Hatte es offenbar sehr angenehm gefunden, da an seinem Bein, je wärmer, je lieber.

»Katze, du hast einen Knall.« Er streichelte sie ein wenig, stand, Körper und Geist prüfend, auf und ging nackten Fußes und behutsamen Schrittes, wieder die Arme zur Seite haltend, zur Finca.

Nur fünfzig Meter weiter lag das alte Bauernhaus am Fuße eines rundbuckligen Berges. Döste dort, von Dattelpalmen behütet, in der Morgensonne.

Nie wieder Alkohol. Und noch während er das dachte, sagte eine zweite innere Stimme: Ja, Theo, quatsch du mal.

Und kurz musste er an seine erlesene Whiskysammlung in München denken.

Im Haus stand noch dick wie Erbsensuppe die stickige Wärme des Vortages.

Nanita war ihm gefolgt, strich um seine Beine. Er öffnete Türen und Fenster, holte dann eine Packung Luxus-Katzenfutter, betrachtete einen Moment die schnurrende Katze, deren Kopf beim Fressen immer ein bisschen nach links kippte, nahm eine Dusche, zog die zweite seiner drei hellen Leinenhosen an, spaltete eine Wassermelone, lauschte auf das krachende Geräusch, das auf den perfekten Reifezustand schließen ließ und setzte sich, angeschlagen, in den Schatten vor die Haustür.

Die ganze Zeit und unendlich nervig geisterte da etwas in seinem Kopf herum, ließ sich nicht abstellen, zog ihn runter: der Traum.

Der riesige Rollmops, der in der Erde verschwand, aber, er war sich sicher, nicht von allein. Eine Gestalt war da, routiniert hatte die vor sich hin geschaufelt und dann waren da die Morsezeichen des Leuchtturms, oder nein, dieser Schaufel. SOS, vielleicht war es ein SOS-Signal und ihm wurde klar, er musste nachsehen, sonst würden diese absurden Gedanken ihm den ganzen Tag versauen.

Die Katze hatte sich wieder zu ihm gesellt, streckte sich neben ihm auf den Terrakottafliesen aus, war zufrieden und schlief ein.

Beneidenswert.

Von diesem Zustand war er gerade meilenweit entfernt.

Er blickte auf die Steineiche vor dem Haus, sah den gepflasterten Weg, sandsteinfarben, die alten Steinmauern, den Swimmingpool dahinter mit dem unvermeidlich poolblauen Wasser.

Es musste ein Traum gewesen sein, mehr nicht.

Und doch, es würde ihm keine Ruhe lassen. Er würde das Feld inspizieren müssen.

Kornmaier erhob sich. Wo waren eigentlich seine Schuhe? Wieder war der Kopf für einen Moment komplett leer.

Und wieder gab es ein mann, mann, mann. Kornmaier ging ins Haus und zog das zweite Paar seiner drei hellen Leinenschuhe an.

In diesen Sommerklamotten sah man in null Komma nichts aus, wie aus dem Müll gezogen. Ein weiterer Seufzer.

Panamahut aufsetzen und ab aufs Feld und nach etwas suchen, das es hoffentlich nicht gab.

Er war gekommen. Nein, er war immer noch da.

Oder eigentlich, wenn sie es genau nahm, war er wieder da.

Angelikas Zeigefinger fuhr mit kühler Sachlichkeit über eine Nasolabialfalte. Jetzt war’s genug, jetzt würde es eine Unterspritzung geben, Theophil Kornmaier war aufgetaucht.

Routiniert griff sie nach ihren Ketten, eine in Rosa, eine Türkisfarbene, eine, sie zögerte, ja, eine Rote.

Schon damals war er so merkwürdig gewesen, so spröde, immer gegen den Strom.

Angelika unterbrach ihren Fluss der Erinnerung, konnte kaum auseinanderhalten, ob das wohl tatsächlich so gewesen war oder ob alles nur eine Nostalgiewelle war, von der sie trostvoll getragen wurde. Wenn sie lächelte, war das gar nicht so schlimm mit den Falten, dann gehörten die ja dahin.

Aber da machte sie sich ein bisschen was vor. Gleich mal die Frau Sabowsky anrufen und fragen, wo die das immer machen ließ. Sie würde jetzt auch mal was machen lassen.

Kornmaier, ihr alter Jugendschwarm, war aufgetaucht, Kornmaier, das Rätsel.

Das Reh in spe hatte ein Profilbild eingestellt. Blonde Haare, dunkler Ansatz, irgendwie struppig. Sonnenbrille, an den Busen gepresst: ein kleiner Hund mit Spange im Haar.

DeinFels hieß jetzt MillionDollar.

Routiniert suchte er das Bild nach Hinweisen ab und wurde fündig. Ein richtig großer Klunker strahlte an ihrem Ringfinger, vielleicht unecht, vielleicht auch nicht. 42, kinderlos, 1,68. Hildesheim. Beruf: Immobilienmaklerin.

Wenn es stimmte. Er hatte schon mitgekriegt, dass die Weiber logen, dass es krachte. Jugendbilder, dann doch irgendwelche Blagen, doch nicht geschieden, ein Lügenpack, eine wie die andere.

»Stefan? Schatz?«, seine Mutter trat ins Zimmer, hatte sich wie immer lautlos angeschlichen, die blöde Hexe.

Aber er war im Vorteil. Sein breiter Rücken verdeckte zuverlässig den Bildschirm, einfach nur zum Computerspiel wechseln.

»Hilf der Mutti mal, ja?«

»Gleich.«

»Sofort. Sofort hilfst du der Mutti.« Manchmal wechselte ihr Tonfall so schnell wie in einem Horrorfilm. Das dachte er und wusste, es half ja nichts.

Aber lange würde das nicht mehr so gehen.

Das Telefon hatte geklingelt. Angelika.

Nein, er würde Nein sagen. Nicht noch eine Veranstaltung mit einem Haufen von Leuten, die über die lästerten, die das Pech hatten, gerade nicht dabei zu sein.

Während er den Hörer des altmodischen Apparats abhob, betrachtete er seine Schuhe. Eingesaut, was sonst. Roter Staub hatte seinen Schuhen eine rosafarbene Anmutung verliehen.

Es war ein Reinfall gewesen, nein, es war ja besser so. Er hatte nichts gefunden, die rote Erde des Feldes hatte unberührt dagelegen. Sein Traum war ein Albtraum gewesen, dem Suff geschuldet.

»Angelika, alles gut überstanden?« Ihm fiel seine Mehlfalle wieder ein, die Ratte war wahrscheinlich noch im Haus.

»Theo-Schatz«, Kornmaiers Gesicht zog sich zusammen, als habe er in eine Zitrone gebissen, »wärst du so lieb«, nein, er würde Nein sagen. »Du kennst dich doch aus.« Womit, womit kannte er sich aus? Damit, seine Kleidung jeden Tag einzusauen?

»Ja, womit kenn ich mich denn aus, Angelika?«

»Es ist ein Notfall.«

»Ein Notfall?« Kornmaier wanderte durch die Halle im Erdgeschoss von der aus eine gemauerte Treppe in den ersten Stock führte.

Er hielt den Apparat in der Linken, den Hörer in der rechten Hand, bloß nicht über die Strippe stürzen.

»Julia.«

»Julia?« Kornmaier hockte jetzt mal wieder vor seiner Mehllinie, zehn Zentimeter breit, in der er hoffte die winzigen Spuren von Rattenfüßen zu finden. Aus dem Haus raus. Aber immer noch nichts.

»Sie will dich treffen.«

»Wer zum Henker ist Julia?« Kornmaier war wieder aufgestanden, beguckte sich den kleinen Gecko, der wie von Zauberhand an der Wand klebte und ihn anschielte.

»Du hast gestern mit ihr, also, getrunken. Bitte sag ihr, dass du kein Interesse hast, mir glaubt sie nicht. Sag deinen Hegel-Satz und gut is.«

»Angelika, Heidegger. Und: wirklich nicht.«

Hatte er das mit dem nötigen Nachdruck gesagt?

Nachher kannte Julia, wer immer das auch war, doch den Heidegger?

»Danke, du bist ein Schatz. Ich hab ihr schon deine Telefonnummer …«

Kornmaier legte auf. Manche Leute kapierten es sonst nicht.

Aber der Satz hallte nach: Ich hab ihr schon deine Telefonnummer …

Ruhe, er wollte doch nur seine Ruhe haben, nun, er würde einfach das Telefon stummschalten.

Dr. Mabuse blickte gen Westen. Dahin, wo die Palmen im Wind raschelten, zwei Katzen auf den Steinmauern herumlagen und zwei winzige rosa Wolken am Abendhimmel standen.

Saß auf seiner Terrasse, trank ein wenig Rotwein und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum.

Entspannen, ja er entspannte sich ganz großartig, ganz wundervoll, diese Luft, diese Wärme, herrlich. Das würde er nachher noch auf Facebook mitteilen.

Eine kleine Weile blickte er durch sein Smartphone auf die Idylle, um den besten Winkel, die beste Perspektive hinzukriegen, den besten Filter zu aktivieren, verlor sich in der zweidimensionalen Welt, um sich dann zu ermahnen. Digitales Detoxen, das war doch angesagt.

Er ließ das Handy sinken und da stieg sie ganz an die Oberfläche seines Seins, diese Unruhe, das Warten, irgendetwas sollte passieren, sollte ihn glücklich machen, aus seinem Leben reißen, aber er war weit davon entfernt, irgendwohin gerissen zu werden.

Wieder hob er das Smartphone, machte ein paar Fotos, Weinglas vor Sonnenuntergang, und stand dann mit einem Ruck auf.

Warum tauchten sie hier auf, diese Erinnerungen, ätzend. Dr. Mabuse, würde er das nie loswerden? Immer kam das hoch, wenn er mal Ruhe hatte. Stieg auf, einer Wasserleiche gleich, von ihrem Betonklotz befreit, schwebend, treibend, Grauen verbreitend.

Ja, er hatte sich durchs Studium gemogelt, aber du meine Güte, das war doch eher kreativ gewesen, was sollte das Theater.

»Mitschke, wollten Sie jetzt hier wirklich mit Superkleber einen Kontaktpunkt zum Nachbarzahn hinpfuschen? Was?«

Ja, das hatte er gewollt.

Aber auf seltsame Art hatte ihn seine Kreativität einsam gemacht und so dachte er nur: Das ist alles nicht gerecht.

Und das stand ihm zu, Gerechtigkeit. Längst schon.

Hallöchen, meine schöne, wie geht es dir?

Die Schnepfe brauchte ein wenig Zeit. Stefan wartete, wurde unruhig, das mochte er gar nicht. Warten. Wahrscheinlich bekam der dämliche Hund gerad ein neues Jäckchen angezogen.

Hi, mir geht es gut und Dir?

Wenn ich dich sehe geht es mir super.

Wo wohnst Du denn?

Auf Mallorca und was macht so eine schöne Frau wie du hier?

Ach, in deinem Profil steht München?

Ja, da bin ich manchmal auch, du könntest doch alle männer haben! (Aufreißerfibel Seite 48)

Und was machst du dann auf Mallorca?

Blöde Kuh.

Ich muss nicht mehr arbeiten, ich lebe hier.

Ach, Du bist Frührentner?

Wie war denn die drauf!

mir geht es sehr gut hier, ich würde gern eine Frau an meiner Seite haben, die ich verwöhnen kann. (Aufreißerfibel Seite 29)

Also mit Sex ist bei mir erst mal nicht. Frühestens nach drei Monaten, wenn man sich mag.

Er konnte sich mit dem Gedanken an einen Seidenschal etwas beruhigen. Kein Wunder, dass die keinen abkriegte.

das hast du falsch verstanden, meine schöne, ich möchte mein haus und mein geld mit einer frau teilen. allein ist das nicht so toll.

Das hier artete mal wieder in Arbeit aus. Er sah sich genötigt noch ein: Ich bin gern sehr großzügig hinzuzusetzen. (Aufreißerfibel Seite 33).

Geld hab ich selber.

Jetzt Vorsicht, jetzt langsam, jetzt keinen Fehler machen. Die war schwierig, die Alte, aber vielleicht hatte sie wirklich Schotter.

das ist toll. viele frauen sind nur auf mein geld aus. (Aufreißerfibel Seite 54)

warum hast du diesen komischen nick?

Komischer Nick? Für einen Moment fiel ihm nicht ein, welchen er gerade verwendete.

ach, nur so. Wieso hat so eine schöne frau wie du keinen mann? (Aufreißerfibel Seite 12)

du bist doch fake, schönes Leben noch.

Und zack, hatte die Kuh sein Profil gesperrt.

Stefan stand auf und brüllte.

Aus dem Erdgeschoss kam ein: »Schatz, nicht schreien.«

Zur Antwort brüllte er ein »Ja!« und ihm war danach, die ganze Bude zu zerlegen. Er riss sein Geheimfach im Schrank auf und nahm einen Seidenschal heraus, schlang ihn um seine Hände und erwürgte mit einem teuflischen Grinsen erst die Schlampe mit der Töle und dann seine Mutter.

Dass seine Hände dabei erst ganz weiß und dann blau wurden, erfüllte ihn mit Genugtuung.

Er war mit den roséfarbenen Schuhen nach Pollença gelaufen. Man konnte ja auch mal Prinzipien über Bord werfen. Suboptimal gekleidet unter Leute, war ja auch mal eine Herausforderung.

Die Uhrzeit war schlecht gewählt. 14 Uhr. Mittagshitze. Kaum Schatten. Heute brauchte er nur fünfundvierzig Minuten, die Stadt lag ausgestorben, alles saß in den Häusern. Siesta.

Sein Wagen stand in der prallen Sonne und er öffnete erst mal alle Türen und wartete. Vor der Fahrertür standen ordentlich nebeneinander seine Schuhe, die er gestern auf seinem nächtlichen Heimweg vermisst hatte. Und wieder ein mann, mann, mann und für einen Moment fasste er sich an den Kopf und aus irgendeinem Grund fiel ihm Columbo ein.

Dann kaufte er zwei Wassermelonen, Katzenfutter und Waschpulver, kurvte nach Hause, parkte in der Garage und beschloss, den Nachmittag am Pool zu verbringen. Ein bisschen im Wasser rumliegen, der gelegentlich anspringenden Pool-Pumpe lauschen und sonst nichts tun. Herrlich.

Und dann, dann geschah das, was sich irgendwie schon angekündigt hatte, was gewissermaßen in der flirrenden Luft der Insel gelegen und ihn dazu auserkoren hatte, ihm den Urlaub zu vermurksen.

Kornmaier lag auf dem Rücken im Wasser, bewegte ein bisschen die Füße, ein bisschen die Hände, blickte nach oben in die unendliche Durchsichtigkeit des blauen Himmels, der sich dehnte und dehnte, roch den Duft des Affenbrotbaumes, der mit einer sanften Brise an ihm vorbeigetragen wurde, sah die Steinfassade der Finca, an der Bougainvilleas und Wein emporrankten und dann, dann hörte er in all der friedvollen Stille ein Geräusch.

Jemand öffnete das Gartentor und schloss es wieder.

Eisen schepperte auf Eisen.

Vielleicht der Gärtner? Der Pooljunge? Aber: um die Uhrzeit?

Kornmaier fixierte das Haus, den kleinen Weg rechts davon, gleich müsste dort jemand auftauchen.

Mal nachgucken, also zur Leiter hin, den Widerstand des Wassers durchpflügen, zum Weg blicken, ein wenig alarmiert sein und dann:

»Hallo?« Eine Frau.

Doch nicht etwa … eine kleine Wutwelle kam und ebbte ab.

Ruhig Theo, jemand will nach dem Weg fragen. Wahrscheinlich nur das.

Er hatte ein Handtuch um seine Hüften geschlungen und tappte, eine nasse Spur hinterlassend, am Haus vorbei.

Da stand eine. Kam ihm bekannt vor. Vage.

»Hallo Theo, tut mir leid, dass ich dich hier so überfalle.«

Wer, zum Teufel, war das?

»Wir haben uns ja gestern kennengelernt und du hast erzählt, dass du Rechtsanwalt bist und mir fällt hier sonst keiner ein.«

Kornmaier guckte und wartete auf ein Licht, das ihm aufging. Lange braune Haare, nettes Gesicht, Sommerkleid und, kurzer Check, keine Gelnägel. Julia?

Sie hatte wohl Kornmaiers fragendes Gesicht bemerkt.

»Angelika hat mir deine Adresse …« Julia verstummte.

»Ah ja, Angelika.« Kornmaier stand immer noch etwas belämmert da. Dass er diese Julia dermaßen vergessen hatte? Hatte er gestern von Wein zu Wodka gewechselt?

»Setz dich doch«, er wies auf die Terrasse vorm Haus, »ich zieh mir mal was an.«

Sie blickte ihm nach. Angelika hatte erzählt, dass er mal geboxt hatte, sah man noch.

Attraktiv, anziehend, interessant, durchaus.

Drei Glöckchen an roten Wollfäden verrieten den Besucher.

Klingelten zart, als die Tür geöffnet wurde und der Mann die Galerie betrat.

In Windeseile scannte Angelika den Kunden in spe.

Knielange Shorts, gebügelt. Poloshirt, gebügelt. Seglerschuhe, ohne Socken. Fette Uhr, Basecap mit BOSS-Logo. Könnte was werden.

»Buenas tardes. Echa un vistazo a tu alrededor.« Angelika hoffte auf einen Engländer oder Deutschen. Spanisch war jetzt nicht so ihrs.

»Duh juh spieck englisch?«

Ein Deutscher, Gott sei Dank.

»Ach, Sie kommen aus Deutschland, woher denn?«

Missgelaunt guckte der mit einem Mal so, als habe sie etwas Ungehöriges gesagt.

»Ach, auch Deutsche? Aus Lübeck bin ich.« Was nicht stimmte, das nur am Rande.

»Ach, Lübeck! Herrlich! Die Weihnachtsmärkte, die Altstadt, die Schiffergesellschaft, Sie sind ein gesegneter Mensch.«

Immer dem Kunden schmeicheln.

»Mmh. Und was gibt’s hier so für Kunst?« Der Fremde hatte sich in Bewegung gesetzt. Kein Small Talk also, nicht empfänglich für Schmeichelei. Auch gut.

»Sehen Sie sich ganz in Ruhe um. Wenn Sie Fragen haben …«

»… meld ich mich.«

Dr. Mitschke streunte durch die Galerie, einige Bilder waren schon mit einem roten Punkt versehen, das Zeug verkaufte sich also. Er wanderte weiter, blieb hier stehen, beugte sich dort zu einer kleinen Info herab: »Frühling« 2017, Öl und Sand, 2.50 x 1,40, 2.300 Euro und schnaubte durch die Nase.

»Frühling«… stand immer noch gebückt, drehte sich zu Angelika, grinste freudlos: »Dann gibt’s auch eins mit Herbst

Unangenehm war der, für einen Moment tauchte das Wort Schutzgeld in ihrem Universum auf und sie dachte an ihre Pistole im Hinterzimmer.

Der talentlose Zahnarzt Dr. Mitschke hatte sich wieder aufgerichtet.

»2.300 Euro, ich beabsichtige eine Wertanlage zu erwerben, High-class-Kunst eben.« Wieder dieses Lächeln, das die Augen nicht erreichte.

»High-class-Kunst.« Angelikas Augenbrauen suchten Kontakt zu ihrem Haaransatz. Hatte sie jemals etwas Blöderes … nein, sie konnte sich nicht erinnern. Der hatte doch keine Ahnung, der war doch nicht ganz dicht.

»Ich verkaufe hier eher Kunst für Menschen mit Herz, tut mir leid.«

Angelika sagte das mit so einer Überzeugung, dass sie sich selbst für einen Moment glaubte, und das war irritierend angenehm.

Hallöchen, meine schöne, wie geht es dir?

Wo blieb das Reh auf der Lichtung, musste doch mal wieder eines dabei sein.

Stefan kicherte. »Bambi-Baby, wo steckst Du denn?«

liebeHexe28: 25, 1.72, blond, keine Kinder, geschieden, Kauffrau.

Sein Nick war immer noch MillionDollar.

Frau mit Sonnenbrille und rotem Kleid in einem Cabrio, hatte er mit seinem geübten Blick gleich erkannt, man sah den Anschnitt einer Kopfstütze. Konnte natürlich auch einem Freund gehören oder gemietet sein.

Seine Finger trommelten auf den Tisch. Warum antwortete die Kuh nicht.

Hallöchen, schöner Mann, willst du mich kennenlernen?

Aber klar will ich das, schöne frau.

Was kannst du mir denn bieten?

Wie bitte? Was war denn das jetzt für ein Scheiß.

meine schöne, ganz viel. Pause. ich bin sehr großzügig.

hast du eine webcam? skype?

nein, bist du wirklich kauffrau?

natürlich, mein Schatz. magst du schöne frauen?

ja. was verkaufst du denn?

viel, mein Schatz, alles, was du willst, willst du mich?

blöde drecksschlampe!

Stefan hatte sich beim letzten Mal so verausgabt, dass er keine Energie hatte, einen Seidenschal aus dem Schrank zu fummeln.

Profil sperren, aufstehen, rumtigern, eine Coladose an die Wand werfen. Für heute war’s genug.

Von unten wieder seine Mutter: »Schatz, nichts an die Wand werfen!« Er brauchte dringend wieder einen großen Fisch. Einen mit Geld.

Aus dem Fenster im ersten Stock linste Kornmaier nach unten. Da saß sie, die mit der er sich offensichtlich am letzten Abend so was von zugeschüttet hatte. Warum? War ihm das letzte Mal mit achtzehn passiert. Dezenter Filmriss. Mysteriös.

Er blickte kurz in den Spiegel. Sauberes Leinenhemd, Ärmel bis zum Ellenbogen hochgekrempelt, saubere weite Leinenhose, saubere Leinenschuhe, nur: wie lange noch?

Und kurz freute er sich auf den Herbst in München, wenn endlich wieder Tweed und Kord aus dem Schrank kämen. Einfach praktischer.

Etwas zu trinken anbieten, ließ sich wohl nicht verhindern.

Nachher blieb sie länger als notwendig. Kornmaier holte Eis aus dem Kühlschrank, zerteilte eiskalte Wassermelone, warum machte er das, bescheuert, ließ ein paar Minzblätter in den Wasserkrug fallen, noch bescheuerter. Wollte er gefallen?

Das bestimmt nicht, oder doch? Auf keinen Fall.

»Ein bisschen was Frisches.« Er hasste das Wort Erfrischung, immer musste er da an Erfrischungstücher denken, die nach Raststättenseife stanken. Eigentlich mochte er auch das Wort frisch nicht, aber jetzt war nicht die Zeit, sich mit Wortvorlieben zu befassen.

Was wollte sie von ihm?

»Oh danke, ja, ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll«, Julia griff nach ihrem Glas. »Also, die Katrin ist verschwunden.«

Kornmaier war ein bisschen schockiert.

Nicht vom Umstand, dass Katrin verschwunden war – wer war Katrin überhaupt –, sondern mehr davon, dass er Julias Fingernägel noch mal betrachtet hatte. Abgekaut, ein Viertel der normalen Nagellänge fehlte.

»Katrin kenn ich aus dem Kirchenchor, also in Deutschland.« Julia hatte nichts von Kornmaiers Irritation bemerkt.

»Wir haben uns zufällig im Flieger getroffen.«

Flieger, auch so ein Unwort. Ein Erfrischungs-Flieger, wie wäre es damit?

»Und wir wohnen hier verrückterweise im gleichen Hotel, und jetzt war Katrin heute Morgen nicht beim Frühstück. Sie wollte gestern den Mann ihres Lebens treffen und jetzt ist sie weg.«

Kornmaier versuchte parallel zu funktionieren. Dort eine banale Info, hier Julia, deren abgekaute Fingernägel ihm gestern nicht aufgefallen waren. Warum?

»Dann wird sie wohl bei dem Mann ihres Lebens sein?« Kornmaier versuchte sich an den gestrigen Abend zu erinnern.

»Sie wollte sich auf alle Fälle vormittags bei mir melden, ihr Apartment ist leer und sie hat nicht bezahlt. Und so ist sie gar nicht, sie ist irre zuverlässig.«

Julias Fußnägel waren recht hübsch, mit Lack drauf, auf Fußnägeln durfte der sein, Kornmaier rollte in Gedanken die Augen zu einer imaginären Decke, bald würde er eine Nägel-Macke kriegen. Schluss damit. Und: Wie lange wollte Julia ihn noch zutexten?

»Also, Julia, ich weiß jetzt nicht, was ich da machen soll?«

»Der Polizei sagen, dass das nicht normal ist. Also für Katrin. Einem Anwalt glauben die vielleicht …« Julia brach ab, musste an Kornmaiers Gesichtsausdruck liegen.

Schweigen breitete sich aus.

Konnte das sein, ja, ganz sicher sogar: Er war unhöflich. Warum ließ man ihn auch nicht einfach in Ruhe.

Julia drehte ihr Glas zwischen den Händen, blickte ihn kurz an. Sah aus nach: was für ein arroganter Affe.

Und Kornmaier: Konzentration, Theo, Konzentration. Sie ist ja nett. Sie kann ja nichts dafür. Im Grunde.

Ein bisschen tat sie ihm jetzt leid.

Kornmaier hatte die ganze Zeit auf sein Wasserglas geguckt, beobachtet, wie sich dort ein Minzblättchen sachte drehte, registriert, wie er an dies und das dachte und Julias Worte an ihm vorbeizogen.

Dann hatte er hochgesehen. Ein wenig verloren saß sie jetzt da, in ihrem hellen Sommerkleid vor einem wundervoll blühenden Hibiskus im warmen Licht der Abendsonne.

Kornmaiers innere Warnsysteme sprangen ungefragt und zuverlässig an. Rama-Reklame, mehr nicht, Theo.

»Julia«, Kornmaier blickte sie an, registrierte, dass sie grüne Augen hatte, Sommersprossen und eine kleine Narbe über der rechten Augenbraue: »Kennst du Heidegger?«

»Heidegger?«, kurz runzelte sie die Stirn. »Meinst du Hilfiger?«

Gut, dachte sich Kornmaier, das hätten wir geklärt.

Aber ob alles so klar war, sollte sich noch erweisen.

Wieder flutete Mondlicht die Insel, Kornmaier saß auf dem Balkon im ersten Stock und bewegte sich nicht.

Wie gestern lagen kleine Geister auf dem Feld herum, ab und an war ein zartes Glöckchen zu hören, wenn eines den Kopf hob. Wie gestern duftete der Affenbrotbaum und die Grillen zirpten und wie gestern lagen dicke schwarze Schatten unter den Bäumen.

Über dem nächtlichen Himmel war die Milchstraße hingesprenkelt, wie ein genialer erster Wurf von Jackson Pollock.

Er musste an den Nachthimmel in den Bergen denken, da war es ähnlich gewesen, aber er fühlte sich hier ein wenig mit der Unendlichkeit versöhnt, vielleicht weil es so warm war. Immer noch 24 Grad.

Links von ihm, auf dem Dach des leer stehenden Seitenflügels klapperte ein Dachziegel. Ratten lebten dort ihr Rattenleben und störten nicht weiter. Gerne, bitte sehr, aber nicht im Wohnhaus. Vielleicht gab es ja noch einen anderen Zugang zur Küche und …

Kornmaier hatte ein wenig den Kopf gedreht, nach rechts, meinte eine kleine Bewegung wahrgenommen zu haben. Blickte auf den langen Zufahrtsweg von der Straße her. Ein Feldweg. Konnte ja nicht sein. War auch nicht.

Ganz kurz hatte er den Eindruck gehabt, dort würde jemand stehen und auf das Haus starren.

Kornmaier hatte sich nicht gerührt, kniff die Augen zusammen, versuchte die Nacht mit Infrarot-Augen zu durchleuchten, wartete, guckte, bewegte sich nicht.

Der Weg lag mondlichthell und gut überschaubar. Und genauso gut war auch er zu sehen, gewissermaßen auf dem Präsentierteller saß er hier …

War wohl eine Einbildung gewesen. Wer sollte da stehen und gucken?

Und wieder musste er an seinen Traum denken, was für ein wirrer Unsinn und der Besuch von Julia fiel ihm ein, Julia mit den Sommersprossen, die Hilfiger kannte, aber Heidegger nicht. Und, war das so schlimm?

Das war schlimm. Kornmaier focht einen kleinen Kampf mit seinen inneren Werte- und Warn-Systemen aus und kam zu keinem Ergebnis, das war schlimm. Er strandete bei diesen Überlegungen, stand auf, tappte im Dunkeln die Steintreppe hinunter ins Erdgeschoss, schloss alle Fensterläden, ließ aber Türen und Fenster offen, um die Tageshitze von der Nachtkühle vertreiben zu lassen und lauschte dann in die Stille des Hauses.

So weit war es jetzt also gekommen mit ihm.

Er sah Gespenster.

hallöchen, meine schöne, wie geht es dir?

NurDieLiebe, 45, 1,72, keine Kinder, ledig, Geschäftsführerin. Foto: Sonnenbrille, Cocktailglas, Frau mit schwarzen Haaren.

hallo.

wie geht es dir?

ach, na ja

Der scheue Typ, perfekt.

Na ja ist Trallala (das hatte er mal in einem Comic gelesen).

was fehlt dir denn?

na ja, wie heißt du denn?

ich bin der frank

hallo Frank

und wie heißt du?

ich bin die Mari

Der musste man alles aus der Nase ziehen, das kannte er schon, aber das lohnte sich meist.

Mari, du bist eine schöne, warum hast du warum hast du eigentlich keinen mann?

danke, das ist ja nicht so leicht, einen guten Mann zu finden, wonach suchst du denn?

ich suche eine frau, die ich verwöhnen kann, ich bin gern großzügig.

was meinst du denn damit?

ich lebe auf mallorca und ich möchte mein haus mit einer frau teilen und mein geld auch

Eine Pause trat ein. Stefan war aufgestanden, jetzt galt es, jetzt musste sie anbeißen, er nahm seine Hanteln und stemmte sie ein paarmal in die Höhe, ging wieder zum Computer. Was hatte sie geantwortet?

und warum schreibst du mir? Ich bin doch nichts besonderes

du bist schön und hast einen guten charakter

aber, du kennst mich doch noch gar nicht

Jetzt langsam, jetzt nichts überstürzen.

mari, ich kann doch lesen, dass du einen guten charakter hast, ich lege dir die welt zu füßen und hole dir die stehrne vom himmel, das möchte ich, das weiss ich, das ist bestimmung (Aufreißerfibel Seite 61)

Pause. Aufstehen, Hanteln heben.

das geht ja ein bisschen schnell

Hinsetzen, tippen.

wo die liebe hinfällt, glaub mir, ich fühle das (Aufreißerfibel Seite 53)

was machst du denn beruflich?

So. Okay. Jetzt würde es laufen.

Gut gehendes Nagelstudio, 12-Stunden-Tage, kaum Freunde, perfekt.

Stefan begann mit einem Finger über das Profilbild zu streichen, da war es, das neue Reh, das gerade die Lichtung betrat, seine Lichtung.

Rot würde ihr stehen, ein rotes Tuch zu schwarzen Haaren.