Mit einem bemerkenswerten Seelenfrieden hatte Kornmaier den neuen Tag begrüßt. Das Balkongeländer mit beiden Händen umfassend hatte er dagestanden, nur in seiner uralten Boxershorts, in die Sonne geblinzelt und die Umgebung betrachtet, das Nahe und das Ferne, zufrieden registriert, dass das Bewässerungssystem nachts zuverlässig gearbeitet hatte, ein bisschen darüber nachgedacht, warum er dieses leise zischende Geräusch so liebte, ein bisschen darüber nachgedacht, warum er das Geräusch der Poolpumpe ebenso liebte. War dann runter in die Halle, hatte alle Fensterläden geöffnet und endlich die ersehnte Spur gefunden, winzige Rattenfüßchen in der Mehlfalle, nach draußen, wohlbemerkt. Und da war es ihm wieder eingefallen, dieses andere da, dieser merkwürdige Hauch, so, als habe dort ein langer Mantel drüberhergefegt, sah es also wieder und runzelte die Stirn. Merkwürdig.
Beschloss, sich nicht weiter darüber zu wundern und den Tag ganz wie den Tag zuvor zu verbringen. Und gut, ja, auch das würde er tun, gucken, ob MillionDollar vielleicht doch noch geantwortet hatte, auch das.
Sein Handy fiel ihm ein. Drei Anrufe von Julia.
Für einen Moment schloss er die Augen. Gut oder nicht gut? Gerade, für die Sekunde, gut.
Weiß und leicht und luftig hingen die Vorhänge auf den Fliesenboden herab, sanft bewegt von einer Morgenbrise und ganz oben, eine Handbreit vielleicht, schon lichtdurchsonnt.
Julia stand vor ihrem Kleiderschrank. Ließ mit einem sachten Hin und Her ihres Kopfes die langen Haare über ihren nackten Rücken streichen. Wie Seide, selbst gemachte Seide. Julia liebte dieses Gefühl und diesen Gedanken.
Theophil Kornmaier hatte sich immer noch nicht gemeldet. Drei Mal angerufen hatte sie und: nichts. War ihr schon mal jemand begegnet, der so etwas Störrisches an sich hatte? Der Mann war der personifizierte Widerstand. Mit anderen Worten: Verlockend.
Einer, der nur lief, wenn ihm danach zumute war. Da konnte sie mit Mohrrüben winken, wie sie wollte.
Das Gelbe? Nein, machte blass, eigentlich konnte das aussortiert werden, aber der Ausschnitt war schön, also behalten. Der gehörte gerettet. Man konnte ja nicht alle retten, aber diesen einen, doch, das würde sich sicher lohnen. Man musste nur trennen können. Das Nützliche und das Schöne.
Oder dieses hier, das Weiße mit dem roten Pinselstrichmuster, vielleicht zu unruhig, Julia hielt es vor sich hin und musterte sich im Spiegel. Ja, zu unruhig.
Mitschke, Dr. Michael Mitschke, Julia nahm ihr kleines Schwarzes hoch, ja, das würde passen. Moment, der Wunsch, ihn tot zu wissen, hatte hier nichts zu suchen. Schwarz ging ja gar nicht!
Etwas Fröhliches, Leichtes, Sommerliches! Julia kam zum vorhersehbaren, nichtsdestotrotz niederschmetternden Ergebnis: Sie hatte nichts anzuziehen.
Vielleicht machte sie gerade einen Fehler, aber eigentlich hatte ihr das Leben bisher die meisten Fehler verziehen, im Grunde konnte nichts schiefgehen.
Und so ließ Julia Kleider Kleider sein, ging ins Bad, griff nach ihrer Bürste und begann summend ihre Haare zu liebkosen.
Als der Morgen dämmerte und Nieselregen die Vorstadt in einen feinen Schleier hüllte, hatte Stefan bereits den Koffer aus dem Keller gewuchtet. Packen, so wie immer. Aus dem Augenwinkel die Mutter im Blick, prüfend, wo die inzwischen wohl hin war. Im Wohnzimmer war das Muttertier inzwischen, hatte sich dorthin verzogen. Was für ein Theater. Wenn es ihr so gefiel, na, da wollte er nicht stören.
Ich weiß ja, wenn ich fehl am Platze bin, dachte er.
Er war froh, ganz und gar froh. Die Mutter nicht wirklich tot, nur halb. Er durfte nach Mallorca und dort allen Unsinn treiben, der ihm so einfiel und Geld würde wieder reinkommen, viel Geld und dann würde er sich ein großes Haus kaufen mit einer hohen Mauer und ein großes Auto auch, und eine Gegensprechanlage mit Video, damit seine Mutter nicht ins Haus kommen konnte, kurz warf er einen Blick ins Wohnzimmer – seine Mutter saß inzwischen auf dem Boden, den Rücken gegen das Sofa gelehnt – und er hätte eine schöne Frau mit langen blonden Haaren und, er zögerte, wollte er das wirklich? Eine schöne Frau mit langen Haaren? Wieder eine, die ihm sagte, was er tun sollte? Vielleicht doch besser einen Hund, einen Kampfhund, dem würde er ein Nietenhalsband anlegen und alle Leute würden ihm auf der Straße aus dem Weg gehen, das würde ihm gefallen, alles würde so geschehen und das bald und vor allem musste er KleineBlume38 treffen, er würde sie nach Mallorca locken, so wie er immer alle gelockt hatte. Das war jetzt das Allerwichtigste und seine Mutter, die würde zurechtkommen, so wie beim letzten Mal auch.
Mit all diesen Gedanken und recht zufrieden zog Stefan die Haustür ins Schloss und fuhr zum Flughafen.
Noch war der Morgen kühl, die tiefer stehende Herbstsonne warf lange Schatten über die Insel, und in solch einem Schatten hoher Hecken lagen auch die perfekten Rasenflächen des Anwesens.
Vorsichtig war Mitschke um den Ferrari herumgelaufen, so als wollte er es gar nicht so genau wissen. Der Kies der Auffahrt knirschte unter seinen Loafers.
Sachlich bleiben, ganz nüchtern betrachten. Eine Beule, so what? Versicherung, Haftpflicht. Eigenbeteiligung aus der Portokasse. Warum also aufregen? Gab doch gar keinen Grund, sich aufzuregen. Mitschke hatte sich die Verletzungen betrachtet, die Schürfwunden, die brutalen Schrammen, dann beide Hände auf das Autodach gelegt und dort eine Weile gestanden.
Immer von außen nach innen liefen seine Finger über das rote Blech, immer von außen nach innen, trommelten den immer gleichen Takt. Eine hypnotische Etüde hätte es sein können für irgendjemanden, der nicht Mitschke hieß oder Mabuse oder Die toten Augen von Mallorca. Fielen immer wieder in schneller Folge von oben auf das Autodach, die dicken Fingerchen, es half nicht, es half kein halbes bisschen. Mitschke drehte sich nach links, zielte und trennte gekonnt und zielgenau mit dem rechten Fuß und dem Ausruf »Schlampe« den Eins-A-Seitenspiegel vom Portofino ab. DAS half ein bisschen. Für den Moment.
Vergeblich hatte sie es versucht. Für den Jungen hatte sie es versucht, aber nichts zu machen. Dorothea kam nicht in ihre Kompressionsstrümpfe rein.
Das war nicht spurlos an ihr vorübergegangen, bei seinem letzten Besuch, sein Blick auf ihre Beine. Dieses Angewiderte, sein Versuch, nicht mehr hinzusehen.
Sie hätte sie öfter tragen sollen, jetzt war es zu spät, wie Hefeteig waren die Beine auseinandergeflossen, aussichtslos, unmöglich. Dorothea hatte gezogen, gezogen, gezogen, versucht mit den Haushaltshandschuhen genug Griff zu bekommen für diese bockigen Strümpfe, sinnlos.
Jetzt saß sie schnaufend auf dem Bettrand, eine kleine Verzweiflung hatte sie angeflogen, sie sah sich da sitzen, dick, verrunzelt, krank, ausgepumpt, sie gehörte auf den Sperrmüll der Gesellschaft, was war das für ein Leben, was sollte das noch.
Und das war die Frage: Was sollte das noch?
Sie brauchte nur einen winzigen Moment, bis es ihr wieder einfiel.
Kornmaier war sich unsicher, ob er sich verhört hatte, ob es ein Zufall war, oder ein ganz verrücktes Phänomen. Just in der Sekunde, in der sein großer Zeh die blaue Wasseroberfläche des Pools berührt hatte, schepperte das Gartentor. Das war so frappierend, dass er es gleich noch mal versuchte. Bein etwas anheben, großen Zeh aufsetzen. Kornmaier schloss entnervt die Augen.
Leider kein Phänomen, er bekam unangemeldeten Besuch.
Wenn er sich beeilte, konnte er abtauchen, ganz in die vorderste Poolecke schwimmen und hoffen, dass keiner so dicht …
»Theooo, guten Mooorgen!« Angelika.
Er brauchte ganz unbedingt ein Vorhängeschloss. Kaufen, Theo, kaufen, nicht nur quatschen …
»Hallo, Angelika.« Immer noch stand Kornmaier auf der Leiter, jetzt trotzdem ins Wasser? Schön demonstrativ herumschwimmen?
Er stand also da, die Griffe der Leiter umfassend und beschloss dann, nach einem zweiten Blick in Angelikas Gesicht, auf die Runde im Becken zu verzichten.
Irgendetwas Ernstes war passiert. Irgendetwas Schlimmes.
»Was gibt es denn?« Seltsamerweise kam er sich nackt vor, eine irgendwie zu private Situation für seinen Geschmack. Dieses Ungleichgewicht der Bekleidung.
»Ach, nichts Besonderes«, Angelika griff in ihre Kettenarmada, »bin gerad hier in der Nähe und dachte mir«, die Ketten gerieten in Gefahr zu reißen, »und dachte mir, guck doch mal, was der gute Theo so treibt.« Schweigen.
Kornmaier dachte nicht nach, als er den nächsten Satz sagte: »Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?« Das war so aus ihm rausgestolpert, so wie man in einen Festsaal stolpert mit hundert Leuten, und alle drehen die Köpfe und gucken und eigentlich wollte man nur in den Waschraum.
»Was?«
»Mit deinem Gesicht, was ist da passiert?« Kornmaier spürte, dass er was Falsches gesagt hatte, aber er wusste auch nicht, was er angesichts dieser Situation sonst fragen sollte. Er griff nach seinem Handtuch und legte es sich um den Hals, das fühlte sich irgendwie besser an.
»Mit meinem Gesicht? Wieso?«
Wie lange sollte das jetzt so hin und her gehen, Dialog-Pingpong ohne Sinn.
»Du siehst aus, als hätte dir einer eine reingehauen.«
Tiefschlag, Volltreffer. Und das ohne Mühe.
»Ich …« Angelika hatte ihre Ketten losgelassen, hob unwillkürlich die Hand zum Gesicht, tastete kurz über den Mund.
»Das … eine Tür.«
Ein Satz wie aus einem der üblichen Krimis, die man in Motels guckte, während Leuchtreklamen Signale von Außerirdischen in die miese Absteige sandten.
Angelika hatte sich umgedreht, stand mit dem Rücken zu Kornmaier, verharrte noch kurz, er konnte es gar nicht recht glauben. Sie wollte doch nicht etwa gehen?
»Angelika«, Kornmaier lief ihr nach, überholte sie, »wenn du Hilfe brauchst«, er blickte in ihr merkwürdig fremdes Gesicht, »du sagst mir Bescheid, ja?«
»Ja doch.« Und ja, sie brauchte Hilfe, was machte man, wenn einem eine scharfe Waffe abhandengekommen war, von der die Polizei nichts wusste und für die man keinen Waffenschein hatte, was zum Teufel machte man da? »Ich ruf dich an.«
»Anrufen, aber du bist doch jetzt da.« Kornmaier kapierte nichts, wie auch. Ernst sah er sie an.
»Kenn ich den? Soll ich mir den mal vornehmen? Hast du ihn schon angezeigt?«
»Theo, du bist so ein Arsch.« Sprach’s, knallte mit dem Gartentor, so, dass es gleich wieder aufsprang, und rauschte davon.
Da stand er nun, der Theophil Kornmaier, spürte den warmen Sandstein unter seinen Füßen, hörte die Schafe über das Feld bimmeln und es war sonnenklar, alle hatten schon immer recht, er hatte schon immer recht. Das gerade, das war doch mal wieder das schönste Beispiel: Die Frau, das unbekannte Wesen.
Auf dem kürzesten Weg war Angelika nach Hause gefahren, im Rückspiegel war ja nichts zu erkennen, was hatte Theo denn gemeint? Sie war die Stufen hochgejagt, wahrscheinlich war alles verrutscht, das ganze Hyaluron, und alles nur Theos wegen, war ins Bad gestürmt und hatte in den Spiegel geblickt.
Was denn jetzt?
Was war denn? War doch alles in Ordnung, waren doch schön, die vollen Lippen, wie man sie jetzt eben so hatte. Aber nicht zu doll, hatte sie gesagt und die Frau Dr. Pirakowskaja hatte geantwortet, nein, nein, wirrrkt nur errste Tage ein bisschen viel, die Schminke über den blauen Flecken hatte sie wohl aus Versehen weggewischt, aber sonst, jünger, sie sah doch jünger aus. Das Botox in der Stirn wirkte wohl links schneller als rechts, das war jetzt ein bisschen schief, und unter dem rechten Auge, auch ein Bluterguss, die Trrränenrrrinne, Frau Kasperrrrs, die machen wir auch noch weg, aber im Prinzip, viel jünger!
Und für einen kleinen Moment tauchte da etwas auf: sich etwas schönreden, schwamm für wenige Augenblicke an der Oberfläche von Angelikas Begriffswelt und soff auch gleich wieder ab.
Vielleicht hätte sie noch ein paar Tage warten sollen mit dem Besuch bei Theo. Mitleidig hatte der geguckt, mitleidig und sonst gar nichts.
Aber es eilte ja, sie würde ihn also anrufen und nein … er ging ja nie ans Telefon.
Angelika ließ sich auf ihren Wannenrand sinken. Jünger, viel jünger sah sie doch aus …
Und wo war die gottverdammte Scheiß-Knarre?
Als Stefan die mallorquinische, milde Herbstluft einatmete bemerkte er das nicht, das mit der milden Herbstluft. Luft war Luft. Er wartete, bis ihm ein Taxifahrer zusagte. Wartete ganz vorne, ließ vor, winkte vorbei – ich habe Zeit –, wartete auf den, der so aussah, wie sich Stefan einen Spanier vorstellte. Einen Schnurrbart musste der haben. Ein bisschen wie aus einem Italowestern sollte der aussehen.
So also stand Stefan und stand und stand. Winkte und winkte. Ließ vorbei, wartete.
Als es dann so weit war, rempelte er einen verdutzten Touristen zur Seite und stieg ein.
»Pollença, ohne Umwege, ich kenne die Strecke.« Alles Verbrecher, auch dieser Spanier, das war klar. Taxifahrer eben.
Er lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster. Verdorrte Seitenstreifen mit verstaubtem Hibiskus. Links tauchten die Berge auf. Es hätten auch Pappkulissen sein können, er würde den Unterschied nicht bemerken.
KleineBlume38, er hatte ihr noch am Morgen eine Nachricht geschickt. Sie würde antworten, er würde sie treffen, sie würde Geld haben, viel Geld, welchen Schal würde er nehmen, den dunkelgrünen? Ja, der würde gut passen, Vorfreude stieg in ihm auf, diese Macht, die er da hatte, das war einfach … Stefan stockte, der fuhr doch falsch, der Spanier, war nicht nach links abgebogen, war einfach geradeaus weitergefahren.
»Ey!« Stefan hatte sich nach vorn gebeugt. »Ey, du Pfeife, nach links hättste abbiegen müssen.«
»Passma uff, du selba Pfeife. Gleich schmeiß ick dir raus hiea.«
Der Spanier hatte in einer Staubwolke auf dem Seitenstreifen angehalten. »Watt willste, du Touri. Straßenbaustelle, kannste nich’ kiecken, oder watt?« Er hatte sich zu Stefan umgedreht. »Wattn jetze, watt willssde?«
Stefan war nicht klar, was schlimmer war, dass der Spanier kein Spanier war, oder dass er so niedergemacht wurde.
»Ich …«, da fiel ihm nichts ein, gerne hätte er jetzt ein paar Gewichte gehoben.
»Jut, dann sind wa uns ja einich.« Der Spanier hatte sich wieder nach vorne gedreht. »Touri-Pfeife.«
Sprach’s, startete den Motor und fuhr den verstummten Serienkiller Stefan S. nach Pollença.
Als das Taxi endlich vor dem Haus hielt, stand Dorothea schon hinter der Gardine. Stand da, umklammerte die 100 % Polyester, freute sich und freute sich nicht, so wie immer.
Aufpassen sollte sie, aber das war ja genauso, als würde man eine Katze im Hause halten, die musste doch auch mal hinaus und ein Revier haben und spazieren und springen und Katze sein und Mäuse jagen und all das. Der arme gute Junge.
Stefan war ausgestiegen, hatte das Gepäck aus dem Kofferraum gehievt und dem abfahrenden Taxi verdrossen hinterhergesehen.
Und wie immer rollten ein paar Tränen an Dorotheas Wangen herab, suchten sich ihren Weg durch die Faltenlandschaft. »Der arme gute Junge.« Es flüsterte aus ihr, und dieses Flüstern machte es nicht besser, nein, schlimmer, der arme gute Junge, aber was konnte sie da tun und warum war es so und eigentlich wollte sie das doch vergessen. Aber es wollte nicht vergessen werden, war spätestens dann da, wenn Stefan zu Besuch kam, der arme Junge, und sie sah dann den kleinen Buben, mit den braunen Haaren und den kurzen Hosen und wie der auf der Straße … und spätestens dann stoppte Dorothea ihre Gedanken und stieß einen Schrei aus, so, als könnte sie sich damit zur Ordnung rufen und als könnte dieser laute Ton eine Mauer errichten. Eine Mauer, die alles dahinter in Vergessenheit verdämmern ließ oder noch besser, in einem Traumreich, das es gar nicht gab und gar nie gegeben hatte.
Dorothea ließ die Gardine sinken. Kurz hatte Stefan hochgesehen.
Unlesbar war sein Gesicht, wie immer.
Zur Haustür gehen, die Klinke herunterdrücken und dann: Alles wie immer.
Nun sollte alles so geschehen, wie es immer geschah, doch diesmal würde es Hindernisse geben. Eines davon lag am Pool und verstand die Frauen mal wieder nicht.
Und dann war erst mal nichts passiert.
Die Sonne zirkelte über den Himmel, die Schatten wanderten von West nach Nord. Die Menschen lagen am Meer herum oder aber an Schwimmbecken, solchen, in denen Haare schwammen und es neben Chlor ein wenig nach Urin roch und solchen, die einen Mosaikboden besaßen, der eine griechische Göttin darstellte.
Sie dösten im Schatten, saßen in stillen Innenhöfen, schoben Einkaufswagen durch klimagekühlte Supermärkte oder hatten schon jetzt zu viel Sangria intus, ein jeder wie er konnte.
Und gab es irgendeinen, der noch fragte? Der noch etwas wissen wollte? Nein, keinen gab es.
Schon hatte sich das Leben darüber gelegt, stetig rieselte der Alltag über diese Frage, rieselte herab wie in einer Sanduhr die Zeit herabrieselt und alles bedeckt, Erinnerungen, Hoffnungen und schließlich auch Leichen.
Wo war Katrin?
Auch Kornmaier hatte diese Frage fast wieder vergessen, er suchte nur für Julia irgendeinen Spinner, mehr nicht.
Nur das SOS saß ihm noch in den Knochen und der Rollmops, der auch. Da war was krumm.
Und so saß er heute schon relativ früh im Café. Er wollte bei Anbruch der Dunkelheit zurück sein, um auf das Feld zu schauen, sich zu erinnern und um dann der Nacht endlich eines ihrer Geheimnisse zu entlocken.
Dann tauchten für einen kleinen Moment seine Schuhe auf, die er vor seinem Auto hatte stehen lassen und der ganze Filmriss und dass mit dem Haus ja auch irgendwas nicht koscher war.
Und wenn es so weit war, dass da so eine Flut von Ungemütlichkeiten heranrollte, dann gebot Kornmaier dem Ganzen mit einem mann, mann, mann Einhalt und oft, so musste er inzwischen leider feststellen, oft gelang das überhaupt gar nicht, das mit dem Einhalt gebieten.
MillionDollar würde ihn jetzt aufheitern und ablenken und ab und zu würde er auf das Getümmel der Menschen blicken, und er würde einen wundervollen Carajillo de Catalan dabei trinken.
Kornmaier klappte seinen Laptop auf, öffnete das Portal, loggte sich ein, bewaffnete sich mit einem Löffel für den Milchschaum und tatsächlich: zwei neue Nachrichten.
Was schrieb er denn, der Doppeldepp?
23:48 – Hallo meine schöne, es tut mir leid, ich konnte nicht gleich schreiben, weil hier die Alarmanlage gegangen ist. Aber war keiner da. Du hast selber geld, das ist gut weil geld ja die menschen schlecht machen tut. Das weiss ich ja weil die frauen mich bis jetzt nur ausnutzen wollen. Woher hast du denn dein geld? Ich hoffe wir sehen uns ganz bald dein MillionDollar.
Ein bisschen wirr und ein Goldgräber, ganz klar.
Dann noch eine zweite Nachricht, eine von heute Mittag.
12:32 – Hallo meine schöne, ich sitze ganz einsam in meiner Finca auf Mallorca. Willst du mich besuchen? Bis ganz bald, du schöne, dein MillionDollar.
Was? Auf Mallorca?
Kornmaier nahm einen großen Schluck vom Kaffee, vor allem des Brandys wegen.
Er hob den Kopf. Begeistertes Erschrecken zeichnete sich da ab im Kornmaierschen Gesicht.
Was für ein Zufall, vielleicht aber auch kein Zufall und er hatte genau den Katrin-Typen am Haken.
Eine kleine Anspannung stieg da auf, in Kornmaiers Abenteuer-Jagdgründen, und nur sehr, sehr kurz bedachte er die Möglichkeit sein Profil einfach zu löschen. Vor allem, um dann diese schon dezent zerbröckelnden Buchstaben, die das liebliche Wort »RUHE« formten, zu restaurieren, am besten mit Tagen, die sich komplett ereignislos und am Pool liegend verbringen ließen.
Der Spinner war auf der Insel. Jetzt wurde es doch tatsächlich interessant. Auf keinen Fall Julia davon erzählen, das gäbe nur Komplikationen. Mit Frauen gab es die immer, ganz grundsätzlich. Kurz musste er an Angelikas letzten Auftritt, nein, Abgang denken.
Also, das würde jetzt einfach eine kleine Freude für ihn werden, er gönnte sich ja sonst nichts.
Kornmaier winkte Mateo und bestellte zur Feier des Tages noch vor Sonnenuntergang einen schottischen Whisky.
Dann ließ er seine Hände über der Tastatur schweben, dachte einen kleinen Moment nach und tippte dann eine subversiv niederträchtige Antwort.
Dieser Urlaub war vergeigt.
Nein, nicht wirklich, es war ja auch viel Gutes dabei. Alles lag ja in seinen Händen. Mitschke kicherte sein unfrohes Kichern.
Merkte beim Kichern, dass er schwer atmete, so als sei er lange gerannt, stellte die Poolliege höher ein, tastete nach seinem Handy, starrte darauf, ohne etwas zu sehen, warf das Handy auf den Rasen, fingerte nach seinem Handtuch, trocknete sich die Stirn, ließ sich zurücksinken und gab auf. Er würde so keine Ruhe finden, sinnlos. Alles ein bisschen zu viel und zu wenig zugleich. Er musste diese namenlose Schlampe finden.
Mitschke stand auf und starrte auf den Poolgrund, den mit dem Mosaik und der griechischen Göttin.
Finden musste er die und der mal zeigen, was es hieß, ihn zu belügen.
Das war auch pädagogisch sinnvoll, er würde das gut machen, was deren Elternhaus offensichtlich versäumt hatte. Im Grunde würde er der Welt einen Gefallen tun.
Auf gut Glück würde sie jetzt mal losgehen, ihn suchen.
Theo hatte immer noch nicht geantwortet, gab’s doch nicht. Vielleicht saß er ja wieder in dem Café von gestern, nein vorgestern.
Julia hatte sich für das fliederfarbene Leinenkleid entschieden. Ärmellos, großer runder Ausschnitt, weit aufspringender Tellerrock.
Sie liebte das Kleid, auch wenn es schnell knitterte. Die Verkäuferin hatte ihr noch zugesichert, dass Leinen ja edel knittere, nun, wenn man es so betrachtete, war alles halb so wild.
Sie prüfte, ob die Fensterläden fest verschlossen waren. Nur ein einziger Sonnenstrahl gelangte am späten Nachmittag in ihr Wohnzimmer, malte einen winzigen Lichtpunkt auf den Boden, und wenn sie Zeit und Ruhe hatte, konnte sie diesen Lichtpunkt ein paar Minuten verfolgen, bis der Winkel so ungünstig wurde, dass diese Nachricht aus dem Sonnensystem wieder verschwand. Manchmal stellte sie sich vor, wie dort kleine Elfen mit goldfarbenem Haar herunterstiegen und auf noch kleineren Instrumenten musizierten, und wenn sie ganz still war, meinte sie ein feines Zirpen zu hören.
Heute jedoch war sie in Eile.
Ein Blick auf ihre schmale Armbanduhr zeigte kurz nach fünf.
Sie trat aus dem Haus und sofort war da eine Unbehaglichkeit, die herankroch, so wie sich ein Raubtier dem Opfer nähert, ganz genauso tauchte es auf, dieses Gefühl.
Die toten Augen von Mallorca. Irgendwo war der, lauerte ihr auf, würde sich rächen für etwas, ja, wofür, weil sie nicht mehr Konversation gemacht hatte? Hatte der geglaubt, sie würde ihn unterhalten, Interesse zeigen, nur wegen des bisschen Tands? Der lief nicht rund.
Ein Psychopath wie aus dem Bilderbuch oder ein Narzisst, war das jetzt dasselbe? Sie musste das mal googeln. Keine Ahnung hatte sie davon. Aber jetzt mit den Gedanken hierbleiben und den Theo suchen gehen und dabei die ganze Zeit die Gegend scannen, dem Dr. Mitschke wegen.
Hallo und guten Morgen, danke, dass du geantwortet hast.
Das mit der Alarmanlage kenne ich. Ich habe sogar einen Panikraum mit Bierkühlschrank, man weiß ja nie.
Ich finde es jedenfalls sehr toll, dass du das nicht ausnutzt, dass du viel Geld hast.
Ich zeige das auch nicht so gerne und bin immer ganz bescheiden. Aber eigentlich bin ich ziemlich reich. Männer sind dann schnell neidisch und werden gemein. Wenn du möchtest besuche ich dich auf Mallorca. Da ist es ja sehr schön, da bin ich öfter mal, hab ein kleines Haus, na, dir kann ich es ja sagen, eine Villa mit 18 Zimmern.
Deine kleineBlume
Also wirklich. Kornmaier hatte für eine halbe Sekunde ein schlechtes Gewissen.
Er hatte sich zurückgelehnt, nahm einen Schluck vom Whisky und versuchte zu schmecken, was es da zu schmecken gab. Dattel und Walnuss … Er schloss die Augen: Schottland, Edinburgh, karge Landschaften mit Schafen und Sturm, Tweed, die Hebriden, wundervoll, das Leben konnte doch wirklich schön sein. Ein wenig absonderlich, dass er sich hier in der Milde des Mittelmeerklimas gerade an einen raueren Ort träumte. Aber war nicht immer das Gras auf der anderen Seite … Seine nächste Reise würde nach good old Great Britain führen, das war schon mal so was von klar und für einen Moment vergaß er einfach all die Unbill, die seinen Urlaub ramponieren wollte.
Und ohne sich so richtig zu wundern, war es da, das warme Licht, das über die schottische Landschaft strich, die Abendsonne musste es wohl sein, ein bisschen Muskat war da auch, in den Tiefen des Whiskys, konnte entdeckt werden, warm das Licht, warm … Kornmaier stutzte, die Signalleuchte, keine Abendsonne.
Er hörte Löffel in Kaffeetassen kreisen, hörte ein paar laute Engländer, ein paar laute Spanier, ein paar laute … widerwillig blinzelte Kornmaier in die Gegenwart, ein paar laute Deutsche, die er kannte.
Klang nach Streit.
Schräg gegenüber, an der Ecke zur Carrer de Càrritx, da standen welche und blafften sich an wie die Kesselflicker.
Julia hatte Kornmaier schon erspäht, noch vierzig Meter, dann würde sie ganz zufällig vorbeigehen und ausrufen: »Ach! So ein Zufall! Was machst du denn hier!« Oder, noch viel besser, sich an einem Tisch vor ihm niederlassen, so, als habe sie ihn gar nicht bemerkt, und ein bisschen die Haare über den Rücken schwingen lassen, ja, das war noch besser.
Vor lauter Planungsfreude hatte Julia vergessen zu scannen.
Die toten Augen von Mallorca, da standen sie plötzlich.
Versperrten den Weg, ließen sie nicht vorbei. Und da war es wieder, dieses Gefühl, keiner würde ihr helfen.
Laut würde sie werden müssen, damit Theo sie hörte.
»Frau Kaaaaspers«, Worte dehnen, das konnte der Mitschke, eine seiner Kernkompetenzen, »na sooo was.« Da stand er, viel zu nah. Rote Flecken am Hals.
»Sie sind doch die Frau Kaaaspers?« Feststellung und Frage in einem.
»Lassen Sie mich in Ruhe.« Julia wich seinem Blick aus, machte einen Schritt zur Seite.
»Frau Kaspers, das sind Sie doch?« Schritt zur gleichen Seite, ein Pas de deux mit Verzögerung. Und da war in den Tiefen der toten Augen wieder ein Glimmen zu sehen, wenn Julia denn hingeschaut hätte.
»Hauen Sie ab, Sie sind doch verrückt.« Julia war laut geworden. Keiner blieb stehen, logisch, nur aus dem Augenwinkel sah sie jemanden, der angefangen hatte mit dem Handy zu filmen.
»Und Sie eine Lügnerin!«
»Lassen Sie mich vorbei!«
»Ich lass mich nicht anlügen, du blöde Schnepfe, ich nicht!«
»Irre sind Sie, richtig irre!« Schritt zur anderen Seite.
»Ihr Weiber seid doch alle gleich.« Schritt ebenfalls zur anderen Seite. Mitschke breitete inzwischen die Arme aus, um sie nicht entwischen zu lassen.
»Erst mein Geld nehmen und dann rumlügen.«
»Ihre blöden zehn Euro hab ich als Trinkgeld dagelassen.«
Kurz war Mitschke irritiert. Er meinte den Ring.
»Und meinen Ferrari hast du auch auf dem Gewissen, du dämliche …«
Ein Mann war neben Julia aufgetaucht. Hatte seinen Arm um Julias Schultern gelegt. Blickte mit freundlicher Arglosigkeit in den Aufruhr auf Mitschkes Gesicht.
»Wenn Sie uns entschuldigen würden, wir müssen noch die Menüfolge für heute Abend besprechen.« Kornmaier sah jetzt Julia an: »Nicht wahr, Schatz?«
Mitschke erstarrte.
»Ach, liiert bist du auch noch!« Das wurde ja immer schöner hier. »Wissen Sie, dass sich Ihre Gattin von mir einen Ring schenken lassen wollte?« Zwischen der selbstgerechten Wut tauchte ein wenig selbstgerechte Vorfreude auf, jetzt mal gucken, jetzt mal sehen.
»Liebling«, Kornmaier zog Julia noch dichter an sich heran, machte einen Schmollmund, der in absurder Weise nicht zu ihm passte, »das sollst du doch nicht machen, hm?« Nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und rüttelte ein bisschen nach links und ein bisschen nach rechts. Es musste am Whisky liegen, nur so war Kornmaiers Verhalten zu erklären.
Er strahlte und lächelte, dass es bald anstrengend zu werden drohte. »Hat nicht jeder von uns seine Eigenheiten? Und«, Kornmaier blickte tief in Mitschkes Augen, es gruselte ihn ein bisschen dabei, »wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.«
Warum ihm so danach war, das jetzt zu sagen, und warum für einen Moment aus der aufgesetzten Fröhlichkeit so etwas wie tiefer Ernst geworden war, Kornmaier hätte es in dem Moment nicht erklären können.
Jetzt war’s genug, jetzt hatte Kornmaier keine Lust mehr, so ein Blech zu quatschen, er wollte zu seinem Whisky zurück.
»Habe die Ehre.« Sprach’s und zog Julia mit sich.
Zurück blieb ein irgendwie um alles gebrachter Mitschke. Keine Rache, keine Gerechtigkeit, kein Garnichts.
»Was war das denn?« Kornmaier hatte seinen Arm zurückgezogen, gut hatte er sich da angefühlt, der Arm, aber man sollte ja grundsätzlich nichts überstürzen. Meist war er gut damit gefahren, vielleicht hatte er so auch manches verpasst. »Ich kenn den nämlich, der wohnt bei mir im Tal, eigentlich schräg gegenüber.«
»Der ist nicht ganz dicht, erst hat er mich angesprochen, er wolle mir einen Ring kaufen und dann«, Julia musste Adrenalin abbauen, «und dann meinte er, ich mache zu wenig Konversation, also später, also bevor er den Ring kaufen wollte, also erst mal im Café …«
Wenn er es sich so recht überlegte, wann hatte er denn etwas verpasst, vielleicht damals, als er durch die Wüste hätte wandern können und es nicht getan hatte.
»Und dann, dann wollte ich ihm nicht sagen, wie ich heiße, das geht den doch gar nichts an und ich hab mir einen Namen ausgedacht, mir fiel keiner ein und dann fiel mir doch einer ein, aber einen, den es gibt. Also in echt.«
Doch, er hatte was verpasst. Kornmaier kicherte über den drohenden Kalauer. Dem Hirssle-Xaver, dem hätte er viel früher eine verpassen sollen.
»Angelika Kaspers hab ich gesagt, da ist er total ausgerastet, also nicht richtig, ganz ruhig ist er ausgerastet. So innerlich.«
Kornmaier merkte auf. »Was ist mit Angelika?« Er musste besser zuhören, das musste doch mal möglich sein. Warum schaltete er immer ab, wenn Julia etwas erzählte?
»Also, das kam ja nur deshalb …«
»Sag mal, Julia«, Theo, deine Manieren, da müssen wir später mal drüber sprechen, »sag mal, die Katrin, ist die wieder aufgetaucht?«
Und jetzt war Kornmaier mal präsent, guckte erwartungsvoll, registrierte Julias Verwunderung, vielleicht auch Verärgerung, jedenfalls, der Aufhänger für ihren ersten Besuch bei ihm war schon längst in den Untiefen ihres Alltags versunken.
»Welche, ach so! Nee, nichts gehört.«
Sie waren vor dem Club angelangt, Kornmaiers Laptop hatte seine Abwesenheit überlebt, auch sein Whisky stand noch da. Ein Wunder.
Vielleicht hieß der Wunder-Macher Mateo.
»Julia, wir sprechen später, ja?«
Frauen einfach so stehen zu lassen und Kornmaier merkte es nicht mal.
Still hatte Dorothea Stefan umarmt und Stefan hatte sich schnell und linkisch aus der Umarmung befreit.
»Riecht gut!« Er schnupperte und prüfte die Luft wie ein Pferd, das Witterung aufnimmt. Eine Paprika-, Zwiebel-, Schmorfleischfahne kroch aus der Küche durch die Wohnung, hing in den Gardinen, hatte sich über die Jahre in die Tapete gefressen.
»Ja, es gibt dein Lieblingsessen.« Mit schief gelegtem Kopf besah sich Dorothea den guten Jungen: »Wie immer.« Dann konnte sie nicht anders: »Der Mutti geht’s gut? Ja?«
»Die Mutti, die Mutti!« Ein kleiner Ausbruch, Fuchteln mit den Armen, als wollte er ein Auto stoppen. »Immer die blöde Mutti, immer die, und wie’s mir geht …«, schon fing sein Atem an schwer zu gehen.
»Ist ja gut, Bub.« Dorothea strich ihm über den Rücken: »Hast ja recht, geh mal in dein Zimmer, da steht eine Überraschung.«
Wenigstens hier wurde er nett empfangen, ein Geschenk würde in seinem Zimmer stehen. Was es wohl sein würde, ein Geschenk und sein Lieblingsessen, nie würde er Dorothea etwas antun, er nickte sich selbst zu, nie!
Raufasertapete, Bayern-München-Bettwäsche, ein paar Hanteln neben dem Bett, ein Resopaltisch mit Computer drauf. Aus seinem Fenster hätte er auf ein Gässchen blicken können. Aber was interessierte ihn das Gässchen. Wo war die Überraschung?
Auf der Tischplatte in Eiche-Optik stand vor seinem Computer eine Tasse, eine Bayern-München-Tasse, er hob die Tasse hoch und zerschlug sie an der Tischkante.
Die hatte er doch schon!
Nur für einen kleinen Moment wankte ein Gedanke vorbei, schwach wie ein Falter kurz vor dem Ableben, er hätte Julia wohl einladen müssen, zu einem Schnaps zum Beispiel. Ja, das hätte er machen müssen.
Daran zu denken, war fast wie machen. Kornmaier hakte das Thema ab.
Und für einen etwas längeren Moment tauchten diese merkwürdigen Augen von dem Typen mit dem Ferrari auf. Wie tiefe Brunnen, in denen Leichen moderten.
Er nahm einen großen Schluck vom Whisky und schloss die Augen. Irgendwie artete irgendwas aus und er war mittendrin.
Also nach Schottland beamen, einem Sturm lauschen und in ein Kaminfeuer blicken.
Jemand räusperte sich neben ihm. Mateo. »Noch mal dasselbe?«
Kornmaier öffnete die Augen. Er nickte Mateo zu und sein Blick blieb an dem grünen Online-Punkt hängen, ein kleines grünes Auge, das ihn beobachtete, MillionDollar war aufgetaucht.
Die Pfeife hatte geantwortet, gerade vor zehn Minuten.
Mal gucken.
hallo meine schöne (meine Güte, das nervte langsam), ja, komm mich besuchen, ich zeige dir meine Villa. hast du kinder?
viele schöne grüße für meine bezaubernde Jini (what?)
vom Mr. Reiht.
Kornmaier sank noch mehr in sich zusammen. Krumm hockte er vor dieser Nachricht und rang mit sich. Durfte man da lachen? War es nicht ganz und gar unangebracht?
Der Alkohol entschied diese Frage für ihn und Kornmaier bekam einen kleinen Kicheranfall, so arg, dass man ihm von den Nebentischen befremdete Blicke zuwarf.
Angelika war ratlos. Theo ging einfach nicht an sein Handy. Und das heutzutage, was sollte das denn? Vielleicht saß er im Club, sie würde hingehen. Bei künstlichem Licht, vielleicht würde er … Sie hatte eine Tonne Make-up aufgetragen und er sollte gefälligst seine Klappe halten. Heute nahm sie sechs Ketten, zum Ausgleich fürs Gesicht.
Sie trat in den Abend hinaus, alles war so wie immer. Die angenehme Temperatur, das letze Rosa des Himmels über dem Ort und doch war alles fremd und neu und wie in einer anderen Welt. Etwas passierte und irgendjemand wollte ihr nichts Gutes oder nutzte einfach nur die Gunst der Stunde. Um irgendjemanden umzulegen, um Hasen würde es wohl nicht gehen.
Sie bog auf die Plaça, scannte den Club und ein Wunder: Er war da.
Sah irritierenderweise zufrieden aus. Er saß und tippte. Theo hatte einen Laptop? Am Puls der Zeit? Manche Dinge änderten sich doch noch.
»Theo.«
Kornmaier schreckte hoch.
»Angelika, die Sonne geht auf!«
»Bist du betrunken?«
»Ich? Nie!«
»Ich muss was richtig Wichtiges mit dir besprechen.« Angelika stand immer noch da und wartete auf eine Einladung.
»Ach«, es ließ sich wohl nicht vermeiden, Kornmaier blickte kurz auf den Zählerstand seiner Duldsamkeit: »Dann setz dich doch.«
»Danke.« Da saß sie nun. »Was tippst du denn da?«
»Angelika«, Kornmaier beugte sich zu ihr hinüber, »guck mir mal in die Augen, mach mal.« Angelika machte und guckte. »Ich mag zwar etwas zu viel getrunken haben, ja, das liegt wahrhaftig im Bereich des Möglichen, aber«, Kornmaier tippte ihr auf die Nase, »aber: Goldig ist das Schweigen, silbrig das Reden. Oder so.«
Hatte er das wirklich gerade gemacht? Ungefragt in den Gesichtern von Frauen herumgetippt, ja vorhin sogar an einem Kinn gerüttelt? Was für ein Niedergang.
Immerhin merkte er es noch.
»Immerhin merke ich es noch.« Kornmaier hatte sich zurückgelehnt und musterte Angelika mit reuevollem Blick.
»Was?« Angelika kämpfte mit einer ihrer Ketten, die sich an der Armlehne verfangen hatte.
»Ach, nichts.« Es war ja auch gut genug, es zu denken. Kornmaier wollte sich bessern.
»Was ist denn so wichtig, Angelika?«
Angelika fummelte an der bockigen Kette. Sie hing schräg auf ihrem Stuhl, was war denn da wieder los, und jetzt müsste sie es irgendwie sagen, aber wie? »Meine Pistole ist weg.« Sie hatte sich entheddert und setzte sich auf. »Weg, aus meiner Schublade.«
Kornmaier staunte sie an und sagte erst mal nichts. Und dann:
»Angelika, mir graust vor dir.« Schon wieder kicherte es aus ihm, er war heute zu nichts mehr zu gebrauchen.
»Scherz, das war ein Scherz. Aber nur so rein theoretisch, was könnte man denn da machen?«
»Nichts.« Kornmaier hatte die Arme vor der Brust verschränkt, blickte in die Ferne, neigte sich zur Seite, hinüber zu Angelika. »Nichts kann man da machen, einfach abwarten, bis einer erschossen wird.«
»Junge.« Dorothea guckte zu, wie Stefan es sich schmecken ließ. »Sag mal, hast du jetzt genug beisammen?«
»Weiß nicht.« Stefan nahm sich mit der Suppenkelle nach.
»Na, wie viel ist es jetzt denn?«
»145.870. In Euro.« Stefan schaufelte und mampfte.
»Und denkst du …« Dorothea sprach nicht zu Ende, ließ es im Vagen, der gute Junge hatte so eine kurze Zündschnur.
»Nein.« Stefan spülte mit Cola nach.
»Dann müssen wir also …« Dorotheas Hände glitten über die Tischdecke, vor und zurück. Vor und zurück. Ihr Oberkörper folgte den Händen, vor, zurück, so als würde sie am Webstock sitzen, aber alles, was sie webte, waren Pläne.
»Müssen wir, habe schon eine an der Angel.« Zufrieden kippte Stefan seinen Teller und kratzte die Reste zusammen.
KleineBlume, Stefan schnaubte sein Lachen, das Einzige, was er konnte.
»Das ist gut, bist ein Braver.«
Schweigen.
»Da ist ja noch was drüben.«
Stefan nickte: »Müssen wir holen.«
»Müssen wir.«
»Und vorher finden.«
»Ja, vorher finden.«
Lieber Mr. Reiht,
da musste ich sehr lachen, du bist ein guter Mensch UND lustig! Ich finde humorvolle Männer toll. Ich habe keine Kinder, warum fragst du? Ich lande morgen auf Mallorca und beziehe dann meine Villa. Wann hast du denn Zeit?
Deine Jini
Heute fuhr Kornmaier mit eingeschalteten Scheinwerfern nach Hause und hoffte, dass das Auto den Weg schon finden würde.
Im CD-Player lief Dave Brubeck: Eurasia.
Was hatte Angelika da von einer Pistole gefaselt? Was war mit den Augen von diesem komischen Nachbarn los? Wieso hatte Julia Katrin schon vergessen? Warum hatte er seine Schuhe vor seinem Auto abgestellt? Was war mit dem SOS? Und welcher Geist wollte ihm in seiner Finca irgendwas mitteilen? Gab doch einen Geist, oder was?
Und, so alles in allem: Was war überhaupt los?
Je mehr er dem Gefühl Raum gab, je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es. Gewann Kontur, ließ ihn sich an kleine harmlose Begebenheiten erinnern, aber er konnte keine davon zu einem Bild zusammenfügen, nur Puzzleteile lagen auf dem Tisch und weigerten sich, zueinanderzupassen.
Und wieder hatte Kornmaier den Wagen vor der kleinen Brücke zum Stillstand gebracht, war leicht wankend ausgestiegen, dachte kurz mann, mann, mann und legte dann die Unterarme auf das Autodach, verharrte und lauschte. Grillen, Glöckchen, Stille. Eine weitere Nacht auf Mallorca brach an und er musste sich erneut eingestehen: er war irgendwie in irgendwas hineingeraten. Lästig.
Morgen würde er genauer darüber nachdenken und was sollte er jetzt mit diesem Hochstapler Mr. Reiht machen?
Treffen und dann? Vielleicht Julia als Lockvogel vorschicken? Julia, was war denn da nun, er konnte es nicht sagen.
Morgen, wie sagte man hier? Mañana.
So stand Kornmaier also da, dachte vor sich hin und fühlte sich gerade ganz wohl, so noch ein bisschen stehenbleiben. Sein Blick glitt über die Landschaft, die schwarze Kontur der Berge, der Palmen, über die Geister mit ihrem zarten Läuten und das Haus.
Er stieg ein, startete den Motor und fuhr los, das Licht der Autoscheinwerfer erfasste das schmiedeeiserne Tor, die beiden Palmen links und rechts davon, glitt über die Zisternenmauer und ließen Nanita aus dem Dunkel treten. Die Katze hatte ihn erwartet.
Er parkte, stieg aus, begrüßte das Tierchen, entschuldigte sich für seinen angeheiterten Zustand und wollte die Haustür aufschließen. Den Schlüssel vor das Schloss haltend, verharrte er.
Schwören hätte er es können, aus dem Haus kam ein Geräusch, als würde eine Tür ins Schloss fallen. Konnte ja nicht sein.
Kornmaier wünschte sich präsenter zu sein: Werd nüchtern, Theo, zackig. Oder bildete er sich das ein, oder war ganz profan jemand im Haus? Und welche Tür sollte da zuschlagen?
Nachgucken, Theo, ganz einfach … leise den Schlüssel einstecken, leise den Schlüssel drehen … Meine Güte, die hatten doch schon längst den Wagen gehört und waren gerade auf und davon … Das zu denken und so gut es eben ging ums Haus zu sprinten, waren eins.
Auf der Terrasse blieb er schwer atmend stehen und lauschte. Versuchte leise zu atmen. Nichts. Starrte in die Nacht, scannte die Umgebung. Null Komma garnichts. Der Mond stand schon über der Hügelkette im Süden, zog gemächlich seine Bahn.
Mit einem trockenen Geräusch fiel eine Affenbrotfrucht auf den Gehweg. Im Maulbeerbaum ein leises Rascheln, dann wieder Stille.
Jetzt fang ich an zu spinnen.
Also zurück, Haustür öffnen und wieder lauschen. Nichts, gar nichts, weniger als nichts. Welche Tür gab es im Haus, die man so zuschlagen konnte? Oder doch Einbildung, er drehte sich im Kreis, erst mal nüchtern schlafen und alles andere morgen, mañana.
Sorgfältig schloss er alle Fensterläden und öffnete mit einem kleinen Zögern die Fenster. Ein bisschen war ihm nach Fort Knox.