DER SIEBTE TAG

Als Kornmaier am nächsten Morgen die Augen öffnete, schloss er sie gleich wieder. Erst mal sortieren, was sprang ihn da denn alles gleichzeitig an. Ganz vorne, noch vor einem möglichen Untoten im Haus, eventuellen Einbrechern, einem Hochstapler und mutmaßlichen Mörder namens Mr. Reiht, einer Angelika, aus deren Haus eine Pistole verschwunden war, noch vor einem psychopathischen Mitschke, noch vor einer Julia mit Sommersprossen, noch vor all dem tauchte diese Erinnerung auf: Er hatte Angelika auf die Nase getippt. Das ging gar nicht. Er ächzte.

Ihm war nach Ingwerkeks, sofort.

Das Haus lag still, er stand auf, öffnete die Fensterläden und trat auf den Balkon. Er hatte deutlich verschlafen, es musste schon zehn Uhr sein.

Friedlich breitete sich die Landschaft vor ihm aus, friedlich lag die wie aus blauem Dunst geschaffene Bergkette in der Ferne, dort, wo das Meer türkisfarben schlief, hier und da etwas Plastikmüll auf der glatten Oberfläche trug und dort, wo die Engländer hummerrot am Strand herumlagen.

Er liebte dieses Licht des Morgens im Haus, den leichten Duft der geölten Steinfliesen, ging die Treppe herunter, stieß die Fensterläden auf und wurde vor der Küchentür von einer missmutigen Nanita begrüßt.

»Ja, Katze, Zustände, ich weiß.« Er öffnete eine Dose Futter, nahm ein paar Ingwerkekse und betrachtete den schiefen Kopf der Katze.

Auch er legte den Kopf schief, vielleicht half das beim Nachdenken, und biss in den ersten Ingwerkeks.

Langsam türmten sich die Fragen, die Absonderlichkeiten und langsam war es Zeit, das alles zu ordnen.

Das, was oben lag, zuerst: Julia als Lockvogel? Für Mr. Reiht? Der würde wohl inzwischen geantwortet haben, der Spinner.

Nanita ließ die Hälfte übrig, war ja klar, da würde sie nicht mehr rangehen. Die Katzenfutterindustrie lebte davon, dass sie zu große Dosen verkaufte.

Also Julia als Lockvogel? Nachdenklich verzehrte Kornmaier einen Keks nach dem anderen. Irgendetwas sagte: nein. Angelika? Irgendetwas sagte: nein.

Vielleicht verabreden, beobachten, nach Hause folgen, und dann? Klingeln und fragen: »Kennen Sie Katrin?«

Das Ganze wurde aufwändiger als gedacht.

Kornmaiers Hand griff ins Leere, weg waren sie, die Kekse. Er raffte sich auf, erst mal an den Pool auf die Liege, die Poolpumpe würde ihm schon mitteilen, was zu tun sei.

Es ging nicht voran.

Julia saß und bürstete und haderte. Dieser Theophil Kornmaier war einfach nicht zu fassen. Entzog sich, wo er nur konnte.

Wie merkwürdig das gewesen war, der Mitschke mit seinen toten Augen, und wie der Theo gekommen war und was der sich da ausgedacht hatte und sein Arm um ihre Schulter, das war doch wirklich, ja, was, was war das gewesen, Julia konnte es nicht sagen.

Sie hielt inne und inspizierte ihre Haarbürste, sechs, sieben Haare gingen doch immer über den Jordan. Sie seufzte und warf den Verlust mit spitzen Fingern in ihren Papierkorb.

Sie musste ja noch ein bisschen bleiben in Pollença und jetzt war der Irre auch noch ein Nachbar von Theo. Und es blieb wohl nichts anderes übrig, sie würde Theo in seiner Burg aufstöbern müssen.

Bürste zur Seite legen, Kleiderschrank öffnen und überlegen. Das lilafarbene hatte irgendwie nicht funktioniert, also was nun, was nun? Sie stand und überlegte, nahm vom Bügel, hängte wieder weg. Shorts, weiß, Bluse, weiß, Ledergürtel, weiße Leinenschuhe, vielleicht fand er sportlich irgendwie besser.

Im Grunde war es demütigend, sie rannte ihm ja nach. Julia blickte in den Spiegel. Aber ging ja nicht anders.

Lichthupe. Direkt hinter ihm.

Den Vormittag hatte Kornmaier friedvoll vertrödelt. Hatte auf dem Rücken im Wasser liegend ins Himmelsblau geschaut und registriert, dass er lauschte. Lauschte, ob da wohl das Gartentor schepperte. Nichts hatte gescheppert, aber die Notwendigkeit ein Vorhängeschloss zu kaufen, war offensichtlich geworden.

Jetzt fuhr er also gemächlich den schmalen Cami entlang und aus dem Nichts war diese Lichthupe hinter ihm aufgetaucht. Und klar: Unabwendbar bremste Kornmaier. Genauer: Vollbremste. Eigentlich musste der Idiot ihm jetzt auf der Stoßstange hängen, aber wer auch immer das war, er hatte gute Reflexe.

Also erst mal ganz gemütlich aussteigen, ein wenig strecken und freundlich gucken. Schade, dass er keine der Zigarren dabeihatte, die hätte er sich jetzt anzünden können, das hätte ihm gefallen.

Da stand er, der seltsame Stalker von Julia, und fletschte die Zähne.

»Ey, du Arsch. Bist du irre, oder was!?« Mitschke hatte die Autotür zugeknallt und kam auf Kornmaier zu.

»Du und deine Tusse«, kurz blieb Mitschke an den Resten seines Außenspiegels hängen, »ihr seid doch echt vom gleichen Baum geklettert.«

Gemütlich zog Kornmaier sein Handy aus der Tasche, gemütlich ging er auf Mitschke zu, umrundete ihn, umrundete den Ferrari, den ramponierten, ignorierte das wiederholte »Ey« von Mitschke, blieb schließlich neben ihm stehen, hob das Handy zum Mund und sprach, Mitschke dabei sachlich betrachtend: »Notiz vom 06. Oktober, 13:45: Wie der Herr, so’s Gescherr.« Dann steckte er das Handy ein, nickte Mitschke zu, setzte sich in den Wagen, schnallte sich umständlich an, startete umständlich den Motor und setzte seine Fahrt fort. Wenn auch etwas langsamer als zuvor.

Kornmaier hatte es echt drauf, sich keine Freunde zu machen.

Jini hatte geantwortet.

Die Villa würde er ja schon gern sehen, bestimmt gab es einen Tresor. Er würde sie an einen Stuhl fesseln und in jeden Raum tragen und fragen, ob hier wohl der Tresor sei, das würde ihm Freude bereiten. Und in jedem Raum den Schal ein bisschen enger …

»Stefan?« Dorothea steckte ihren Kopf in sein Zimmer.

»WAS!?«

»Nichts …« Weg war sie.

Er stand auf und schlug die Tür zu. Konnte man denn nirgends mal in Ruhe … Stefan fing an seine Hanteln zu stemmen, mal in Ruhe planen? Er machte ein paar Kniebeugen. Ji-ni, Ji-ni, Ji-ni.

Be-zau-bern-de Ji-ni.

Eine Villa mit achtzehn Zimmern, ein Panikraum mit Bier. Wo Bier reinpasste, passte auch Cola rein. Vielleicht konnte er die ganze Villa übernehmen, das wäre doch am besten. Da würde man ihm helfen müssen, da würde man irgendeine Unterschrift brauchen.

Aber ob es klug war, sie zu besuchen, bestimmt war es besser, sich an der üblichen Stelle zu verabreden.

Vielleicht hätte er dann ausgesorgt.

Stefan öffnete seine Schreibtischschublade und schaute kurz auf die Plastikrose. Sein Schlüssel zum Glück.

Er war erfolgreich, ein besonderer Mensch, ein guter Mensch. Er brauchte nur noch ein eigenes Auto, ein eigenes Haus und drum herum eine hohe Mauer.

War es nicht egal? Wozu die Aufregung?

Angelika stand in ihrer Galerie und beobachtete eine Käuferin in spe, die eh nicht kaufen würde. War die Pistole eben weg.

»Von dem Künstler habe ich noch nie gehört«, die Frau drehte sich zu ihr um: »Jemand von der Insel?«

»Ein angesagter Newcomer, hat schon in Madrid ausgestellt.« Angelika war nicht bei der Sache.

»Ach, in Madrid …« Die Nichtkäuferin wandte sich wieder dem Bild zu.

Und trotzdem, warum war die Pistole weg? Und wer war in ihr Hinterzimmer …?

»Wo denn da in Madrid?«

»Bitte?«

»Wo denn da in Madrid?«

»Oh, da müsste ich jetzt nachgucken.« Angelika machte eine Scheinbewegung und hoffte, dass sie nicht wirklich würde nachgucken müssen.

»Nicht nötig, ich kaufe das Bild sowieso.«

Und einen Moment landete Angelika ganz im Hier und Jetzt.

Angelika näherte sich der Käuferin in spe in Demutshaltung. »Ich bin untröstlich, wirklich, das Bild ist leider schon verkauft.«

Ausgerechnet, dieses Bild war ja nun wirklich unfassbar hässlich, da dachte man mal, man könnte seine Kunden einschätzen und dann das.

Angelika sah der pikiert blickenden Käuferin in spe hinterher, die würde nicht wiederkommen.

Hoffentlich.

Mitschke allein zu Haus.

Es tobte in ihm. Er hatte alles versucht. Dauerlauf. Kniebeugen. Schwimmen, schnell schwimmen, wütend schwimmen, schwimmen, als sei das Wasser ein Gegner. Der Mosaikgöttin am Beckenboden verzog es das Gesicht, aber das Toben blieb, verblasste für einen Moment, bekam eine andere Farbe, aus dem Dunkelrot wurde ein schmutziges Orange, mehr war nicht drin.

In seinem Kopf kreischten Wortsägen, Bilder stürzten übereinander, verstärkten sich gegenseitig, störten alte Verletzungen auf, Mitschke war angeschossen und wusste es.

Wut ist ein schlechter Ratgeber. – Ja, Oma, weiß ich doch.

Musst nicht immer so … – Ja, Oma, weiß ich doch.

Wirst sonst noch mal … – Ja, Oma …

Und nein, das wusste er nicht wirklich.

Immer war er der Depp, unerträglich.

Groß und stabil hatte er sich durch die Grundschule gerempelt, hatte nicht verstanden, dass er nicht beliebt war, hatte nicht verstanden, dass gefürchtet und beliebt sein meist nicht Hand in Hand gingen. Die Mutter beim Schuldirektor und er hinter der Tür, mit beiden Fäusten seine Hosenträger umklammernd. Fremdworte waren gesagt worden, die er erst Jahre später nachgeschlagen hatte. Asperger und Psychopath und wie er die auch später nicht verstanden hatte.

Der Stand der Wissenschaft war ja inzwischen viel weiter, aber damals …

Er, wie die Mädchen vor ihm Reißaus nahmen und im Chor Psycho riefen und sich dann hinter eine Mauer duckten. Er im Schwimmbad und einen Köpper vom Dreier springend und beim Auftauchen sehend, wie keiner guckte und das Lachen war Hohngelächter, sicher nichts anderes.

Frauen, die verschwanden, immer wieder, ihn mieden, Männer, die ihn skeptisch taxierten, Männer, die ein Freund sein wollten, seines Geldes wegen und dann doch nicht durchhielten und auch verschwanden und selten, ganz selten, einer, der was sagte: »Du tickst doch nicht richtig, werd mal sozialkompatibel.« Und dann das Studium, er, ein Überflieger, ein Genie und doch aneckend, immer dieser Neid. Nur, weil er wusste, wie es ging, geschickt musste man eben sein. Und die Dozenten gönnten ihm nichts, weil sie nicht seine Klasse hatten, schikanierten ihn, wollten ihn aussieben, tauften ihn Dr. Mabuse – Mitschke schlug mit einer Faust aufs Wasser – waren aber zu blöd, zu langsam, zu … Und jetzt noch dieser von drüben, dieser mit der zweiten Angelika Kaspers im Arm, diese Provokation, dieser Spott, diese Impertinenz.

Und für einen Moment stand er still, da war er doch, der Ausweg, da war es doch, das schöne Ziel, eines, das ihn befrieden würde: Dem von drüben eine reinzuhauen. So und so und vielleicht so auch noch.

Unter dem Autositz lag doch diese famose Knarre.

Er wusste gar nicht mehr, warum er in der Galerie ins Hinterzimmer geschlendert war. Ein Lieferant lamentierte mit der Galeristin vor dem Geschäft herum, wie die wohl lebte, diese dumme selbst ernannte Herzenskunstverkäuferin. Bestimmt lebte die im Chaos. Kurz hatte er in den Hof gespäht und dann begonnen Schubläden aufzuziehen. Chaos, wie erwartet. Und eine Pistole, unerwartet. Die würde er jetzt mal mitnehmen. Da konnte er sich schadlos halten, das war ja das mindeste. So eine Waffe gehörte ja sowieso nicht in Frauenhände. Ja, es war im Grunde eine gute Tat, um die Dame vor sich selbst zu schützen.

Und nun würde das Ding doch mal zu was nütze sein.

Ein solides Vorhängeschloss. Eines, das ihm die ersehnte Ruhe brächte.

Kornmaier betrachtete die kleine Auswahl an Schlössern, nahm sie in die Hand, guckte nach dem Preis, spürte das kalte Metall in den Händen. Erinnerte sich daran, wie er selbst mal so ein Schloss geknackt hatte, eine Jugendsünde, nicht die Einzige. Es seufzte aus ihm, nicht die einzige Jugendsünde. Was war da noch mit der Bank gewesen? Damals?

Nein, nicht abschweifen, nur ein Schloss wollte er kaufen.

»Ach, was machen wir denn da?« Angelika war aufgetaucht.

»Willst wohl deine Burg sichern?« Sie hatte sich dicht neben Kornmaier gestellt und guckte so, wie eine Frau meinte gucken zu müssen … ach, was wusste er schon.

Und Kornmaier blickte immer noch auf das Schloss, wog es ein bisschen in der Hand und guckte dann zurück.

»Stimmt, genau das.« Kornmaier besah sich wieder das Schloss aus schönstem Stahl: »Was ich dir noch sagen wollte …«

»Ja?« Angelika scannte in null Komma nichts die Möglichkeiten.

1.»Besuch mich nie wieder.«

2.»Ich würde dich gern öfter treffen.«

3.»Deine Pistole ist aufgetaucht.«

Kornmaier seufzte, in Angelikas Kopf ratterte es weiter.

4.»Julia und ich sind verlobt.«

Kornmaier legte das Schloss in seinen Einkaufskorb und weiter ging es mit dem Rattern.

5.»Julia und ich wollen Kinder.«

Und dann:

»Also, Angelika, neulich, also gestern.« Was, was war denn gestern, was denn? »Das tut mir leid, das wollte ich nicht, das sollst du wissen.« Um Himmels willen, was denn? Angelika hob im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Augenbrauen.

»Was denn, Theo? Was?«

»Ich habe dir auf die Nase getippt.« Jetzt war es raus.

Angelika war sprachlos.

»Und das«, Kornmaier nickte, »das geht mal gar nicht.« Für eine Sekunde sah Kornmaier in Angelikas Augen, pflichtschuldig.

Sie stand da, versuchte Ordnung in ihren Kopf zu bringen und begann dann zu überlegen, wie Theo das wohl gemeint haben könnte. Kornmaier dauerte das zu lange. Er hatte mit einer kleinen Verbeugung und einem »Man sieht sich« abgedreht und strebte der Kasse zu. Aus dem Augenwinkel hatte er die Einkäufe in Angelikas Wagen registriert: Vier Flaschen Rioja und: Wofür brauchte Angelika so viele Gefrierbeutel?

Nie würde er die Frauen verstehen.

Allen voran: Angelika.

Jetzt erst mal eine Zigarre, die Zigarre, die er gern gehabt hätte, als dieser Volltrottel es gewagt hatte mit der Lichthupe …

Kornmaier saß im Café und verpestete die Umwelt. Und während seine Gedanken von hier nach da sprangen, versuchte er Rauchkringel zu fabrizieren, was, wie immer, misslang.

Und was hatte diese Existenz von gegenüber mit dem armen Ferrari angestellt? Völlig demoliert. Kornmaier fiel das Mäuerchen ein, das er gestern Abend noch begutachtet hatte. Könnte passen, rote Lackspuren. Warum war dieser Typ so auf Krawall gebürstet? Und was wollte der von Julia? Er hatte weggehört, irgendwas hatte sie erzählt und er war mal wieder ganz woanders gewesen. Warum fiel ihm das so schwer, das war doch wirklich … Mateo tauchte auf, blickte freundlich undurchdringlich, so wie immer. »Einen schönen …?«

»Den auf keinen Fall.« Kornmaier hatte den Eindruck, dass er die nächsten Tage nüchtern bleiben sollte. »Lieber einen schönen …«

Mateo legte den Kopf schief, nickte stumm und zog sich zurück.

Bestimmt war Mateo mal Butler bei einem Halbsatz-Menschen gewesen, anders ließ sich sein Begriffsvermögen nicht erklären, Kornmaier war zufrieden.

Wieder schien die Nachmittagssonne über den Platz, warfen Häuser Schatten, die immer länger wurden und wieder wisperte es in den Platanen. Heute war es recht still, anscheinend hatte man die Kinder in irgendeiner Aula für irgendeine Feier eingepfercht, so wurde nur gemurmelt und Kornmaier wünschte, so möge es nun für immer bleiben.

Was also machte Mr. Reiht, da musste jetzt mal was passieren, mal von oben wegarbeiten, wie man Akten von oben wegarbeitet. Erst diese hohle Nuss, dann Angelika und ihre Pistole und überhaupt, dann Julia, Kornmaier stockte, dann könnte er wieder in Ruhe … der Café Cortado wurde serviert.

Nun beließ Kornmaier es bei einem Nicken und aus irgendeinem verrückten Grund hatte er für einen kleinen Moment den Eindruck, dass er in Mateo einen Verbündeten hatte.

Laptop aufklappen, einloggen, da wartete schon eine Nachricht von diesem Unglückseligen:

Meine schöne, (meine Güte, wirklich)

ich arbeite sehr viel, deswehgen kann ich nur abends. wir können uns am Parkplatz treffen um 21 Uhr, dem an der Ecke Carrer Dones de Con Sales und der Carrer de Menendez y pelayo …… (what?)

also da an der Ecke, dann gehen wir fein essen, ich lade dich ein.

Ich habe eine Rose in der Hand, wie erkenne ich dich?

Dein Mr. Reiht

Etwas in Kornmaier war verstummt. Der Spott vielleicht, ja, das konnte es sein. Hier stimmte doch etwas so was von überhaupt gar nicht und welche Frau, um Himmels willen, machte da mit?

Kerzengerade saß er da. Solche Frauen, die verzweifelt waren und von Hoffnung und Illusion getragen, jede Vorsicht fahren ließen? Still saß der Kornmaier da und wurde von einer Ahnung gestreift, einer Ahnung, wie es wohl den ganz und gar Einsamen ergehen mochte und wie von diesen alles über Bord geworfen wurde. Inklusive dem eigenen Verstand, inklusive der Dinge, die einem so gemütlich von einem Caféhausstühlchen betrachtet, so grundsinnvoll erschienen. Wie leicht war es, sich da zu erheben und Kornmaier fühlte etwas wie eine Wut. Ja, eine Wut auf diesen Mr. Reiht, und nun und ganz deutlich und ganz unumkehrbar war Kornmaier entschlossen, diesen Typen aus dem Verkehr zu ziehen. »Vielleicht auch alles ganz harmlos«, murmelte er und spürte, wie es sich ganz anders anfühlte. Nichts mit harmlos.

»Vielleicht alles ganz harmlos.« Kornmaier hatte das dem vorbeigehenden Mateo gesagt, aus dem Impuls heraus, einen Verbündeten an seiner Seite wissen zu wollen. Mateo hatte die Augenbrauen fragend hochgezogen, Kornmaier hatte kurz den Kopf geschüttelt, als wären diese Worte ein Versehen, und seine erkaltete Zigarre in den Aschenbecher gelegt.

Ein Blick zur Uhr: 20:12. Ein Plan musste her, ein Lockvogel, ein Irgendwas.

Es blieb nicht mehr viel Zeit.

Stefan hatte sich sein Camp-David-Shirt angezogen, so wie immer. Also, so wie immer, wenn er einen Ausflug machte. Dunkelblau. Große, weite Welt, er trug sie schon spazieren, diese Welt. Jetzt musste nur noch die passende Kohle her.

Er zog die Schublade seines Schreibtischs auf. Zwei He-Man-Figuren, Kaugummi, ein ungeöffnetes Kartenspiel, Warnhinweise für ein Protein-Getränk und seine rote Plastikrose lagen da. Außerdem vier verrostete Münzen, ein Anspitzer und drei Büroklammern.

Nun ging es los. Jetzt war er mal gespannt, wie viel Geld da rumkommen würde. Würde es dann reichen? War dann endlich alles so, wie er sich das dachte? Was wohl die dumme Mutter inzwischen machte? Ob die immer noch im Wohnzimmer am Sofa lehnte und es ordentlich bereute, so gemein gewesen zu sein?

Mit einem Ruck schloss er die Schublade und stand auf.

Im Flur hörte er Dorothea, wie sie über den Fliesenboden schlurfte und mit einer Tüte raschelte, ein Rascheln, das so klang, als würde etwas heimlich für Weihnachten eingepackt werden, so ein Rascheln war das und hätte Stefan das benennen können, dann hätte es etwas mit heiler Welt und Zuwendung zu tun gehabt und im allerweitesten Sinne war das auch tatsächlich der Fall.

Fünf Minuten später hatte Stefan samt Rose das Haus verlassen, auf der Digitalanzeige einer Uhr in einem Juweliergeschäft, das nur wenige Straßen weit entfernt lag, leuchtete eine 20:32.

Vor demselben Juweliergeschäft stand gerade ein gewisser Dr. Mitschke, besser bekannt als Dr. Mabuse.

Mitschke also stand dort und pflegte seinen Hang zum Perfektionismus. Sprangen wohl alle Zeiger gleichzeitig auf die drei Minuten nach halb neun? Würden alle digitalen Anzeigen parallel die zwei durch eine drei ersetzen?

Fast hätte er sie dabei übersehen.

In der Spiegelung der Fensterscheibe sah er auf der anderen Straßenseite diese Tusse. Diese mit dem von gegenüber – Mitschke registrierte, dass er immer noch keinen Namen hatte – diese Tusse also, die mit diesem Arsch von gegenüber liiert war. In seiner Schultertasche ruhte die hervorragende Knarre, die sich als hervorragende Attrappe entpuppt hatte. Sah aus wie echt. Der blöden Kuh unter die Nase halten und dann alles als Scherz abtun. »Gnädige Frau, warum so empfindlich, ein Scherzartikel und Sie, so eine Mimose und das, wo Sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, aber den Schmuck, den haben Sie schon mitnehmen wollen …« Mitschke überlegte sich in Fahrt. Jetzt nicht, kühl bleiben, sachlich bleiben. Mitschke guckte die Straße rauf und runter, keine Spur von seinem bescheuerten Nachbarn. Schien nach Süden zu laufen, diese dumme Trutsche, und Richtung Süden lag was? Der Parkplatz lag da. Wo war jetzt eine dunkle Ecke, eine schöne Gelegenheit und wie sollte er jetzt vor ihr dort sein, ohne aufzufallen, ohne zu rennen; am besten den Weg abschneiden, eine andere Straße wählen, schnell sein.

Mitschke stürmte los, der Abend schien doch noch etwas Gutes zu bringen.

Er hatte gezahlt, Mateo hatte das Trinkgeld mit einem Kopfnicken und einer leichten Verbeugung gewürdigt und Kornmaier war losgegangen. Er wollte wenigstens schon mal einen Blick werfen, gucken, wie der Typ so aussah, später eine Entschuldigung mailen und dann weitersehen. Und dann war da noch so ein Funken Hoffnung, dass es doch ganz harmlos war und er inzwischen nicht nur in seinem Haus, nein auch hier, in diesem netten alten Städtchen, Gespenster sah.

Dreihundert Meter zu Fuß vielleicht, er würde mit dem Auto an die Straßenecke fahren und warten. Im Wagen sitzen, aussteigen und an ihm vorbeilaufen, nein, noch besser: nach der Uhrzeit fragen. Ja, das war doch grob ein Plan.

Wenn nun Pollença ein Schachbrett war, ein sehr ungeordnetes, aber immerhin doch ein Schachbrett, auf das man von oben gemütlich draufgucken konnte, dann konnte man sie sehen und ahnen, dass diese vier Figuren wahrscheinlich sehr bald aufeinanderknallen würden. Ein jeder in seiner Welt und ein jeder mit seinem Ziel. Und so musste sich der Theophil Kornmaier nicht wirklich wundern, warum seine ganz persönliche Alarmleuchte angegangen war. Warmes Rotlicht pulste über den kleinen Parkplatz, huschte über Häuserwände, verdämmerte, leuchtete von Neuem auf und ließ Kornmaiers Befürchtung zur Gewissheit werden: Gefahr zog auf und er würde sich jetzt mal konzentrieren müssen.

Seine Hände lagen auf dem Lenkrad, er hatte das Radio ausgeschaltet, hatte Miles Davis einfach mitten im Trompetensolo verstummen lassen, eigentlich ein Verbrechen, und wartete. 20:48 Uhr. Musste ja bald auftauchen, der Mr. Reiht. Wie alt der jetzt wohl wirklich war? Ein Jüngelchen? Ein Herr mit schlanken, blassen Händen, der … Quatsch, nie hätte der so einen Unsinn geschrieben, also doch eher einer mit … Kornmaier stockte. Da kam jemand. Kam die Straße runter, schlenderte und schlenderte doch nicht, wandte den Kopf unablässig, langsam, aber stetig, suchte, guckte und blieb an der vereinbarten Straßenecke stehen.

Kornmaier war fasziniert. Den gab es also wirklich. Groß, dunkle Haare, ein stummes Gesicht ohne Ausdruck. Und fast hätte Kornmaier es übersehen, das, was da im Hintergrund passierte. Was da wie in einem Stummfilm ablief, absurd … Wie lange wollte er hier eigentlich noch sitzen und darüber nachdenken? Kornmaier riss die Wagentür auf, sprintete an dem stummen Gesicht vorbei und verpasste Dr. Mitschke eine saubere Rechte. Ein Glückstreffer in dem Kampfgetümmel. Mitschke ging zu Boden, brüllte sein »ey«, anscheinend gab es nur dieses eine »ey« in seinem Leben, immer auf dem gleichen Level, und versuchte den Tritten von Julia auszuweichen, die immer noch im Kampfmodus war, es nicht fassen konnte, die vor Wut krächzte, mehr war nicht drin, nicht mal ein Schrei. Ganz automatisch war Kornmaier in seinen Türstehermodus geraten, ruhig war er geworden, ließ Julia sich ein bisschen austoben, hob die Waffe auf, die da herumlag, wendete sie von links nach rechts, linste nach Mitschke, der nun schon auf allen vieren war, den musste man ja doch noch im Auge behalten, beobachtete für einen Moment, wie Mitschke einen Knöchel von Julia umklammerte, hockte sich neben ihn und klopfte sachte auf dessen Finger: »Na, na, na, jetzt mal loslassen hier.«

Julia fühlte sich merkwürdig überflüssig, so, als sei sie gar nicht da, also ließ sie das mit dem Boxen und Treten und stand mit hängenden Armen da.

Kornmaier war jetzt wieder aufgestanden, hob die Knarre in die Luft: »Und werte Herrschaften: Wem gehört das Gelumpe hier?« Nicht, dass er daran dachte, dass sie Julia gehören könnte, aber was wusste man schon, vielleicht zur Selbstverteidigung.

»Ein Spaß.« Mitschke hatte sich hochgerappelt: »Nur ein Spaß, aber die Dame hier …«, er befühlte sein Kinn, fuhr mit der Zunge über die Zähne, ob wohl noch alle da waren, »ist nicht ganz dicht.«

»Die Dame hier«, und wieder legte Kornmaier einen Arm um Julia, »die Dame hier legt keinen Wert auf Ihre Bekanntschaft.« Und wieder zog er sie noch ein wenig näher an sich heran: »Schatz, was meinst du, wollen wir den Herrn anzeigen?«

Kornmaier war zwar in mancherlei Hinsicht begriffsstutzig, aber das merkte er dann doch, Julias Fluchtreflex war zu deutlich gewesen, um ihn zu ignorieren. Sie wollte den Typen nicht anzeigen, warum? Man musste doch diesen Gestörten mal einbremsen. Kornmaier fühlte sich seltsam ernüchtert. Was sollte das hier werden, John Wayne rettet Cinderella? In welchem Zeitalter lebte er denn? Heutzutage wollte doch keine Frau mehr gerettet werden, oder doch? War Julia deswegen so sperrig? Und was hatte er da für dämliche Sachen gesagt, er hatte sich aufgespielt, so war das doch. Ihm war mal wieder nach Flucht. Sofort.

»Ich«, Kornmaier löste seinen Arm von Julias Schulter, »ich denke mal, wir kommen jetzt alle zurecht.« Kornmaier taxierte Mitschke, der für den Moment ungewohnt resigniert aussah. Würde wohl gehen, der musste das alles erst mal einordnen.

»Ich«, ja, was jetzt, einfach gehen? Schatz zurücklassen?

»Ein Termin, da gibt es noch einen Termin, hab ich fast vergessen, ich bring dich noch zum Wagen.« Dünn, äußerst dünn die Performance, Kornmaier. »Wo steht es denn, dein Auto?«

Und jetzt zögerte Julia, bereute ihre Untätigkeit. Sie hatte die Tür ohne Not ins Schloss fallen lassen, die Gelegenheit war da gewesen. Vermurkst hatte sie’s, die Eroberung von Kornmaier war wieder schwerer geworden, das war ja wohl alles nicht wahr.

»Ja, hier drüben gleich.«

Mitschke war schon kein Thema mehr, gab es eine ärgere Kränkung?

Sie gingen los, ließen Mitschke zurück, der für einen Moment aus seiner normalen Umlaufbahn geschossen worden war. War ihm noch nie passiert, oder? Nein, noch nie. Das war … Mitschke hatte keine Ahnung was das war. Im Grunde war ihm danach, da sitzen zu bleiben und auf sein altes Selbst zu warten. Das würde dann schon Bescheid wissen, was zu tun sei.

Als sie am Auto waren, wandte sich Kornmaier noch mal um, die Straßenecke lag verwaist. Mr. Reiht war samt seiner Rose verschwunden.

Alles so wie immer, die dunkle Landstraße, die Schatten auf dem Asphalt, die Schafe auf den Weiden, der nächtliche Duft und doch war alles anders.

Kornmaier haderte. Litt, krümmte sich wie nach einem Tiefschlag, was war falsch, was hatte er falsch gemacht? Lionel Hampton gleich wieder ausschalten. Keine Musik, dem Elend ins Auge schauen. Fast hätte er mal wieder den Abzweig verpasst, was regte er sich so auf? War ja nur eine Bagatelle, eine Bagatelle, Theo!

Und auch das wie immer. Vor der Brücke bremsen, aussteigen, das Haus angucken, aber das sah er heute gar nicht. Warum hatte er so blödes Zeug gequatscht, »Gelumpe« hatte er gesagt, gedrechselt geredet hatte er. »Die Dame legt keinen Wert auf Ihre Bekanntschaft.« Es seufzte aus Theo, er redete doch gern mal gedrechselt, aus lauter Bockigkeit gegen die Schnelllebigkeit dieser Welt, also, was regte er sich auf? Theo, was regst du dich auf. Kornmaier sah blicklos auf das Haus, das Feld, die Schafe, es war sonnenklar und es war zum Heulen, ein Elend: Kornmaier hatte sich in Julia verguckt.

Er stieg wieder ein, sein Blick fiel auf die Knarre. Auf dem Beifahrersitz lag sie und sah aus wie echt. Das Wort Gnadenschuss fiel Kornmaier ein.

Er machte die CD an – klar: Fahrstuhl zum Schafott lief, was sonst – griff nach der Waffe, hob sie zur Schläfe und drückte ab.

Bienenfleißig bist du, Totengräberchen. Du frisst und gräbst und arbeitest, dass es eine Freude ist. Zufrieden kannst du sein.

Schlecht vergraben ist der Schmaus. Wie zur Mahnung guckt ein Zeigefinger aus der brüchigen Erde heraus. Hinter dir rollt der Mond über den Himmel und noch weiter weg schwappt träge das Meer gegen ein sandiges Ufer. Eine lachsfarbene Plastiktüte kann sich nicht zwischen Wasser und Strand entscheiden. Ein Zahnarzt wartet auf sein Selbst. Ein guter Junge schließt eine Schreibtischschublade und eine Frau kämmt ihre Haare. Eine Galeristin entfernt die Spinnweben von ihren Bildern und in München vermisst ein Clubbesitzer seinen Türsteher.

Eine Katze sitzt auf einem Liegestuhl und schaut den Mond an.