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Leipzig, November 1993
»Das hast du ja toll hingekriegt«, wurde Ricarda von Conny vorwurfsvoll im Wohnheim begrüßt. Ohne weitere Erklärung lief Ricardas Kollegin an ihr vorbei und eilte die Treppe hinunter.
Ricarda blieb stehen und sah der jungen Frau verwundert hinterher. »Was ist denn? Conny, warte doch mal.«
Conny reagierte nicht und verschwand durch die verglaste Tür in den Aufenthaltsraum. Ricarda stand unschlüssig mit ihrer Reisetasche in der Hand im Flur. Sie wollte wissen, was los war, doch erst mal musste sie raus aus ihrer Kleidung. Das Wetter war ekelhaft, eine Mischung aus Regen und Schnee, die Fahrt auf der Autobahn war eine einzige Quälerei gewesen.
Conny würde nicht weglaufen, entschied sie und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Der kleine Raum war wie ein Hotelzimmer eingeteilt, ein winziger Flur, ein Zimmer mit Bett, Tisch und Stuhl, ein kleines Badezimmer. Ziemlich unwohnlich alles. Es war ihnen nicht erlaubt, irgendetwas in dem Raum zu verändern. Dazu zählten auch Bilder an den Wänden. Was war eigentlich schlimm daran, ein paar Bilder aufzuhängen, damit man sich heimischer fühlte, fragte sich Ricarda jedes Mal, wenn sie den Raum betrat.
Heute aber wanderten ihre Gedanken zu Conny. Sie mochte die junge Kollegin und fragte sich, was sie verbrochen haben könnte, dass die Frau so verärgert war. Conny war immer bereit, den Dienst mit ihr zu tauschen, wenn sie in der Woche zu einem Termin nach Dresden musste. Schon zweimal hatte Ricarda Anwalt Engelmann unter der Woche aufsuchen müssen, wegen irgendwelcher Unterlagen, die es nachzureichen galt. Nur dafür, dass die Kanzlei ihr nun schriftlich ihr Bedauern ausgedrückt und das Mandat niedergelegt hatte. Das Schreiben war am Samstag im Briefkasten gewesen. Engelmann hatte unterzeichnet. Eine Begründung hatte er nicht hinzugefügt.
Außerdem rückte Weihnachten näher. Sie hatte noch kein Geschenk für Ines, kam wegen der Schichten nicht zum Einkaufen. Ein erster Urlaubsantrag war nicht genehmigt worden. Die Begründung, Urlaub musste am Jahresanfang eingereicht werden, war lächerlich, war sie doch erst seit anderthalb Monaten hier beschäftigt. Wie es aussah, würde sie gerade die zwei Weihnachtsfeiertage daheim sein können.
Ricarda seufzte, stellte ihre Tasche ab und zog sich die Jacke aus. Als sie Schritte im Gang hörte, ging sie zur Tür. Es war einer der Monteure, aus Neubrandenburg, soweit sie wusste.
»Jochen«, rief sie ihm nach. »Was ist denn mit Conny los? Sie ist sauer auf mich!«
Der Mann verzog den Mund. »Diese Idioten«, murmelte er, »sie haben uns das Frühstück gestrichen!«
Herr Stelzel breitete die Hände aus. »Tja«, meinte er zynisch, »wenn Ihnen das Frühstück nicht zusagt, das Ihnen von der Firma gestellt wird, dann bleibt es eben weg.«
Ricarda biss für einen Moment fest die Zähne zusammen. Sie konnte diesen jungen Schnösel nicht ausstehen. Schon von der ersten Sekunde an, als sie das erste Mal sein Büro betreten hatte. Sie hätte ihrem Instinkt trauen und den Arbeitsvertrag nicht unterschreiben sollen.
»Ich hatte doch nur nachgefragt, ob es nicht möglich sei, dass es ein wenig variiert. Es ist jeden Tag dasselbe.« Ein kleines Brötchen, eine Graubrotschnitte, ein kleines Stück Butter, eine Scheibe geschmackloser Käse, eine Scheibe Salami aus der Packung, ein halbes Ei, eine kleine Packung Erdbeermarmelade. Jeden Tag.
»Wie gesagt. Es ist, wie es ist. Dieses Frühstück wird von der Firma gestellt. Ein wenig mehr Dankbarkeit stünde Ihnen allen gut zu Gesicht.« Stelzel lächelte kalt.
Ricarda schnappt nach Luft. Ihnen allen. Damit waren wohl alle Ossis gemeint. Die Empörung schnürte ihr die Kehle zu. Immerhin bezahlte sie für die lieblose Unterkunft, arbeitete oft sechs Tage die Woche für einen Lohn, der kaum mehr war als das Arbeitslosengeld, das sie vorher bekommen hatte.
»Aber warum nehmen Sie dann auch den anderen das Frühstück weg? Ich war es doch, die sich beschwert hat«, presste sie heraus.
»Als Erziehungsmaßnahme.« Stelzel sah Ricarda provozierend in die Augen.
Wie unverschämt und überheblich das war. Ricarda hätte ihm das am liebsten ins Gesicht geschrien. Aber das konnte sie sich nicht erlauben. Eine fristlose Kündigung wirkte sich auf das Arbeitslosengeld genauso aus, als hätte sie selbst gekündigt. Dieser junge Mann wusste ganz genau, wie er sich gab.
Stelzel gewann das stumme Blick-Duell. Ricarda blickte nach unten.
»Ich nehme an, wir sind fertig«, stellte sie fest und wollte aufstehen.
Stelzel hob die Hand. »Da Sie schon einmal da sind«, sagte er und holte einen Zettel heraus. »Mir ist aufgefallen, dass Sie schon des Öfteren Ihren Dienst mit Frau Willem getauscht haben.«
»Ja, ich muss gelegentlich heim, in privater Sache.« Ricarda spürte, wie sie sich innerlich verkrampfte.
»Und was machen Sie da?«, fragte Stelzel.
Das geht dich gar nichts an, sagte sie in Gedanken. »Wie gesagt, in privater Angelegenheit. Wir tauschen einfach nur den Dienst. Ich übernehme dafür meistens Frau Willems Samstagsdienste. Dann kann sie drei Tage bei ihren Kindern sein.«
»Denken Sie eigentlich, wir machen diese Dienstpläne aus Spaß?«, fragte Stelzel und hielt das Blatt vorwurfsvoll in die Höhe.
Ricarda schwieg. Sie hasste Suggestivfragen. Die kannte sie von ihrer Mutter zur Genüge. Solche Fragen dienten nur dazu, sein Gegenüber kleinzumachen. Sie hob entschlossen den Kopf und sah Stelzel unverwandt in die Augen. Vermutlich wäre es besser, sie antwortete ihm. Doch sie wollte dem Typen keinen Zentimeter Boden mehr überlassen.
Dieses Mal gewann Ricarda das Blick-Duell. Stelzel ließ den Arm mit dem Blatt sinken.
»Ab sofort machen Sie Ihren Dienst, wie er auf dem Plan steht, Frau Weber. Wenn Sie Sonderwünsche haben, müssen Sie diese anmelden, bevor der Dienstplan erstellt wird.«
»Das kann ich aber nicht, weil ich das nicht immer vorhersehen kann. Außerdem, Herr Stelzel, ist es doch egal, wer den Dienst macht. Hauptsache, er wird gemacht.«
Aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte.
»Wir entscheiden hier, was egal ist und was nicht. Es ist ab sofort untersagt, den Dienst ohne meine Genehmigung zu tauschen. Frau Willem wird dementsprechend auch noch in Kenntnis gesetzt. Übrigens haben Sie durch unser Gespräch eine halbe Stunde Arbeitszeit eingebüßt, die Sie heute Abend gleich nachholen können! Auf Wiedersehen.«
»Hör mal, Conny, wenn du auf mich sauer bist, dann haben die genau erreicht, was sie wollen. Nämlich, dass wir uns untereinander bekriegen und keiner sich mehr irgendwas zu sagen traut. Dann hat sich ja im Grunde gar nichts geändert!«
Ricarda war froh, dass Conny sie überhaupt in ihr Zimmer gelassen hatte. Nun saß ihre Kollegin auf dem Bett, die Arme vor der Brust verschränkt und weigerte sich, sie anzusehen. Es war Abend, fast schon Nacht.
Ricarda versuchte es noch einmal. »Dir hat doch das Frühstück auch nicht gefallen. Dir hängt es zum Hals raus, hast du gesagt. Wir sollen dankbar sein, hat dieser Schnösel gesagt. Als ob der nur unseretwegen in den Osten gekommen ist, damit wir Arbeit haben.«
Conny seufzte und drehte sich jetzt endlich zu Ricarda um. »Du hast ja recht, aber ich habe schon eine Abmahnung. Ich kann mir nicht leisten, den Job zu verlieren. Karsten ist seit zwei Jahren arbeitslos.«
»Warum hast du denn eine Abmahnung? Meinetwegen?«, fragte Ricarda entsetzt.
»Nein, nicht wegen dir. Ich habe ein paar Pappkartons mitgenommen, für einen Umzug. Die habe ich aus dem Müll geholt. Jemand hat das gesehen und gemeldet. Das ist Diebstahl, haben sie gesagt.«
Ricarda schüttelte den Kopf und setzte sich jetzt dicht neben Conny auf das Bett.
»Ob das jetzt immer so weitergeht?«, fragte Conny müde. »Ich bin so deprimiert. Die behandeln uns alle wie Menschen zweiter Klasse. Karsten war Schichtleiter im Tagebau. Gefeuert. Mein Vater hat bei der Bahn gearbeitet. Gefeuert. Mein Bruder hat einen Klempnerbetrieb seit drei Jahren und rennt jeder Rechnung hinterher. Und bekommt so oft sein Geld nicht. Und wenn der einen Auftrag bekommt, muss er Sicherheiten hinterlegen, anstatt der Kunde. Wie bekloppt ist denn das? Der krebst immer am Existenzminimum herum. Oder meine Mutter: Die ist seit dreißig Jahren Lehrerin, jetzt haben sie an der Schule eine Wessi-Schulleiterin, die ihnen erklärt, wie man Kinder erzieht. Als wären wir alle nichts wert. Und meine Freundin in Magdeburg, die arbeitet als Schreibkraft in einer Immobilienfirma. Was denkst du, was die erzählt? Wer kauft die Häuser hier auf? Das sind alles Wessis. Kein Ossi hat so viel Geld. Schau dich doch um. Magdeburg, Leipzig, Dresden, buchstäblich jedes Grundstück wird an einen Wessi verkauft. Und sieh dir unsere Politiker an, die kommen auch alle aus dem Westen. Ricarda, ich habe mal Biologie studiert in Leipzig, ich wollte neunundachtzig promovieren. Jetzt gibt es meine Fachrichtung gar nicht mehr und ich könnte bestenfalls als Laborassistentin anfangen, wenn ich überhaupt was fände. Und wenn ich auf Lehramt studieren wollte, müsste ich noch mal von vorne anfangen. Stattdessen muss ich mich von den Leuten am Telefon anpflaumen lassen und mich mit so einem Blödmann …«
»Conny, ich weiß.« Ricarda legte einen Arm um die Schulter ihrer Kollegin. »Das wird sich schon sortieren, irgendwann.« Das hoffte sie immer noch. Aber keiner konnte sagen, wie lange das dauern würde.
Eine Weile saßen die beiden Frauen schweigend nebeneinander. Dann fiel Conny etwas ein. Sie sah Ricarda von der Seite an. »Und bei dir, jetzt sag mal, was ist denn rausgekommen?«
Ricarda schüttelte den Kopf. »Nichts. Stimmt, ich wollte noch den Anwalt anrufen«, fiel ihr jetzt ein. »Die wollen den Fall nicht übernehmen.«
Conny zuckte empört zusammen. »Warum denn nicht?«
»Haben sie nicht gesagt.«
»Aber kannst du denn nicht einfach selbst zur Polizei gehen? Dazu brauchst du doch keinen Anwalt.«
Daran hatte Ricarda insgeheim auch schon gedacht. Aber ihr war auch klar, dass das ein Schritt war, der kein Zurück mehr erlaubte.