14
Dresden, Ende November 1993
In der Nacht zum Sonntag schlief sie sehr schlecht. Zwar hatte sie sich mit dem Gefühl hingelegt, alles getan zu haben, was sie hatte tun können. Trotzdem war ihr, als sei das noch nicht genug gewesen. Es war schon hell, als sie aufwachte. Sie war verschwitzt und spürte ein kleines gemeines Ziehen im Unterleib. Sie konnte nicht einmal ausmachen, ob es wirklich ein körperlicher Schmerz war oder nur Einbildung. Eine dunkle Vorahnung beschlich sie. Keine Panik, aber stille Angst. Es kam ihr vor, als habe sie gar nicht geschlafen. Als wäre sie immer wach gewesen und habe mit einem Ohr auf die Geräusche in der Wohnung gelauscht.
Ricarda richtete sich im Bett auf. Eigentlich konnte nichts sein. Sie war sich sicher, abgeschlossen zu haben, außerdem wäre sie garantiert aufgewacht, wenn sich jemand an der Tür zu schaffen gemacht hätte. Sie war nicht die Einzige, die einen Schlüssel zur Wohnung hatte. Steffen und Ines besaßen auch einen. Wenn ihrer aber im Schloss steckte, konnte kein anderer aufschließen. Aber steckte ihr Schlüssel wirklich im Schloss? Beinahe zornig warf Ricarda die Decke beiseite und wollte aufstehen, da überfiel sie ein massiver Schmerz im Unterleib, dass sie sich krümmte und sitzen bleiben musste. Der Krampf war schnell vorbei, doch er hatte Erinnerungen wachgerufen. Erinnerungen an die Zeit kurz nach der ersten Entbindung, in der die Frauenärztin ihr bescheinigt hatte, dass alles wieder in Ordnung sei. Körperlich mochte das zugetroffen haben, doch Ricarda hatte eine Ahnung, woher dieser Schmerz kam. Es war das Gefühl, als wenn jemand in ihr Innerstes gegriffen und etwas herausgerissen hätte. Nein, sie durfte nicht wieder damit anfangen, durfte sich nicht hineinsteigern. Sie musste cool bleiben, wie man heutzutage sagte. Ricarda stand jetzt doch langsam auf und tastete sich in den Flur. Die Tür war abgeschlossen, der Schlüssel steckte, alles war wie immer. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und sah jetzt erst auf die Uhr an ihrem Weckradio. Es war schon kurz vor zwölf Uhr mittags. Ricarda stöhnte auf. Das mochte sie überhaupt nicht. Der halbe Tag war vergeudet. Aus dem Frühstück würde ein Mittagessen werden. Und ehe man sich versah, war es schon wieder dunkel. Außerdem telefonierte sie meist am Sonntagvormittag mit Ines. Hatte sie das Telefonklingeln womöglich überhört?
Ricarda zog sich den Morgenmantel über, dabei fiel ihr Blick in den Spiegel. Sie ging näher heran, betrachtete missmutig ihr Spiegelbild, die Schwellungen unter den Augen, und zupfte sich mit dem Zeigefinger die Haut an den Augenwinkeln glatt. Abgenommen hatte sie, auf keine gut Art. Sie sah abgekämpft aus. Dann schob sie sich die Hände ins Haar und versuchte es ein wenig aufzulockern. Als das Telefon zu klingeln begann, ging sie rasch ins Wohnzimmer.
»Na, du!«, begann sie, doch es war nicht Ines, mit der sie sprach.
»Ich bin’s, Steffen!«
»Ist was passiert?«, fragte Ricarda sofort, denn es war ungewöhnlich, dass er um diese Zeit anrief, und schon sein Tonfall versprach Ungutes.
»Also, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Ich habe lange überlegt.«
»Steffen!«, ermahnte ihn Ricarda, sie hasste dieses Herumdrucksen. Etwas Schlechtes wurde dadurch auch nicht besser.
»Also, sag mal, was hast du dir denn dabei gedacht?«, fragte Steffen.
»Wobei?« Ricarda wollte Zeit schinden. Es konnte doch nicht sein, dass er schon von ihrem Besuch bei der Polizei wusste. Oder hatte Yvonne ihm davon erzählt? Die beiden kannten sich doch gar nicht persönlich.
»Die Karten!«, sagte Steffen.
Ricarda wusste nun überhaupt nicht, was er von ihr wollte.
»Ricarda, diese Glückwunschkarte und die Trauerkarte, was soll das? Was ist denn bloß in dich gefahren? Ich dachte, das Thema ist längst erledigt!«
Das Thema, wiederholte Ricarda in Gedanken. Allein diese Formulierung stieß ihr auf. Dann erst realisierte sie, was Steffen gesagt hatte.
»Du hast sie auch bekommen?«, rief sie mit leisem Entsetzen.
»Ich habe mir erst gar nichts dabei gedacht. Ich dachte, das sei Werbung. Und dann dachte ich, es sei eine Verwechslung. Aber dass du deinen Eltern auch welche schickst, …«
»Jetzt halt mal die Luft an!«, unterbrach Ricarda ihn empört. »Ich habe auch welche bekommen. Du selbst hast eine davon aus dem Briefkasten geholt und zur Post gelegt! Glaubst du etwa, ich verschicke so etwas? Bei dir piept’s wohl!«
»Wer soll es denn sonst sein?«, sagte Steffen zögernd nach einer Weile.
»Also, sag mal«, fuhr Ricarda auf, »glaubst du im Ernst, ich kaufe solche Karten und schicke sie an dich und meine Eltern …« Ricarda stockte. »Heißt das eigentlich, sie haben dich angerufen deshalb?«
»Na ja …«, druckste Steffen herum.
»Meine Eltern bekommen also solche Karten und vermuten sofort, dass sie von mir sind und rufen dann dich an?« Ricarda spürte das Ziehen wieder. Als wäre eine alte Narbe aufgerissen.
»Das ist ja nicht verboten!«, setzte Steffen sich zur Wehr.
Ricarda kannte Steffen seit ihrem siebzehnten Lebensjahr. Seit acht Jahren waren sie getrennt und geschieden, doch diesen Tonfall kannte sie nur zu gut an ihrem Exmann.
»Ihr habt Kontakt, nicht wahr.«
»Das weißt du doch, bei Geburtstagen …«
»Lüg nicht!«, fuhr Ricarda ihn an.
»Na, und? Was ist denn schon dabei?« Steffen hatte jetzt auch die Stimme erhoben, und im Hintergrund sagte jemand etwas. Ricarda verstand es nicht, doch offenbar mischte sich Steffens Freundin ein. »Es ist ja nicht verboten, immerhin sind sie Ines’ Großeltern. Wir telefonieren gelegentlich. Das ist doch normal!«, verteidigte sich Steffen jetzt.
»Also, ich habe deine Eltern seit der Scheidung gerade zwei Mal gesehen!« Ricarda hieb sich wütend mit der Faust auf den Oberschenkel. Es hatte sich nichts geändert. Es hatte nichts gebracht, dass sie von dem Streitthema abgelassen hatte. Außer dass sie alle ihre Ruhe gehabt hatten, vor der nervigen kleinen Ricarda mit ihren lästigen Fragen. Die steckten alle unter einer Decke. Die ganze Bagage, Vater mit seinen seltsamen Geschäftsleuten aus dem Westen, diesen CSU -Männern, mit denen er seit Jahren verkehrte. Ihre Mutter, die sich in der Rolle der trauernden Großmutter gefiel, und jetzt auch noch Steffen. War es nicht seltsam, dass ihr Vater das Grundstück, das er damals fast geschenkt bekommen hatte, auch nach der Wende behalten durfte, obwohl in der Regel jeder ehemalige DDR -Flüchtling sein Grundstück zurückbekam.
»Du glaubst mir nicht!«, zischte sie und bekam vor Wut kaum ihre Lippen auseinander. »Du denkst immer noch, die Karten sind von mir. Warum sollte ich denn so etwas machen? Was soll ich denn davon haben, sag’s mir!«
»Wer soll denn überhaupt etwas davon haben?«, hielt Steffen dagegen.
Nun konnte Ricarda ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fühlte sich verraten, gerade von Steffen, der immer so getan hatte, als wollte er den Familienfrieden retten, selbst als sie schon geschieden waren. Steffen, bei dem sie gedacht hatte, sie könnten sich wieder annähern. Aber es war, wie es schon immer gewesen war, sie stand außen vor. Sie war diejenige, die alles kaputt machte.
Sie hätte ihm gerne gesagt, wie sinnlos und enttäuschend das alles war, wie weh ihr das tat, auch noch nach all den Jahren, aber eigentlich war genug gesagt worden, dachte sie, und legte auf.
Sie brauchte ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Im Bad warf sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und bürstete sich die Haare durch. Dann setzte sie in der Küche Teewasser auf und begann, Frühstück zu machen. Sie hatte keinen Hunger, doch sie musste sich beschäftigen, musste versuchen, dem Tag einen normalen Verlauf zu geben. Dann fühlte sie sich bereit, Ines anzurufen. Sie wollte nichts von dem Streit mit Steffen erwähnen, sie wollte nur reden, normal sein.
Beim ersten Anruf ging Ines nicht ans Telefon. Ricarda sah auf die Uhr. Es war nur ein wenig später als sonst, und sie wusste, Ines ging sonntags um diese Zeit so gut wie nie aus dem Haus. Vielleicht war ihr Freund zu Besuch. Ricarda hatte ihn nur mal auf einem Foto gesehen, obwohl Ines schon ein halbes Jahr mit ihm zusammen war.
Sie versuchte es noch einmal und ließ es lang klingeln, ehe sie wieder auflegte. Das ungute Gefühl in ihrem Magen wurde zu einem schweren, heißen Stein. Sie zwang sich, nicht in Panik zu geraten, normale Gründe zu finden, warum Ines nicht ans Telefon ging. Noch weitere zehn Minuten würde Ricarda warten, bis sie es wieder versuchen wollte. Nach sieben Minuten hielt sie es nicht mehr aus.
Endlich hob Ines ab. »Ja?«, fragte sie leise.
»Meine Güte«, rief Ricarda und überspielte ihre Erleichterung nur schlecht. »Du brauchst aber lange, habe ich dich etwa geweckt?«
»Nein, ich habe nur … Ich konnte nicht.«
»Hast du Besuch?«, fragte Ricarda, doch sie spürte schon an der Art ihrer Tochter, dass etwas anders war als sonst. Wage es nicht, Steffen, dachte sie, wage es nicht, meine Tochter gegen mich aufzuwiegeln.
»Nein, es ist alles okay, Mutti.«
»Bist du krank?«, versuchte Ricarda es auf ein Neues.
»Nicht so richtig.«
»Menschenskind, Ines, was heißt denn das? Musst du zum Arzt? Soll ich mich krankmelden und kommen?« Warum nicht, dachte sie, was für ein Gedanke. Einfach weg hier. Ganz weg, woanders anfangen, wo mich keiner kennt. Nur Ines und ich.
»Nein, Mutti, musst du nicht.«
»Ines, ich höre doch, dass etwas ist mit dir. Willst du das Studium abbrechen? Du weißt, ich würde dich nie zwingen …«
»Mutti, ich werde verfolgt!«
»Wie bitte?«
»Ich glaube, ich werde verfolgt. Nein, ich bin sogar sicher.«
»Hast du etwa auch seltsame Post bekommen?«
»Ja, solche komischen Karten. Du etwa auch?«, fragte Ines verblüfft.
Steffen, du Idiot, triumphierte Ricarda, würde ich meiner eigenen Tochter so etwas antun?
»Ja, ich auch, und Papa und die Großeltern auch. Aber das ist nichts. Ich war bei der Polizei deswegen. Das ist nur ein böser Streich. Eine Gemeinheit. Wirf sie weg. Tu einfach so, als sei nichts passiert.«
»Mutti, da ist ein Typ. Seit ein paar Tagen schon, eigentlich schon vorige Woche. Ich dachte erst, das sei Zufall. Der hat einen Fotoapparat.«
Ricarda konnte vor Schreck zuerst gar nicht sprechen. Dass es jemand auf sie abgesehen hatte, war schlimm genug. Aber wenn der jetzt auch noch Ines belästigte, das ging zu weit.
»Bist du dir wirklich sicher?«, fragte sie, um wenigstens irgendetwas zu sagen.
»Ja, wirklich, Mutti. Er taucht immer wieder auf, so in der Menge, verstehst du. In der Mensa oder im Kaufhaus, an der Bushaltestelle. Ich schätze, der ist so um die fünfzig, übergewichtig, hat eine Glatze, trägt eine verspiegelte Brille und hat eine Kamera mit großem Objektiv umhängen. Ich bin auch nicht die Einzige, die das bemerkt hat.«
Ricarda überlegte fieberhaft. Am liebsten hätte sie gesagt, geh auf den Typen zu, frag ihn, wer er ist, oder schnapp dir zwei, drei Kommilitonen, die den Kerl verdreschen, oder zeig ihn gleich an.
»Bleib in deiner Wohnung. Lass niemanden rein. Hast du einen Fotoapparat? Kannst du ihn fotografieren?«
»Nein, der ist zu weit weg. Außerdem dreht er sich immer weg, sobald ich in seine Richtung sehe, und dann haut er ab.«
»Ich komme zu dir, Ines. Ich lass mich krankschreiben!«
»Nein, Mutti, komm nicht. Ich wollte es dir eigentlich gar nicht erzählen. Bleib in Dresden, okay? Hast doch genug Stress auf Arbeit.«
»Aber ich habe keine Ruhe hier. Wenn dir was passiert …«
»Mir passiert nichts. Ich habe Freunde, die passen auf mich auf. Ich geh nicht mehr alleine irgendwohin, versprochen!«
»Besorg dir Reizgas!«
»Das habe ich schon, Mutti. Du musst dir also keine Sorgen machen. Ich frage mich nur, wer so was macht. Und die Sache mit den Karten, was soll denn das?«
»Ich weiß es auch nicht, Ines.«
Ricarda kniff die Lippen zusammen. Das Ziehen im Unterleib ließ einfach nicht nach. Doch das war nicht der Grund, warum sie mit den Tränen kämpfte. Du hast eh Stress auf Arbeit, hatte Ines gesagt. Woher wusste sie das? Sie hatte ihr das nicht erzählt. Das musste sie von Steffen wissen. Er hatte mit Ines über sie gesprochen, und das erklärte auch Ines’ Verhalten gerade eben. Hieß das vielleicht, sie traute ihrer eigenen Mutter zu, dass sie die Karten schickte, dass sie sie sogar überwachen ließ?
War das mein Leben, fragte sich Ricarda und sah sich müde um. Neue Möbel, ein paar CD s und Schallplatten, ein paar hübsche Bilder an der Wand, ein blöder Job, ein wenig Freizeit und gelegentlich eine Urlaubsreise, allein oder mit Yvonne. Das war doch alles nicht mehr als eine schlechte Verpackung aus gebrauchtem Geschenkpapier. Nichts als eine Aneinanderreihung von kaum beeinflussbaren Ereignissen, dazu ein paar unerfüllte Träume und enttäuschte Hoffnungen, mühsam zusammengehalten von einer beliebig zu mischenden Gefühlspalette. Sie zog scharf die Luft durch die Nase ein. Sie wollte das nicht länger hinnehmen. Bis jetzt waren es die Umstände gewesen, die sie abgehalten hatten vom Handeln. Erst waren es der Staat und seine Helfer gewesen, die sich ihr entgegengestellt hatten. Jetzt waren es andere Gründe, Geldnot und Existenzangst. Doch was hatte sie schon zu verlieren? Die paar Möbel in ihrer Wohnung? Das wenige Geld auf dem Konto? Nein, sie würde sich das nicht gefallen lassen.
Ricarda holte ihre Handtasche und setzte sich dann auf das Sofa, um den gesamten Inhalt der Tasche auf dem Couchtisch auszuleeren. Sie hatte die Visitenkarte schnell gefunden und betrachtete sie einen Moment nachdenklich. Vielleicht war sie ihm gegenüber beim letzten Telefonat etwas ungerecht gewesen.
Sie hatte noch nie die Nummer eines Mobiltelefons gewählt, sie kannte auch kaum Leute, die so etwas besaßen. Die wenigen, die in der Öffentlichkeit damit telefonierten, wirkten immer etwas angeberisch. Sorgfältig tippte Ricarda die lange Nummer ein und lauschte dem Tuten. Erst nach wiederholtem Klingeln ging jemand ans Telefon.
»Ja?«
»Guten Tag, hier spricht Ricarda Weber.«
»Frau Weber!«, sagte Anwalt Engelmann hörbar überrascht.
»Ich hoffe, Sie bekommen jetzt keinen falschen Eindruck von mir. Ich dachte nur … Ich war ja etwas schroff zu Ihnen. Also, ich wollte mich entschuldigen. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht … also, wenn Sie Zeit hätten … wenn Sie heute noch nichts weiter vorhaben … Vielleicht könnten wir einen Kaffee zusammen trinken irgendwo?«
Am anderen Ende des Hörers blieb es einige Augenblicke still.
»Natürlich, sehr gern«, sagte Engelmann schließlich. »Wirklich, sehr gern!«