Juan lächelte, als er den süßlichen Geruch von Hoppe’s No. 9 Waffenreinigungslösung wahrnahm, der in der Luft hing.
Die Waffenkammer der Oregon war weder die größte noch die – was ihr Ambiente betraf – bestausgestattete Abteilung auf dem Schiff, aber sie war eine von Juans liebsten. Zusammen mit der Werkstatt, dem Maschinenraum und dem Moon Pool auf dem untersten Deck gelegen, war sie der Ort, wo nahezu alle Handwaffen und deren Munition an Bord der Oregon aufbewahrt wurden. Die einzige bedeutsame Ausnahme war Juan Cabrillos persönliche Kollektion von Maschinenpistolen, Gewehren und diverser Handfeuerwaffen. Diese bewahrte er in einem antiken Eisenbahnsafe aus dem neunzehnten Jahrhundert auf, der in seinem Büro stand und außerdem Bargeld verschiedener ausländischer Währungen sowie Goldbarren und Diamanten im Gesamtwert von einigen hunderttausend Dollar enthielt, die für unvorhergesehene Zahlungen im Zuge ihrer diversen Operationen benötigt wurden.
Als passionierter Waffenliebhaber nutzte Juan jede Gelegenheit – inklusive eines fast täglichen Trainings auf dem schallgedämpften Schießstand direkt nebenan –, um in diesen Teil des Schiffes hinabzusteigen. Aber er war nicht hier, um sich die Zeit zu vertreiben.
Noch immer erschöpft von der Mission und voller Sorge wegen Linc, wollte Cabrillo mehr über das AK -47, das Raven aus der Flugbasis mitgebracht hatte, in Erfahrung bringen, ehe er sich aufs Ohr legte. Die wahre Herkunft dieser Waffe zu ermitteln, könnte ihnen vielleicht neue Erkenntnisse über das nächste Glied in der Pipeline-Kette liefern.
Mike Lavin, der leitende Waffenmeister der Oregon , stand an seiner Werkbank, eine Lederschürze um den Leib gebunden, und auf der Stirn prangte eine Juwelierbrille mit starker Vergrößerung. Ravens AK war vollkommen auseinandergenommen worden. Seine Einzelteile lagen in einer akkuraten Reihe angeordnet und mit Cosmoline gereinigt auf der Arbeitsplatte.
»Was haben Sie für mich, Mikey?«, fragte Juan.
Lavin lächelte. Mit Daumen und Zeigefinger nahm er ein Stück Metall von der Werkbank und hielt es hoch.
»Der vordere Schildzapfen«, sagte Cabrillo. »Sozusagen die Seele des AK .«
»Sie werden erkennen, dass es sich um geschmiedeten und nicht gestanzten Stahl handelt.« Lavin legte das Bauteil auf seine Handfläche und ließ es hin- und herrollen, um sein Gewicht zu demonstrieren. »Und der Stahl ist von hoher Qualität. Schauen Sie mal.«
Lavin legte den Zapfen auf die Arbeitsplatte, griff nach einem Teleskoparm und zog ein Vergrößerungsglas zu Juan herüber. Der Waffenmeister deutete mit dem Zeigefinger, dessen Spitze fehlte, auf eine Markierung auf dem Zapfen.
»Sehen Sie diese Zahl? Die 21 mit den beiden Kreisen darum?«
»Klar.«
»Das ist das Zeichen der NITI -Fabrik in Kazanlak.«
»Bulgarien?«
»Ja. Erstklassiges Material in der AK -Welt. Vorwiegend vom Militär verwendet.«
Die bulgarische Verbindung überraschte Juan. Er hatte angenommen, dass Albanien ihre nächste Station in der Pipeline-Kette sein würde.
Während der letzten Jahre hatte sich der früher einmal kommunistische Staat zum Kolumbien Europas gemausert – einem Rauschgiftstaat.
Als sie mit ihrem Geld keine Politiker oder Konkurrenten mehr kaufen konnten, hatten sich die berüchtigten albanischen Mafia-Clans auf die Ausübung von Gewalt verlegt. Sie hatten sich über ganz Europa, über den Nahen Osten und sogar bis nach Lateinamerika ausgebreitet.
»Also nicht nach Albanien?«
Lavins durch die Brillengläser vergrößerte Augen blinzelten verschmitzt.
»Die Albaner fabrizieren billige chinesische AK -Kopien – sie nennen sie Typ 56. Gestanzte Schildzapfen, keine geschmiedeten. Nein, wenn Sie etwas Solides, Zuverlässiges suchen, dann sollten Sie zu diesem bulgarischen Schmuckstück greifen.«
»Demnach müssen wir nach einer bulgarischen kriminellen Organisation Ausschau halten.«
»Nicht so eilig. Zufälligerweise ist mir bekannt, dass die albanische Mafia eine Vorliebe für bulgarische AK s hat.«
»Und wie kommt es, dass Sie über diese obskure Bagatelle Bescheid wissen?«
»Interpol hat im vergangenen Jahr ein entsprechendes Bulletin veröffentlicht. Der albanische Nishani-Clan kontrolliert den Waffenschmuggel in diesem Teil der Welt.«
Juan klopfte Lavin auf die Schulter. Das war genau die Art von Hinweis, die er brauchte. Er würde sich diese verblüffende Entdeckung von Meliha bestätigen lassen, wenn sie sich das nächste Mal sahen.
»Gute Arbeit, Mike.«
»Dafür bezahlen Sie mich ja auch so gut.«
»Und Sie haben wirklich jeden Penny verdient.«
Cabrillo hörte ein Klicken in seinem Kopf. Noch hatte er keine Zeit gefunden, sein zahngestütztes Kommunikations-Set zu entfernen. Er betätigte den drahtlosen Sprechen -Knopf.
»Cabrillo.«
Lavin nickte als Zeichen, dass er wusste, dass Cabrillo sein Funknetz aktiviert hatte. Er kehrte zu seiner Werkbank zurück, um die Untersuchung des bulgarischen AK fortzusetzen, während Juan zum Lift eilte.
»Ich wollte Sie nur über Meliha auf den aktuellen Stand bringen«, meldete sich Huxley. »Ich habe ihr Antibiotika injiziert und Ciprofloxacin verschrieben. Sie war in jüngster Zeit einigen ziemlich hässlichen Bakterien und anderen Krankheitserregern ausgesetzt.«
»Verletzungen?«
»Blutergüsse, ein paar Kratzer. Die Röntgenuntersuchung ergab aber keinerlei Brüche oder innere Verletzungen. Ich habe ihr auch einige gynäkologische Tests angeboten, aber sie versicherte mir, dass sie nicht sexuell missbraucht wurde.«
»Und Sie glauben ihr? Sie entstammt einer Kultur mit uralten, strengen Traditionen.«
»Ich habe das untrügliche Gefühl, dass sie die Wahrheit sagt.«
»Gott sei Dank ist sie der tödlichen Kugel entgangen. Wo ist sie jetzt?«
»Ich habe sie in meine Kabine gebracht, wo sie geduscht hat, und dann habe ich sie in meinem Gästezimmer ins Bett gepackt. War sofort weggetreten, das arme Ding. Sie muss erst einmal gründlich ausschlafen.«
»Ich finde es ausgesprochen nett, dass Sie sie bei sich aufgenommen haben.«
»War mir ein Vergnügen. Sie ist wirklich freundlich. Und sie hat großen Mut. Wenn Sie morgen Zeit haben, können Sie mir mehr über sie erzählen.« Huxley gähnte hörbar in ihr Telefon. »Tut mir leid. Ist mir rausgerutscht. Ich glaube, ich brauche jetzt selbst ein wenig Schlaf.«
»Eine Dusche und anschließend eine Runde Matratzenhorchdienst könnte mir auch gefallen. Danke für Ihre Fürsorge für unseren Gast. Hatte sie einen Peilsender?«
»Nein, nichts. Sie ist sauber.«
»Hauen Sie sich aufs Ohr, Hux. Sie haben es verdient.«
»Sie auch, Chairman. Ich habe dafür gesorgt, dass mein Assistenzarzt Linc ständig im Auge behält. Sobald er aufwacht, gebe ich Ihnen Bescheid. Ich habe auch schon mit Gomez verabredet, dass er ihn zum Navy Hospital in Naples und von dort nach Baltimore fliegt.«
»Habe verstanden.«
Linc wäre dort in guten Händen. Juan beendete das Gespräch, ehe auch er zu gähnen anfing.
Eine heiße Dusche und ein langer Schlaf waren genau das, was seine Ärztin ihm verschrieben hatte. Und daran sollte man sich tunlichst halten, nicht wahr?
***
Juan saß auf der Teakholzbank in der geräumigen, mit grünem Marmor gefliesten Duschkabine seines Quartiers. Das dampfend heiße Wasser spülte mit jedem Puls aus den acht Düsen der Kabine die Erschöpfung aus seinem ramponierten Körper.
Die zahllosen Narben, die sich auf seiner Haut verteilten, röteten sich von der Wärme. Jede einzelne war eine Art GPS -Markierung für jede im Laufe der Jahre verlorene oder gewonnene Schlacht. Das traf vor allem auf den geschwollenen, mit Blasen bedeckten Stumpf am Ende eines Beins zu, das vor Jahren beim Angriff eines chinesischen Kanonenboots abgerissen worden war. Seine Vielzweckprothese, die er liebevoll-sarkastisch sein »Kampfbein« nannte, lehnte in der Ecke der Duschkabine neben dem Seifenspender an der Wand. Es war zu mühsam, auf einem Bein in die Duschkabine zu hüpfen, daher nahm er sie immer erst dann ab, wenn das Wasser lief.
Dass er sie wirklich abnahm, verstand sich von selbst. Der pulsierende Schmerz am Ende des Stumpfs hatte nichts Phantomhaftes wie der Schmerz, der ihn oft mitten in der Nacht weckte und ihm den Schlaf raubte. Dies waren echte Schmerzen, und er musste sich ein wenig davon erholen. Er hatte schon häufig auf einem Bein stehend geduscht und sich an die Haltestange geklammert wie an eine Barre. Aber in diesem Augenblick war er einfach zu müde, um in dieser Position bis zum Ende der Duschprozedur durchzuhalten. Die Bank bot ihm eine willkommene Erleichterung.
Genussvoll inhalierte er den Wasserdampf und ermöglichte der Wärme, in seinem Innern und auf seiner Haut ihre lindernde Magie zu entfalten. Er spürte, wie jegliche nervöse Anspannung abfloss, wie die verhärteten Muskeln aufweichten und Reste der getrockneten Salzkruste seines Schweißes abgewaschen wurden und mit einem Gurgeln im Abfluss verschwanden. Allmählich entspannte er sich wirklich.
Cabrillo schloss die Augen und empfand die einzelnen Tropfen der Duschstrahlen wie die winzigen Fingerspitzen einer unglaublich begabten Masseuse. Seine Schultern sanken herab, während er sich an die kalten Fliesen lehnte. Hier und jetzt ein Schläfchen zu machen, war nicht die schlechteste Idee. Er spürte, wie er nach und nach abtauchte …
Bis der schrille Alarm ihn mit einem Schlag weckte.
Alle auf Kampfstation!